Donnerstag, 28. Mai 2020

Ulrich Becher: Kurz nach 4 (1957)


Kurz nach 4 ist Bechers Romandebut, nachdem sein erster Erzählband Männer machen Fehler (1932) der nationalsozialistischen Bücherverbrennung zum Opfer fiel und sein gemeinsam mit Peter Preses verfasstes Theaterstück Der Bockerer (1946) in der Nachkriegszeit große Erfolge feierte. Die Epoche des Zweiten Weltkrieges und des nachfolgenden Kalten Krieges bestimmt auch den zeithistorischen Hintergrund von Kurz nach 4. Es ist die Geschichte des «Romfahrers» Franz Zborowsky, der sich nichts anderes als «Ruhe und Frieden» wünscht, sie aber in der Gaststätte am Borgo Caliban in Piacenza nicht finden kann, weil ihm bis tief in die Nacht nicht nur die Straßengeräusche den Schlaf rauben, sondern auch seine unverarbeiteten Kriegserinnerungen, die durch den nächtlichen Lärm evoziert werden. In cineastisch gekonnten Schnitten wird das «Zrrrr-wwummmm! Tocketocketocketocke! Tocketocketocketocke!» der Motorroller mit Detonationslärm und Maschinengewehrsalven (wie in einem Lautgedicht von Ernst Jandl) überblendet.

Der angehende Künstler Zborowsky nahm als Leutenant Borrón am Spanischen Bürgerkrieg teil, wurde gefangen genommen und sollte ins Schutzhäftlingslager gesteckt werden, renegierte aber unter dem Namen Boric zu einer südslawischen Partisanengruppe. Nach dem Krieg kann er verspätet seine Karriere als Akademieprofessor starten und erlangt als Künstler internationales Renommee. Vor allem ein «Geheimmotiv» kehrt in seinem Werk immer wieder: «ein Priester, ein Zeitungsverkäufer und ein wie ein flügelloser Pegasus durch die Luft sausendes, beflecktes Schaukelpferd». Biographisch verweist die Szene auf eine traumatische Erfahrung im Spanischen Bürgerkrieg: Ein Bombenanschlag verursacht bei Zborowsky in eine Gehirnerschütterung, doch nicht dies ist eigentlich traumatisch, sondern die Zeitungsnachricht, die er kurz vor dem Einschlag noch zur Kenntnis nehmen musste, ihre Wahrheit seither aber anzweifelt: Dass seine Verlobte Lolita Aguirre, deretwegen er überhaupt in den Spanischen Bürgerkrieg zog, von Falangisten exekutiert worden ist.

Am Borgo Caliban «kurz nach 4» in der Nacht wird Zborowsky jedoch die unumstößlich schreckliche Wahrheit bewusst, als er von der Strasse ein Schlurfen und ein Lachparoxysmus – ein «calibanisches Gelächter» – hört, die ihn an seinen ehemaligen Jugendfreund Kostja Kuropatkin erinnert, der für ihn fast wie ein Zwillingsbruder war. «Kuror und Pollax» wurden sie in Anlehnung an Kastor und Pollux genannt. Der Krieg treibt das Gespann jedoch auseinander, als Gummifabrikant macht Kostja Geschäfte mit den Nazis, während Zborowsky in den bewaffneten Widerstand abtaucht. Doch untergründig war der Riss schon vorher vorhanden: Wie Zborowsky sich in der Rückerinnerung wieder ins Bewusstsein ruft und ihm durch die Begegnung einer anderen früheren Geliebten in Parma außerdem deutlich wird, war Kostja rasend eifersüchtig auf den gerade bei Frauen viel beliebteren Freund. Kostja ist ebenfalls in Lolita verliebt, wird von ihr jedoch abgewiesen, weshalb er Zborowsky hinterrücks verleumdet, was Lolita wiederum dazu bewegt, mit ihrem Vater nach Spanien zu ziehen, wo sie als Kriegsopfer dahingemordet wurde.

Wie Zborowsky auf seiner Romfahrt dämmert, hat Kostja, auf dessen Einladung er nach Rom folgt, seine Verlobte letztlich auf dem Gewissen. Die Stadt der verfeindeten Zwillingsbrüder Romulus und Remus deutet darauf hin, dass es bei der Begegnung zu einem Brudermord kommt. Tatsächlich fantasiert Zborowsky wie er Kostja mit seiner «Luger» erschießen wird – so wie er es in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit seinem Peiniger Mehlgruber tat, der ihm als Kriegsgefangener die Nase gebrochen hat. Doch am Ende kommt es nicht soweit. Der Roman endet mit dem Dementi des bekannten Sprichworts, dass alle Wege nach Rom führen: «Es führt kein Weg nach Rom». Es ist also die Geschichte einer gescheiterten respektive abgebrochenen Romfahrt (und damit eine Inversion historischer Italienzüge und Bildungsreisen): Als Geschädigter der «leergeschossenen Generation», wie es in Anlehnung an die Lost Generation rund um Hemingway nach dem Ersten Weltkrieg einmal heißt, ist für Zborowsky jegliche Illusion, auch an diejenige von Rache, verloren.

Ulrich Becher ist mit Kurz nach 4 ein genau konzipierter, motivisch dichter und sprachlich furioser Roman gelungen von zuweilen grotesk-komischen Zügen, die bereits den Autor der Murmeljagd (1969) erkennen lassen.

Dienstag, 12. Mai 2020

Franz Kafka: Blumfeld ein älterer Junggeselle... (1915)


Wie in Die Verwandlung so tritt auch in dieser fragmentarisch gebliebenen Erzählung Franz Kafkas ein ungewöhnliches, surreales Ereignis in den Alltag ein, das der Protagonist aber mühelos zu akzeptieren scheint. Und dies, obwohl es einmal in der Erzählung heißt, dass Blumfeld «kein Phantast» sei. Blumfeld, so der Name des pedantischen, sauberkeitsliebenden und vereinsamten Beamten in einer Wäschefabrik, entdeckt eines Abends beim Nachhausekommen zwei «komische Bälle» in seiner Wohnung, die alternierend permanent auf und ab hüpfen und nicht von Blumfeld weichen. Stets halten sie sich im Rücken des Junggesellen auf, wie er sich auch dreht und wendet, er kann ihnen nicht entkommen, als handle es sich etwa um seine «Lebensbegleiter».

Ähnlich wie die Verwandlung Gregor Samsas in einen Käfer so sind auch diese Bälle als psychisch ausgelagerten Seins- resp. Bewusstseinszustand aufzufassen. Die Bälle treten just in dem Moment in Blumfelds Leben, als er sich zu wiederholten Malen seiner Einsamkeit bewusst wird und sich überlegt einen Hund anzuschaffen. Tatsächlich fühlt es sich für Blumfeld an, «als hätte er einen kleinen Hund», als die Bälle beim Schlafengehen auf den Teppich unter seinem Bett rollen. Andererseits erinnern sie ihn auch an «Kinder» und stehen damit in Bezug, zu den beiden unnützen Praktikanten, die Blumfeld bei der Arbeit zur Seite gestellt werden und sich wie «Kinder» verhalten.

In den Bällen als treue Begleiter manifestiert sich sowohl der Wunsch nach Gesellschaft wie sie auch ein Stresssymptom darstellen, ausgelöst durch den unmäßigen Betreuungsaufwand, den Blumfeld seine beiden Praktikanten bereiten. Jedenfalls ist es ihm unangenehm, mit den Bällen gesehen zu werden, er schämt sich für ihre Anhänglichkeit und versucht sie loszuwerden, indem er sie in einen Schrank sperrt und dem zurückgebliebenen Nachbarjungen die Schlüssel übergibt, um die Bälle zu holen, während er zur Arbeit geht. Ob dieses Manöver gelingt, bleibt ebenso so offen, wie was es genau mit den Bällen auf sich hat.

Indem Blumfeld die Existenz der Bälle schlichtweg akzeptiert anstatt sie zu hinterfragen, gelangt er nicht zu einer tieferen Selbsterkenntnis. Die Bälle bleiben Symptom, ohne Diagnose. Nur einmal kurz fühlt sich Blumfeld durch den «leeren Blick» des Nachbarjungen dazu verleitet, sich preiszugeben: «Ein solcher leerer Blick macht einen wehrlos. Er könnte einen dazu verführen, mehr zu sagen, als man will, nur damit man diese Leere mit Verstand fülle.» In gewisser Hinsicht steht diese Leere auch für die Leere in Blumfelds Leben, das allerdings weniger mit Verstand, sondern mit Unverstand in Gestalt sinnloser Bälle gefüllt wird, die ihm zuerst «Spass» bereiten, ihn aber zusehends auch ärgern und lästig werden.