Samstag, 25. Oktober 2025
Didier Daeninckx: Reise eines Menschenfressers nach Paris (1998)
Dienstag, 14. Oktober 2025
Joseph Delteil: An den Ufern des Amur (1922)
Sonntag, 12. Oktober 2025
Alfred Jarry: König Ubu (1896)
Alfred Jarrys Skandalstück, das als Pennälerscherz begann, dann die Pariser Schickeria empörte, schliesslich Kultstatus erreichte und heute als protosurrealistisches Meisterwerk und Wegbereiter des absurden Theaters gilt, ist wie kein anderes Stück vor und nach ihm über sich selbst hinausgewachsen. In Frankreich ging das Adjektiv "ubuesque" in den allgemeinen Wortschatz ein wie im deutschsprachigen Raum der Ausdruck "kafkaesk" - und meint ungefähr das gleiche: eine abstruse oder groteske Situation. Während das Kafkaeske mehr die Unheimlichkeit betont, liegt der Akzent des Ubuesken auf der Grausamkeit. Denn dieser Père Ubu, der skrupellos und ziemlich blutig den Thron des polnischen Königs an sich reisst, ist tatsächlich nichts anderes als ein fressender, saufender und fluchender Wüstling, der gleich aus allem und jedem "Hackfleisch" (50) machen will, wenn ihm etwas nicht passt. Und zugleich eine grotesk-komische Figur. Ein König mit einer Klobürste als Zepter.
"Merdre!" - zu Deutsch etwa: Schreiße, Scheitze oder Schoiße - mit diesem nur leicht verfremdeten und damit bühnentauglich zurechtfrisierten Kraftausdruck beginnt das Stück und wird in dessen Verlauf noch unzählige Male vorgebracht. Trotz der Verfremdung zur Kenntlichkeit tobte das Publikum bei der Uraufführung am 10. Dezember 1896, unmittelbar nachdem Firmin Gémier in der Rolle des Ubu das unerhörte Mot de Cambronne ausgesprochen hatte. Es entstand ein wilder Tumult mitsamt Schlägerei, einige Zuschauer verliessen sogar den Saal des Théatre de Paris. Nur mit Mühe konnte die Aufführung fortgesetzt werden. Jedes Mal, wenn Ubu oder sein linkisches Weibstück sich verbal vergriffen, ging die Unruhe im Publikum von Neuem los. - Dem Lesefrüchtchen sei die nun folgende rhapsodische Nacherzählung verziehen, aber anders ist der absurden Handlung nicht beizukommen, die keiner logischen Entwicklung folgt, sondern von der unberechenbaren Impulsivität der Hauptfigur vorangetrieben wird.
1. Akt, 1. Szene beginnt mit dem mittlerweile ikonischen
Ausruf Vater Ubus: "Schreiße!" Er bildet den Auftakt zu einem Dialog
mit Mutter Ubu, die ihren Gemahl zu einem Putsch drängt, Er soll König Wenzel
gewaltsam vom polnischen Thron zu stossen, um selbst wieder Regent und reich zu
sein, wie früher als er König von Aragon war. Vorerst gibt sich Ubu mit seiner
Stellung als Dragonerhauptmann zufrieden, doch sein Eheweib bohrt weiter. Die
Aussicht, sich als König mit Kapuze, Schirm und Regenmantel auszustatten,
scheint ihn jedoch umzustimmen. 2. Szene: Mutter Ubu bereitet ein grosses
Fressgelage vor, doch Vater Ubu tut sich bereits am Hähnchen und am Kalbsraten
gütlich, bevor die Gäste überhaupt auftauchen. 3. Szene: Nun erscheinen die
Gäste, Hauptmann Bordure und seine Kumpane. Die Schlemmerei beginnt, während
der Ubu eine "unaussprechliche Bürste" (35) auf die Festtafel wirft.
Als einige der Kumpane davon probieren, fallen sie vergiftet um. Das gibt Ubu
die Gelegnheit, den Hauptmann beiseite zu ziehen. In der 4. Szene offenbart Ubu
sein Vorhaben, den König zu töten, als kurz darauf in der 5. Szene ein Bote
auftaucht und Ubu zum König befiehlt. 6. Szene im Palast des Königs. Ubu glaubt
zunächst, Wenzel wittere schon Verdacht und will die Schuld auf seine Frau
schieben. Doch der König will Ubu für seine Dienste belohnen und kündigt eine
grosse Parade für den morgigen Tag an. Aus Dankbarkeit schenkt ihm Ubu eine
Trillerpeife, womit dieser nichts anfangen kann. Beim Weggang fällt Ubu um und
bricht sich den "Darm" und fürchtet schon zu "krepieren"
(38). Nachdem der König ihm versichert, künftig für seine Frau zu sorgen,
bedankt sich Ubu zwar, sagt jedoch leise vor sich hin: "aber deswegen
wirst du doch massakriert" (38). Wieder zuhause plant Ubu in der 7. Szene
die Verschwörung. Man diskutiert verschiedene Szenarien: Vergiftung,
Schwerthieb, einigt sich dann aber auf einen Hinterhalt während der Parade: Ubu
soll dem König auf den Fuss treten und als Zeichen zum Angriff
"Schreiße" rufen.
2. Akt, 1. Szene: König Wezel verbietet seinem Sohn Bougrelas an der Parade teilzunehmen, weil er sich unverschämt gegenüber Ubu verhalten habe. Die Königin ist jedoch verunsichert, weil sie ihren Mann zu wenig geschützt glaubt, da sie in der vergangen Nacht von einem Attentat träumte. Wezel hält das für Unsinn und geht mit seinen beiden anderen Söhnen ab. Die 2. Szene spielt auf dem Paradeplatz, wo das Attentat wie vorbesprochen durchgeführt wird. Die Söhne des Königs fliehen. In der 3. Szene beobachten die Königin und Bougrelas den Vorgang und sehen, wie einer der Söhne von einer Kugel getroffen wird. Der wütende Mob nähert sich ihnen. Bougrelas schwört Rache. Doch in der 4. Szene verschafft sich Ubu mit seinem Gefolge gewaltsam zugang zum Palast. Bougrelas wehrt sich tapfer und flieht schliesslich mit seiner Mutter, der Königin in die Berge, wo sie sich in der 5. Szene befinden. Sie beklagen ihr Leid und verwünschen den hinterhältigen Ubu. Die Königin erleidet einen Schwächeanfall und stirbt. Da treten die Seelen der ermordeten Königsfamilie auf und übergeben Bougrelas ein grosses Schwert, um Rache zu üben. Ubu hat in der 6. Szene mittlerweile den Thron erklommen und denkt an nichts anderes, als Steuern einzuziehen, um reich zu werden. Der Hauptmann Bordure gibt zu bedenken, dass man sich zuerst mit dem Volk gutstellen muss, bevor man Steuern einzieht, was Ubu dazu motiviert, drei Millionen zu verteilen. Das Volk zeigt sich in der 7. Szene begeistert über den unverhofften Geldsegen und jubelt Vater und Mutter Ubu zu. Zu seiner Belustigung veranstaltet Ubu weitere Geldspiele und wird als "edelster aller Herrscher" (48) akklamiert.
Die 3. Szene setzt wieder mit einem Gespräch zwischen Vater und Mutter Ubu ein. Sie rät ihm zur Vorsicht, weil sie die Rache von Bougrelas befürchtet, doch Ubu schlägt ihre Bedenken in den Wind und sinnt vielmehr darauf, sich auch seines Hauptmanns Bordure zu entledigen. In der 2. Szene offenbart sich nun Ubus unbarmherzige Seite: Er will den gesamten Adel vernichten, um sich an seinen Gütern zu bereichern. Jeder einzelne muss vortreten, sein Vermögen benennen, um dann mit einem Fleischerhaken in ein Kerkerloch befördert zu werden. Auch den Richtern, die gegen diese Willkür protestieren, ergeht es nicht anders. Und selbst die Finanzier, die Ubus Tat als "idiotisch" und "absurd" (53) kritisieren, müssen daran glauben. Mutter Ubu ist entsetzt: "Du massakrierst alle deine Untertanen." Worauf Ubu schlicht quittiert: "Ja Schreiße." (53) 3. Szenewechsel: Unter der Bevölkerung hat sich der Regierungssturz und die Tyrannei von Ubu längst herumgesprochen. Die Bauern unterhalten sich besorgt, als es an die Türe klopft. Es ist König Ubu, der höchst eigenhändig die Steuern einziehen will. Und zwar unerbärmlich, wie sich in der 4. Szene zeigt: Er schröpft die Bauern, obwohl sie nichts mehr haben. Sie setzen sich zur Wehr, doch unterliegen sie im Kampf Ubus neuen Finanzenherren, die das Bauernhaus gleich niederbrennen. Auch Bordure ergeht es nicht anders, der in der 5. Szene in Ketten liegt. Er kann jedoch fliehen und gelangt in Szene 6 zum Zar Alexis von Moskau, den er dazu bewegen kann, gegen Ubu vorzugehen und Wenzels Sohn Bougrelas auf den Thron zu verhelfen. Unterdessen beschäftigt sich Ubu in der 7. Szene weiterhin obessiv mit den "Pfuinanzen" (58). Er sinnt, wie er noch mehr Geld eintreiben kann. Da erreicht ihn der Brief des Zaren und kündigt seinen Angriff an. In der 8. Szene ist Warschau bereits belagert und Ubu rüstet sich zum Kampf, doch sein Pferd, dem er aus Habgier kaum zu fressen gab, verweigert den Dienst. Als ersatzweise ein "riesiges Pferd" (59) gebracht wird, läuft es davon und Ubu plumpst auf den Boden. Schliesslich schafft er es dennoch mit seinem Heer loszuziehen, derweil Mutter Ubu ihren "Einfaltspinsel" und "Hampelmann" (60) laufen lässt und den Schatz der polnischen Könige aufsuchen will
4. Akt, 1. Szene: Mutter Ubu sucht in der Warschauer Krypta nach dem polnischen Schatz. Sie findet das Gold, doch eine Stimme aus dem Grabmal von Hans Sigismund vertreibt sie rasch. Unterdessen haben sich in der 2. Szene Bougrelas mit seinen Partisanen auf dem Warschauer Platz versammelt und stimmen ein Loblied auf König Wenzel und Polen an. Sie stürmen den Pallast, Mutter Ubu muss erneut flüchten. In der Zwischenzeit irrt Ubu in der 3. Szene mit der polnischen Armee den Russen entgegen. Der Angriff folgt in Szene 4. Es kommt zu mehreren Kampfszenen, in denen Ubu verwundet wird, seine Gegner aber sofort "zerreisst" (darunter auch Bordure). Im Getümmel fällt der russische Zar in einen Graben, worauf Ubu eine lange Spottrede hält. Währenddem wird der Zar aus dem Graben befreit und sogleich wendet sich das Blatt wieder: die Russen schlagen die Polen in die Flucht. Ubu verschwanzt sich in einer Höhle in Litauen (5. Szene), wo er von einem Bär heimgesucht wird (6. Szene) und aus Feigheit um einen Felsen flieht, während einer von Ubus Schergen den Bär bekämpfen muss, der schliesslich in einer Explosion umkommt. Ubu kriecht wieder aus seiner Deckung hervor und hält grosssprecherische Reden. Auf seinen Befehl wird der Bär zerlegt und soll gebraten werden. Als Ubu unversehens in Schlaf fällt, machen sich seine Gesellen aus dem Staub und lassen ihn allein. In der 7. Szene redet Ubu im Schlaf: Er sieht sich von all seinen Feinden bedrängt, die sich im Bären sich zu einem grossen Angstgegner manifestieren. Schliesslich deliriert er in seinem speziellen Idiom neue Gewaltphantasien: "Zerpresst die Hirne, mordert, schneidet die Ohnen ab, reisst die Finanzen aus und sauft euch zu tode, das ist das Leben der Schlumpenkerle, das ist das Glück des Finanzministers." (75)
5. und letzter Akt. In der 1. Szene gelangt auch Mutter Ubu, nach einer langen Flucht, die sie in einem Monolog rekapituliert, in die Höhle, wo sie ihren Mann schlafend vorfindet und feststellt, dass er ziemlich wirres Zeug daherredet. Aus dieser Situation will die Heimtückische ihren Vorteil ziehen und spielt Ubu die übernatürliche Erscheinung des Erzengels Gabriel vor. Es folgt ein komischer Dialog, in dem der Erzengel die Vorzüge von Mutter Ubu preist, Ubu selbst sie aber vielmehr als "Ekel", "Giftkröte" und "Aasgeier" beschimpft (78). In der Rolle des Engels hält Mutter Ubu ihrem Mann all seine Sünden und Verfehlung vor, doch Ubu durchschaut sie schliesslich. Es kommt zu einem Gezänk, Ubu wirft den toten Bären nach ihr. Er steigert sich in eine ungeheure Gewaltphantasie hinein und will darauf seine Frau zerreissen. In diesem Moment (2. Szene) stürzt Bougrelas in die Höhle. Eine Schlägerei beginnt, begleitet von wüsten Beschimpfungen. Doch Ubu bekommt Verstärkung von seinen Kumpanen und kann sich befreien. Die 3. Szene zeigt ihn und Mutter Ubu in der schneebedeckten Provinz Livland. Es wird klar, das Bougrelas an die Macht gekommen ist, weshalb Ubu und seine Frau in der 4. Szene auf dem Baltischen Meer Richtung Frankreich davonsegeln, in der Hoffnung dort wieder an ihren früheren Ruhm anknüpfen zu können. Sie geraten in nationale Schwelgereien und das Stück endet mit dem nur scheinbar tautologischen Satz: «Wenn es Polen nicht gäbe, gäbe es keine Polen!» (85) In ihm offenbart sich die ultranationalistische Denkweise Ubus: Nicht das Volk macht das Land, sondern das Land das Volk.
Jarry liefert mit seinem Stück eine noch heute gültige, schonungslose Analyse von Statusgier und Machtmissbrauch. König Ubu ist quasi die Quintessenz aller Despoten. Sein sophistisch-paradoxaler Wahlspruch lautet: "Ist das schlechte Recht nicht ebenso gut wie das gute?" (50) Heute kommt man kaum umhin, in ihm eine Präfiguration und Karikatur Donald Trumps zu erblicken. Wie Ubu ist Trump eine masslose, grobianische Witzfigur und zugleich ein übler Volkstribun und Demagoge. Auch der grosssprecherische, selbstverliebte Zug scheint bei Jarrys Figur bereits vorgezeichnet. Schon früh erkannte dies Georg Seeßlen, der bereits 2017 in seiner, kurz nach Trumps erster Präsidentschaftswahl erschienenen Studie bilanziert: "Er ist nicht gerecht, sondern selbstgerecht. Er ist König Ubu." Oder eben: Trump ist zutiefst "ubuesque". Doch Despoten gibt es nicht nur in der Regierung, sondern überall wo wichtige Posten zu bekleiden sind. Als reales Vorbild für Ubu diente Alfred Jarrys ehemaliger Physiklehrer, ein gewisser Herr Hébert, von dem heute nichts weiter mehr bekannt ist, als dass er ein gehässiger und boshafter Lehrbeamter war, der von seinen Eleven über Generationen hinweg aufgrund seiner lächerlichen Standpauken verspottet wurde. Dass er schliesslich als kegelförmige und holzschnittartige Gestalt auf der Pariser Bühne enden sollte, erlebte er vermutlich nicht mehr. Aus dem Hébert (sprich "Ebée") wurde Ubu.
Alfred Jarry: König Ubu. Stücke und Materialien, übers. von Manfred Nöbel. Leipzig: Reclam 1978.
Donnerstag, 25. September 2025
Stanislaw Lem: Herr F. (1976)
Freitag, 19. September 2025
Stanislaw Lem: Die Untersuchung (1959)
Ein - eher untypisches - Frühwerk des später als Sciene-Fiction-Autor bekannten Schriftstellers. Gemäss Untertitel ein "Kriminalroman", wobei es sich eher um eine Parodie auf den Kriminalroman bzw. einen Meta-Kriminalroman handelt in der Art eines Gedankenexperiments à la Friedrich Dürrenmatt, zuweilen mit längeren pseudowissenschaftlichen Exkursen über das Verhältnis von Intuition und Statistik. Letztlich wirft der Roman die Frage nach der Sichtweise auf bestimmte Ereignisse und deren Interpretation auf. Es ist damit bereits klar, dass es am Ende keine Auflösung des Falls wie im klassischen Krimi gibt (es ist sogar unklar, ob es jemals überhaupt einen 'Fall' gab), sondern offen bleibt, ob die ganze "Untersuchung" bloss in die Irre ging. Was als mysteriöse Serie eines scheinbar intellektuell überragenden Verbrechers beginnt, der mit der Polizei Katz und Maus spielt, kippt rasch auf die Metaebene, in der die Frage nach den epistemischen Bedingungen im Vordergrund stehen.
Leutnant Gregory von Scotland Yard wird ein scheinbar aussichtsloser Fall zugewiesen, den er - von "Kühnheit" und "Trotz" gepackt - aber unbedingt lösen will. Leichen verschwinden der Reihe nach aus Leichenhäusern oder werden über Nacht "bewegt", offenbar nach einem geheimen Muster, das Professor Seiss mit statistischen Methoden ermitteln will, dabei allerdings abstruse Hypothesen entwickelt und sogar die Temperatorunterschiede an den Tatorten als Faktor miteinbezieht. Schliesslich gelangt er zum Schluss, dass der Fall "nichts mit Kriminologie zu tun" habe, sondern letztlich lediglich "etwas ganz Normales", ein "im alltäglichen Verständnis" lediglich noch unbekanntes "Phänomen" vorliege (135). Da der Professor, wie Gregory im Lauf seiner Untersuchung feststellen muss, offensichtlich aber nekrophile Neigungen hegt, gerät er selbst in den Kreis der Verdächtigen. Doch je mehr sich der Verdacht bestätigt, desto stärker zweifelt Gregory an der Richtigkeit. Die Paradoxie kulminiert in Seiss' offenem Geständnis, das Gregory "endgültig" dazu bringt, seinen Verdacht "aufzugeben" (224). So kann der seltsame Fall letztlich nicht gelöst, sondern bloss ad acta gelegt werden.
Der Roman gipfelt in der Erkenntnis, "dass ein Täter gar nicht existiert" (55), er aber dennoch für Gregorys Selbstverständnis notwendig ist: "Die Existenz eines Täters, ob gefasst oder nicht, ist für Sie keine Frage von Erfolg oder Niederlange, sondern von Sinn oder Sinnlosigkeit des Handelns." (180) Und weiter wird der junge, ehrgeizige Leutnant belehrt: "Niemals werden Sie auf einen Täter verzichten, weil seine Existenz die Ihrige impliziert." (181) Der Täter nichts anderes als die Projektion des Polizisten, gewissermassen eine déformation professionelle? Tatsächlich neigt Gregory zu einer paranoiden Wahrnehmung. Er lässt sich rasch und gerne täuschen, was durch das ostentativ eingesetzt Spiegel- und Puppenmotiv unterstrichen wird. Hinter allem glaubt Gregory "eine deutliche, wenn auch verborgene Bedeutung" zu erblicken", sogar die Klopfgeräusche in seinem Zimmer evozieren bei ihm die wildesten Spekulationen: "Schliesslich war es schwierig, alles auf den Zufall zu schieben." (190) Denn bereits in seiner Jugend stellte für Gregory der Zufall ein Ärgernis dar, dessen "Geheimnis" (19) er ergründen wollte. Am Ende seiner Ermittlung muss er jedoch konstatieren, dass alle Erklärungsversuche "in Wirklichkeit partikulär und zufällig sind" (229) und "nur der blinde Zufall" (231) waltet.
Ein ernüchternde Bilanz, allerdings mit viel auktorialer Ironie unterfüttert. Es bleibt in der Schwebe, ob Leutnant Gregory sich alles nur falsch zusammenreimt oder ob ihn sein Vorgesetzter, der ominöse, scheinbar allwissende Inspektor Sheppard, der mit Professor Seiss überdies gut befreundet ist, ihn lediglich an der Nase herumführt, um ihn auf die Probe zu stellen. Die bittere Pointe des gesamten Romans, die aus dem Arbeitsleben bestens bekannt ist, besteht darin, dass sich Gregory mit der offiziellen Sichtweise des Vorgesetzen, zufrieden geben und sich "an die Richtlinien für die Zukunft" (241) halten muss. Der Inspektor mahnt ihn sogar, als er mit Hinweis auf eine Studie über den angeblichen Wahnsinn von Jesus die Debatte erneut aufrollen will, von "biblischen Analogien" abzusehen und sich an das Wahrscheinliche zu halten: "ich bin überzeugt, dass sie nicht der einsame Rufer in der Wüste spielen wollen" (241). - Ironischerweise drückt sich der Inspektor mit der Redewendung vom "Rufer in der Wüste" just in einer biblischen Analogie aus.
Stanislaw Lem: Die Untersuchung. Kriminalroman. Aus dem Polnischen von Jens Reuter und Hans Jürgen Mayer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978.
Sonntag, 7. September 2025
Jörg Fauser: Der Schneemann (1981)
Mittwoch, 3. September 2025
Steven Hall: Gedankenhaie (2007)
Vor fünfzig Jahren kam Jaws von Steven Spielberg in die Kinos und ging als erster Kassenschlager Hollywoods - als Monster-Blockbuster im wahrsten Wortsinn - in die Filmgeschichte ein. Spielbergs Geniestreich brach alle Rekorde: Er gilt bis heute als kommerziell erfolgreichster Kinofilm und setzte neue Massstäbe für Hollywood-Produktionen. Der damals noch nicht einmal 30jährige Regisseur - Spielberg war beim Dreh 29 Jahre alt - zeigte allen, wie man Filme und Geld macht ("making movies and money"). Das führte natürlich Trittbrettfahrer und Nachahmer auf den Plan. Das Genre des 'Haifischfilms' explodierte förmlich und zog eine unüberschaubare Fülle von Adaptionen und Fortführungen nach sich - mitunter auch plumper oder hirnrissiger Art, wie Sand Sharks, die sich durch den Strand fressen, oder in Sharknado, wo Haie, aufgewirbelt durch einen Tornado, über die Luft angreifen. Steven Hall setzt dem allem mit seinen Raw Shark Texts (wie das Buch im Original heisst) die Krone auf: Diese Gedankenhaie schwimmen durch die Informationsflüsse und fressen Gedächtnisinhalte auf ...
Das Buch erschien zwei Jahre nach Jonathan Safran Foers Unglaublich laut (2005) und operiert wie dieser Roman mit typographischen Spielereien in der Tradition der visuellen Poesie. Wie bei Foers handelt es sich um eine Spurensuche, wobei die Indizien in Form von Codes, Karten, Plänen, Diagrammen und Kryptogrammen oder graphisch speziell gestalteten Seiten mimetisch abgebildet sind, um dem Leser selbst in den Erfahrungsmodus eines Fährtenjägers zu versetzen. (An einer Stelle wähnt sich der Protagonist gar als "Indiana Jones", 232) Wo Foers einen autistischen Jungen auf die Suche nach seinem Vater setzt, begibt sich Eric Sanderson, der Protagonist von Steven Hall, auf die Suche nach seinem früheren Ich, denn er leidet angeblich an einem Gedächtnisverlust, der die gesamte Erinnerung an seine Person einfach gelöscht hat. Seine Psychotherapeutin meint, es handle sich um eine Extremform des Fugue-Syndroms, um eine Persönlichkeitsflucht, ausgelöst durch ein traumatisches Ereignis - in Sandersons Fall ein tödliches Unglück seiner Freundin Clio.
Sanderson selbst jedoch hat eine andere Theorie. Zumindest der Sanderson vor dem Gedächtnisverlust, der sein dementes Ich mittels hinterlegten Nachrichten über die Ursache seiner Amnesie informiert. Der Romananfang erinnert an Christopher Nolans Film Memento, wo Guy Pearce ebenfalls jeden Tag aufwacht und sich nur dank tätowierten Informationen seine zweifelhafte Identität aufrecht erhalten kann. Hall schildert Sandersons erwachen als eine "Wiedergeburt" (106) in ein "zweites Leben" (7): die Eingangspassage liest sich, als würde der Protagonist nochmals aus dem Uterus kriechen: "und ich, blind, zitternd, presste meinen verschleimten Mund fest in die hohle Hand und versuchte, zwischen den Fingern hindurch möglichst systematisch zu atmen" (7). Angesichts dessen, dass Freud das intrautesine Dasein als ozeanisches Gefühl umschrieben hat, erinnert die Szene auch an Jemanden, der aus den Tiefen des Ozeans wieder ans Tageslicht auftaucht - und das ist gerade der springende Punkt.
Wie Sanderson der Zweite nämlich sukzessive von den brieflichen Mitteilungen seines Vorgängers erfährt, war dieser beim Versuch gescheitert, seine tote Freundin wieder zum Leben zu erwecken, indem er mit Hilfe von Dr. Trey Fidorous - dem "Klischee des wahnsinnigen Professors" (235) - die Vergangenheit qua Erinnerung manipulieren wollte, dabei aber unversehens einen Grauen Schwammkopf-Geisterhai aktivierte, der nun Jagd auf ihn machte, sein Hirn häppchenweise auffrass und ihn schliesslich mit sich in die Tiefe der Amnesie riss. Diese Bestie zählt als "Konzepthai" zu den "Gedanken-, Wort- und Phantasiefischen" (263), gilt als "persistenter, mnemonischer Räuber" (264) und ist ausgestattet mit "perfekt ausgebildeter Gedanken-Flosse" (161 bzw. 68) sowie einem Rachen "bestückt mit Okhams Klingen" (290): "Das Auge im Schwammkopf ist eine nachtschwarze Null, ein Tintenklecks, ein dunkles Loch in der Welt." (290). Im Text erscheint er in visualisierter Form, zusammengesetzt aus Buchstaben und Textfragmenten, die sich an einer Stelle wie in einem Daumenkino in Bewegung setzen, so dass der Hai plötzlich auf die Lesenden zuschwimmt.
Sanderson begibt sich auf die gelegten Fährten seines früheren Ichs, um Dr. Fidorous aufzusuchen und durch ihn mehr über seine gelöschte Vergangenheit zu erfahren und die Möglichkeit, sich vom Gedankenhai wieder zu befreien. Auf seinem Suche begleiten ihn sein Kater "Ian" und "Scout", eine couragierte junge Frau, die ihm den Weg in den "Unraum" zu Fidorous weist. Dieser lebt abgeschottet in einem unterirdischen Bücherlabyrinth, um sich von den Angriffen des Gedankenhais zu schützen: Denn die Vielzahl an Informationen kann dieser nicht durchdringen (221). Es stellt sich heraus, dass Scout ein analoges Problem wie Eric hat: Sie wurde von der grossen Datenkrake Mycroft Ward gehackt, die sich fortlaufend ausdehnt und ihre virtuelle Existenz auf verschiedene Wirtskörper wie auf Server verteilt. Der Plan besteht nun darin, den Gedankenhai auf Mycroft ward loszulassen, um beide zu neutralisieren: "Gegen ein kollektives Riesenbewusstsein wie Mycroft Ward hilft nur ein Gedankenfresser wie der Geisterhai, das ist gewissermassen wie Materie und Antimaterie, sie heben sich gegenseitig auf. Bumm." (246)
Das Finale spielt sich als Showdown wie im Film Der weisse Hai (Jaws) ab. Die Dreiermannschaft von Fidorous, Eric und Scout sticht mit ihrem Schiff, der Orpheus (nicht die Orca wie im Film), auf hohe See und macht Jagd auf den Hai, indem sie ihn zu ködern versuchen und ihm Fässer mittels Harpunen in den Leib rammen, damit er nicht entkommen kann. Wie im Film erweist sich der Hai jedoch viel gerissener und mächtiger als vermutet, taucht unter, führt die Besatzung in die Irre und attackiert letztlich das Boot. Das Psychodrama, das sich hinter dieser Haifischjagd abspielt, betrifft jedoch Erics traumatisches Erlebnis mit seiner Freundin Clio, als deren Reinkarnation sich, wenig überraschend, die kecke Scout entpuppt, zu der sich längst eine neue Liebschaft angebahnt hat. Inmitten des Grande Finale der Haiattacke sagt zu ihm die erlösenden Worte und sprich ihn von der Verantwortung ihres Todes frei: "Es war nicht deine Schuld." (426) Das Buch endet ambivalent: Einerseits mit einem Happy End der Wiedervereinigung, andererseits mit dem Tod (Suizid?) von Eric. Kurz davor schreibt er an seine Psychotherapeutin eine Postkarte mit der Mitteilung: "Mir geht es gut, ich bin glücklich, aber ich komme nicht mehr zurück," (428)
Die Frage, ob der Ich-Erzähler unter einer Psychose leidet, sich also alles nur einbildet, oder es tatsächlich erlebt, anders formuliert: ob es sich um einen psychologischen oder einen Fantasyroman handelt, ist müssig, zumal der Gedankenhai in beiden Fällen als Monstertrope für das Trauma fungiert. Er verkörpert das Verdrängte, die unbewusste Ängste, die Schuldgefühle, das sich nicht dauerhaft unterdrücken lässt, sondern in Form eines schrecklichen Ungeheuers an die Oberfläche dringt. Der Textkörper des typographisch visualisierten Hais besteht deshalb aus dem dritten Teil des Glühbirnen-Fragments, der man erst am Ende in integraler Form lesen kann. Es enthält die Ursache für die Psychose. Man erfährt, dass Clio bei einem Tauchgang ums Leben kam, bei dem sie unter Wasser Fische fotografierte - mit einer Kamera, die ihr Eric einen Tag zuvor geschenkt hatte. Daher sein Gefühl, schuld an ihrem Tod zu sein; daher auch der Grund, weshalb sich diese unaufgearbeitete Schuld ausgerechnet in Form eines Hai-Fisches manifestiert.
Das Buch beginnt vielversprechend, verliert sich dann aber rasch in einer konventionellen Abenteuergeschichte, deren Cyperpunk-Charme nicht über die Willkürlichkeit des nur anfänglich besonders ausgeklügelt erscheinenden Handlungsverlaufs hinwegtäuschen kann. Steven Hall arbeitet auch als Game Designer - und das merkt man dem Roman an, der streckenweise wie ein Videogame aufgebaut ist, verschiedene Szenerien kreiert und die Protagonisten von einer Aufgabe zur nächsten führt. Eine blühende Phantasie ist dem Autor jedenfalls nicht abzusprechen, doch reicht das nicht für einen gelungenen Roman, wenn die Spracheebene trotz dem Einsatz typographischer Extravaganzen kaum mithalten kann. Er verbleibt dann auf dem Niveau eines Game-Plots, das zwar spannend, aber auf die Dauer auch belanglos wirkt. Abgesehen von den wilden theoretischen Spekulationen bleibt die Sprache bis auf wenige Ausnahmen unauffällig, um nicht zu sagen farblos, und schmiegt sich ganz und gar dem Plot an. Originelle Vergleiche wie dieser sind leider Einzelfälle: "Die Luft im Tunnel roch nach einem antiquarischen Dickens-Roman." (226)
Steven Hall: Gedankenhaie. Thriller. Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay, Susanne Hornfeck und Sonja Hauser. München: Piper Verlag, 2007.