Freitag, 29. Dezember 2023

Abram Terz: Klein Zores (1980)

Unter dem Pseudonym Abram Terz veröffentlichte Andrej Sinjawskij in der Sowjetunion zahlreiche phantastische Geschichten, darunter auch den utopischen Roman Ljubimow (1964), der sich kritisch mit dem kommunistischen Regime auseinandersetzt, was dem Autor 1966 nach einem aufsehenerregenden Schauprozess eine siebenjährige Haftstrafe einbrachte. 1973 entliess man Sinjawskij ins Exil nach Paris, wo er sich als Dozent für russische Literatur an der Sorbonne eine neue Existenz aufbauen konnte. Es erschienen diverse Sachbücher zur russischen Kultur und Literatur sowie diese kleine Erzählung, die an die phantastischen Anfänge seiner Schriftstellerei anknüpft.

Märchen, Parabel, Allegorie, autofiktionale Spielerei und eine Hommage an E.T.A. Hoffmann, den Meister des Phantastischen - die Erzählung ist alles in einem und noch viel mehr, voll von intertextuellen Anspielungen und hermetischer Symbolik. Der Held heisst, wie der Autor mit bürgerlichem Namen, Sinjawskij, wird aber von allen nur "Klein Zores" genannt, weil er ein "Zwerg" ist, nicht mehr Kind, aber auch nicht ganz erwachsen, und vielen wie "Lermontows Dämon" vorkommt. Wie der russische Romantiker in seinem Verspoem den Faust-Stoff aufgreift, so geschieht dies auf inverse Weise auch in Klein Zores. Der Protagonist ist quasi eine anti-mephistophelische Kraft.

Von Mephisto heisst es in Goethes Faust, er sei "Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft". Bei Klein Zores verhält sich genau umgekehrt: Er möchte niemandem etwas Böses und doch unterläuft es ihm ständig: "Es ist mir peinlich, dies auszusprechen, aber ich wünsche den Menschen nur Gutes. Ich liebe sie. Überschlage mich dabei. Aber ich erreiche nur das Gegenteil!" Was er auch anpackt, es führt zu einem Unglück: "Das Böse ist nur ein Nebenprodukt des erhofften Guten ..." Grund dafür ist, dass Klein Zores in Kinderjahren seine "Liebe" opferte, damit ihn eine Fee von seinem Stottern befreite: "So verkaufte ich mich, ohne zu ahnen, was ich tat, dem Teufel."

Wie das Kunstmärchen über den ebenfalls zwergwüchsigen Klein Zaches bei E.T.A. Hoffmann, das Sinjawskij als Vorlage diente, erfolgt auch hier die Sozialisation des Protagonisten durch Feenzauber, der ihm das Sprechen erst ermöglicht. Im Unterschied zu Klein Zaches, der fortan eine glanzvolle Karriere durchläuft, ist Klein Zores jedoch vom Pech verfolgt. Ohne es zu wollen, bringt er der Reihe nach seine fünf Brüder und schliesslich auch seine Mutter ins Grab. Eigentlich unschuldig, trägt er doch die Schuld an ihrem Tod, dabei möchte er, der als "Bastard" geboren wurde, bloss herausfinden, wer sein Vater ist, muss am Ende - in einem überraschenden Perspektivenwechsel der Erzählung - jedoch erfahren, dass er, Zaches, längst gestorben und der Vater wahrscheinlich an seinem Tod verantwortlich ist.

Dieser Dreh, dass eine vermeintlich lebende Person sich plötzlich als Geist erweist, ist zwar nicht neu, hier aber effektvoll eingesetzt: Auf einmal ist klar, weshalb Zaches ein "Zwerg" geblieben ist, weil er schon als Kind verstarb: "Klein Zores ist überhaupt kein Erwachsener geworden." Aus einer jenseitigen Welt wohnt Zaches seinem Leichenschmaus bei, bei dem die Geschwister sich darüber in die Haare geraten, wie und weshalb er gestorben sei. Es werden genau diejenigen Todesarten erörtert, denen die Geschwister angeblich durch Zaches Schuld zum Opfer fielen. Doch erweist sich dies als Illusion, wie am Schluss sich ohnehin die ganze Szenerie als Spuk verflüchtigt. Zurück bleibt ein alter Mann (der Autor selbst?), der seine fünf Finger, stellvertretend für die fünf Brüder, auf einen Stapel vollgeschriebener Blätter legt.

Neben dem alten Mann steht ein zudem Schrank, der sich "auf seinen Hinterbeinen in die Höhe" reckt. Dasselbe Schränkchen traf Klein Zaches in der Geschichte bereits bei der Fee an und er vermeinte, dass es "Ernst Theodor Amadeus Hoffmann persönlich" sei, "der uns auf vier gedrehten Beinchen besucht". Hier rettet sich zum Schluss ein Requisit aus der Fiktion in die Schreib-Szene, die sie hervorgebracht hat - und bestätigt rückwirkend die Vermutung des Protagonisten. Das Kästchen, das in der Erzählung reg- und leblos blieb, bewegt sich plötzlich. Ob tatsächlich der Geist E.T.A. Hoffmanns es belebte, bleibt der Phantasie der Leserschaft überlassen. 

Mittwoch, 27. Dezember 2023

Henry James: The Turn of the Screw (1898)

Henry James 'Geistererzählung' von 1898, The Turn of the Screw, wurde unter verschiedenen Titeln ins Deutsche übersetzt: wörtlich als Die Drehung der Schraube, etwas freier als Der letzte Dreh der Schraube bzw. Schraubendrehungen und komplett anders als Die Tortur, Die Teuflischen oder  Das Geheimnis von Bry - benannt nach dem fingierten Londoner Landsitz, wo sich die unheimlichen Begebenheiten abspielen. Der letzte Titel verpasst dabei die zentrale Metapher, welche den Gang der Ereignisse charakterisiert: Wie eine Schraube windet sich die Erzählung dem unerbittlichen Ende zu, gleich einem Flugzeug, das sich in einer letalen Abwärtsspirale befindet und sich dabei ebenfalls schraublinienförmig bewegt.

Im Zentrum der Geschichte stehen zwei "grässlich artige" Kinder - ein Junge namens Miles und ein Mädchen namens Flora. Die widersprüchliche Formulierung ("grässlich artig") hat Programm: Die Kinder sind von einer fast schon ins Unnatürliche kippenden Anmut. Zumindest werden sie von ihrer Gouvernante so geschildert: Sie erscheinen als unschuldige Engel, geben sich im Umgang zuckersüss und allerliebst, doch mehr und mehr nähert sich ihre Erzieherin der Gewissheit, dass sich hinter ihrer einnehmenden Fassade entsetzliche Abgründe verbergen. Alles nur "Verstellung und Trug". Erste Zweifel beginnen, als die namenlose Gouvernante einen Brief von der Schule bekommt, in dem mitgeteilt wird, dass Miles - ohne nähere Angaben der Gründe - von der Schule geflogen ist.

Zunächst ungläubig, weshalb ein dergleichen artiger Knabe vom Unterricht suspendiert wird, stimmen sie die folgenden Ereignisse zunehmend skeptisch und führen sie zur Überzeugung, dass die beiden Kinder mit den Geistern zweier verstorbener Personen in übersinnlichem Kontakt stehen, die früher auf dem Anwesen in Bry wohnten und damals die Kinder bereits verdorben hätten: ihre vormalige Erzieherin Miss Jessel und Peter Quint, der verrufene Freund des Hausherrn, die zusammen ein lasterhaftes, weil unstandesgemässes Verhältnis pflegten, das von den Kindern gedeckt wurde - und offenbar auch postum weiter gedeckt werden soll. Deshalb versuchen die beiden Toten durch dämonische Mächte die Kinder in ihren Bann zu ziehen.

Das jedenfalls ist die These der namenslosen Gouvernante, aus deren Perspektive die Hergänge geschildert werden und die die Geister selbst zu sehen glaubt. Aufgrund einer raffinierten Erzählführung bleibt es in der Schwebe, ob sich der Spuk tatsächlich wie geschildert abspielt und die engelhaften Kinder wahrhaftig eine dämonische Seite verbergen - oder ob nicht alles Hirngespinste der Erzählerin sind, die sich in eine idée fixe verrannte und davon auch die Haushälterin, die sie ins Vertrauen zog, überzeugen konnte. Immerhin reflektiert sie an einer Stelle kurz die Möglichkeit ihrer eigenen "Besessenheit" in der ganzen Angelegenheit, die in einem übersteigertem Kontroll- und Verfolgungswahn zum Ausdruck kommt. Das Verhältnis zu den Kindern kippt zusehends von anfänglicher Entzückung in unverhohlenes Misstrauen.

Am Ende weiss man daher nicht, ob es sich bei dem Bericht bloss um den Rechtfertigungsversuch einer paranoid gewordenen Erzieherin handelt, die sich in eigene Wahngebilde verstrickte und dadurch den Tod ihres Zöglings verschuldete. Als sie in der finalen Szene Miles zur Rede stellt und endlich erfahren will, weshalb er aus der Schule flog, sieht sie den Geist von Peter Quint erneut, triumphiert aber, weil sie glaubt, den Jungen beschützen zu können. In diesem Moment fällt Miles, der sich zu weit aus dem Fenster lehnte, um sich nach Quint umzusehen, vom Sims und dem realen "Abgrund" zu, von dem ihm die Gouvernante im übertragenen Sinn bewahren wollte. Doch ihr Rettungsgriff erweist sich als Todesgriff. Es wird zwar nicht ausgesprochen, doch ist Miles zweifelsohne dabei erstickt. Nach dieser letzten Drehung der Schraube liegt er tot in ihren Armen.

Die unzuverlässige Erzählsituation gewinnt einen zusätzlichen Dreh dadurch, dass der Bericht, der zwar von der Gouvernante stammt, von einem Mann verlesen wird, der ihr früher als Knabe in kindlicher Liebe verfallen war und dem sie später als einziger Person schliesslich ihr Geheimnis anvertraute: in Form eines handgeschriebenen Berichts, der detailgenau die Gespenstergeschichte wiedergibt. Wie das Kindermädchen vormals der Haushälterin ihr Hirngespinst glaubhaft zu vermitteln vermochte, so will sie offensichtlich auch künftige Leserinnen und Leser von ihrer Version der Geschichte überzeugen und über die Deutung der Geschehnisse die letzte Kontrolle behalten.

Standen die Kinder tatsächlich unter dem Bann des Bösen oder wurde der arme Miles durch den Wahn seiner Gouvernante in den Tod getrieben? Ihr Bericht plädiert innerdiegetisch klar für die erste Variante, die Erzählung von Henry James lässt die Frage insgesamt offen. Das Lesefrüchtchen würde jedenfalls folgende Übersetzung des Titels bevorzugen: Das Durchdrehen der Schraube, weil damit schon angedeutet wäre, dass es die 'Schraube' (ugs. für Frau) ist, die durchdreht (ugs. für wahnsinnig werden). Zumindest hat sie sicher eine Schraube locker. Auf Englisch besitzt das Wort screw umgangssprachlich hingegen eine sexuelle Konnotation und meint den Koitus.

Dieser Subtext dürfte bei James tatsächlich angelegt sein, da es sich im Grunde auch um eine Sublimationsgeschichte handelt, die Wahnvorstellungen also auf unerfülltes sexuelles Verlangen zurückzuführen sind. Das Kindermädchen nimmt die Stelle auf Bly überhaupt deshalb an, weil sie dem Zauber des Hausherrn verfallen war, der sie jedoch nur unter der Bedingung anstellte, dass "sie ihn niemals behelligen dürfe". Ihre unterdrückten Gefühle und Triebe projiziert sie fortan auf das angeblich unmoralische Verhältnis zwischen Quint und Miss Jessel, das jedoch als grosses Tabu behandelt, niemals direkt, sondern stets als "Teufelswerk" und "Verderbnis" angesprochen wird. Wie sehr der Bericht gegen den Willen der Erzählerin subkutan durch sexuelle Motive bestimmt ist, zeigt sich an einer Stelle besonders deutlich, als sie schildert, wie Flora mehrfach versucht, einen Ast in das Loch eines anderen Holzstückes zu stecken, sie daran aber "nichts Doppelsinniges" erkennen kann. - Das Lesefrüchtchen hingegen schon. :)

Dienstag, 26. Dezember 2023

Jeremias Gotthelf: Das Erdbeeri Mareili (1851)

Es ist die Geschichte eines "bsonderbaren Kindes", eines "gespässigen Meitschis", das lieber "erdbeeren" geht, als sich in grosse Gesellschaft begibt: "Mag das Gred und Gstürm nicht mehr hören und das Weltschen nicht". Ein Mädchen, das abgewandt von der Welt ein blühendes Innenleben hegt. Beschrieben wird es als "ein schöneres, reineres Gemüt". Mit Goethe könnte man auch von einer "schönen Seele" sprechen. Hat uns der Pfarrer Albert Bitzius unter seinem nom de plume Jeremias Gotthelf eine Heilige vor Augen gestellt? Oder liegt die "Besonderheit", die "Gespässigkeit" des Kindes in ganz anderer, verquerer Richtung?

Wie so oft bei Gotthelf ist auch diese Geschichte in eine Rahmenhandlung eingebettet: Der junge, etwas stolze und eingebildete Gerichtsäss Peter Hasebohne wird ans Totenbett des Erdbeeri Mareili bestellt, die ihm Tschaggeneigraben wohnte - einer wüsten, wahrlosten Gegend abseits des Dorfes, dort wo sich - wie es im Volksmund heisst - "Füchse und Hasen einander gute Nacht sagen". Umso mehr erstaunt Hasebohne, als er sieht, wie ordentlich, sauber und offenbar auch wohlhabend das Mareili lebte. Er entdeckt nicht nur schöne Kleider, Schmucksachen und Kleinodien; auch Geld ist ausreichend vorhanden. Der Dorfpfarrer, der auch Bitzius selbst sein könnte, erzählt dem verdutzten Amtmann, wie das Mareili zu diesem unvermuteten Reichtum kam.

Zusammen mit zwei jüngeren Geschwistern lebte es einst mit seiner Mutter im besagten Tschaggeneigraben in grösster Armut. Die Mutter fürchtet schon früh um den Tod es Kindes, da es im Unterschied zu seinen beiden Geschwistern weltabgewandt und mit einer blühenden Phantasie ausgestattet ist. Und doch besitzt es eine besondere Gabe, die der Familie hilft, sich über Wasser zu halten. Bei seinen Streifzügen durch den Wald entdeckt es die schönsten und schmackhaftesten Erdbeeren, welche die Mutter im Dorf den wohlhabenden Leuten feilbieten kann. Jeden Winter wartet das Mareili sehnsüchtig auf den Frühling, um wieder Erdbeeren pflücken zu gehen. 

Eines Tages übermannt es beim Erdbeeren der Schlaf, auch "Vetter Schläfli" genannt, und es kommt zum wohl schönsten Satz der gesamten Erzählung: "Meister Schläflein ist ein gar mächtiger Mann, kann schlafen, wo er will, Könige zwinget er, geschweige denn Kinder". Im Traum erscheint dem Mareili ein schöner weisser Engel, doch wie sich später herausstellt, handelt es sich um gar kein überirdisches Wesen, sondern um einen "Engel auf Erden" in "Menschengestalt". Als es Jahre später einem vornehmen Fräulein begegnet, erkennt es in ihm auf ein Mal ihren Engel im Schlaf - und auch das Fräulein erkennt das Mareili wieder, das für es ebenso engelhaft erschienen ist.

Zwischen den beiden entwickelt sich eine Art Liebesgeschichte. Führt es zu weit, wenn man vermutet, Gotthelf erzähle uns verklausuliert die Geschichte einer lesbischen Liebe? Die Erdbeere ist nicht zufällig auch das Symbol sündhafter Lust und kann sogar das weibliche Geschlechtsteil symbolisieren. Zudem ist es auffällig, wie in der Erzählung das "Verhältnis zum Fräulein" betont wird, und wie stark die emotionale Ergriffenheit bei der ersten bewussten Begegnung war: die "magnetische Kraft in den Augen" des Fräuleins "bewegten" dem Mareili "das Herz", "fast wie der Engel das Wasser im Teiche Bethesda, mit dem Unterschied jedoch, dass es Mareili nicht trüb ward im Herzen, sondern hell und licht, eine klare Freudenflamme loderte".

Während sich Mareili unverkennbar sofort über beide Ohren verliebt, dauert das 'Coming-Out' beim Fräulein länger, denn es lebt in "konventionellen Schranken". Gotthelf nennt es den "Schnürleib": "In einem solchen Schnürlieb stak das arme Fräulein, fühlte ihn vielleicht oft lange nicht, er schien ihm zur andern Natur geworden, bis bei besondern Anlässen oder besondern Stimmungen die Gefühle schwollen, gegen die Bande drängten, Kopf und Herz zu platzen drohten, endlich in eine Schwäche bis zum Tod der Brand verlief."

Erst im Alter "fiel der Schnürleib ab" und das Fräulein "begann sich vor allem der Liebe zu Mareili bewusst zu werden, welche eigentlich schon lange in ihm war, bis es aber, solange der Schnürleib seine Gefühle in alter Gemessenheit erhielt, nicht bemerkt, an die Möglichkeit ihrer Existenz gar nicht gedacht hatte." Das klingt heutigen Ohren, wo sich zahllose junge Menschen ebenfalls von den gesellschaftlichen Fesseln der Genderkonventionen befreien wollen, höchst vertraut. Das Fräulein nimmt Mareili bei sich zu Hause auf, wo sie "ähnlich zwei Nonnen" lebten, welche "die Welt hinter sich gelassen und über die Welt zu Schwestern geworden waren".

Während heute Lesben im Jargon auch Betschwestern genannt werden, wird hier eine lesbische Liebe in vergleichbarer Logik zu einer heiligen Schwesternschaft verklärt, die - auch das wird eigens betont - kinderlos bleiben wird. Ist denn dem Pfarrer Bitzius so viel Queerness wirklich zuzutrauen? Die Rahmen-Geschichte endet jedenfalls wieder in konventionellerem Rahmen, allerdings nicht ohne Augenzwinkern auf die herkömmlichen Geschlechterverhältnisse. Der Pfarrer schliesst seine Erzählung damit, dass das Fräulein stirbt und das Mareili nun zwar wohlhabend trotzdem wieder in ihr altes Häuschen im Tschaggeneigraben zieht, wo es unter all den Reichtümern schliesslich vom Gerichtsäss auch tot aufgefunden wurde. 

Dieser scheint von der ganzen Erzählung wenig beeindruckt, vor allem versteht er nicht, weshalb der Pfarrer das Mareili so hochschätzt und gar behauptet, "das Erdbeeri Mareili sei besser gewesen als Ihr und ich". Darauf kontert Hasebohne mit einer Behauptung, die seine misogyne Haltung klar zum Ausdruck bringt: "Aber, ob es dann imstande gewesen, Pfarrer zu sein oder gar Grichtsäss, selb müsste ich doch zwyfle, drzu bruchts Verstand, wo me hinger emene Wybervölchli nit fingt." Auf welch schwachen Beinen diese Meinung steht, lässt Gotthelf durchblicken, als sich Hasebohne schliesslich verabschiedet: "Aber jetzt muss ich heim. Meine wird luege, wo ich herkomme, die gibt mir eine Kappe, es ist e Handligi!" So viel sich der Gerichtsäss auch auf das Männerprimat einbildet, zuhause hat immer noch die Frau die Hosen an. Selbst wenn Gotthelf als Erzähler das Predigen selten lassen kann, mitunter ist er doch witzig, der Pfarrer Bitzius.

PS: Ausserdem erkannte Albert Bitzius schon lange vor Michel Foucault, dass die einfachen Leute keine offizielle Geschichte und kein Recht auf Historiographie besitzen, dass dies seit jeher nur ein Privileg der besser gestellten Klassen war. Diesem Missstand will er als Erzähler Jeremias Gotthelf entgegenwirken und dem Bauernvolk eine starke Stimme verschaffen. Dieses narrative Programm und Selbstverständnis leitet sich direkt aus einem auktorialen Kommentar ab: "Kornjahre und Weinjahre kennt man, nicht bloss jedes Kind weiss, was sie zu bedeuten haben, sondern sie haben grosse Bedeutung in der Weltgeschichte. Von Erdbeerjahren redet kein Mensch, kein Geschichtsschreiber zeichnet sie auf, und doch haben sie grosse Bedeutung für arme Kinder und arme Weibchen. Nun, das wird eben daher kommen, dass die Geschichtsschreiber sich mehr kümmern um Weinherren und Kornwucherer als um arme Kinder und arme Weiber."

Die Geschichte vom Erdbeeri Mareili ist somit Gegenhistoriographie im doppelten Sinn: Die Erdbeere steht im Vergleich zu Korn und Wein nicht nur für die Existenz der kleinen, unbedeutenden Leute, sie steht als erotisches Symbol überdies für die gleichgeschlechtliche Liebe, für die es ebenfalls keine offizielle Geschichtsschreibung gab, zu Gotthelfs Zeiten schon gar nicht, als Kinderlosigkeit und Frauengemeinschaften entweder als "gespässig" oder bei Nonnen als "heilig" galten.

 

Mittwoch, 6. Dezember 2023

Heinrich Zschokke: Hans Dampf in allen Gassen (1814)

Heinrich Zschokke, ein äusserst produktiver Vielschreiber und engagierter Politiker um 1800, ist heute kaum noch dem Namen nach bekannt. Vielleicht weiss man noch, dass sich Zschokke als Grossrat des Kantons Aargau stark für eine moderne Verfassung der Schweiz einsetzte und dass er in jüngeren Jahren zusammen mit Heinrich von Kleist und Christoph Martin Wielands Sohn Ludwig einen Schreibwettbewerb durchführte. Als er 1802 noch in Bern wohnte, hing in seinem Zimmer ein Kupferstich mit dem Titel La cruche cassé, zu dem jeder der drei Freunde eine Geschichte erfinden sollte. Kleist schrieb sein noch heute berühmtes Lustspiel Der zerbrochene Krug, Zschokke eine gleichnamige Erzählung, die wie sein gesamtes Oeuvre mittlerweile als vergessen gelten muss.

Literarisch überlebte von Zschokke lediglich die sprichwörtlich gewordene Gestalt des Hans Dampf in allen Gassen. Sie entstammt einer Erzählung gleichen Titels, die lose an die frühneuzeitlichen Schwankgeschichten der Schildbürger aus dem Lalebuch von 1597 anknüpfen, die später wiederum als Vorbild für Gottfried Kellers Seldwyler-Geschichten dienten. Aus dem Dorf Schilda im Lalebuch wird bei Zschokke die Stadt Lalenburg und bei Keller schliesslich das Zürcherische Seldwyla. Möglicherweise kannte Keller sogar Zschokkes Adaption, jedenfalls klingt seine ebenfalls sprichwörtlich gewordene Seldwyler-Erzählung Kleider machen Leute bei Zschokke bereits an: "Das Kleid macht den Mann!"

Multum non multa lautet eine lateinische Spruchweisheit, die besagt, man soll sich auf eine Gesamtheit konzentrieren, anstatt sich in Vielerlei zu verzetteln. Genau letzteres macht aber Hans Dampf aufgrund der ihm angeborenen "Schmetterlingshaftigkeit seines Gemüts". Er ist ein unruhiger Geist: "Zu sogenannter Gründlichkeit des Wissens fehlten ihm ohnehin Laune und Beruf. Er war rastlos tätig, man möchte sagen, ein quecksilberner Mensch, mischte sich in alles, wollte alles wissen, alles sagen, alles tun -". Bei den einfältigen Lalenburger gelten diese Eigenschaften gerade umgekehrt für "Universalgenialität" und Hans Dampf, der Sohn des Bürgermeisters gar als "Alkibiades", dem die Frauenherzen nur so zufliegen.

Doch im Unterschied zum historischen Alkibiades erweist sich Hans Dampf, wenn wundert's, alles andere als ein grossartiger Staatsmann von Format. Vielmehr vergnügt er sich als Schürzenjäger, da er es partout vermeiden will, mit der ihm zugedachten Rosina liiert zu werden, die zwar aus reichem Elternhaus stammt, leider aber bucklig ist. Als er bei einem seiner nächtlichen Abenteuer direkt aus dem Fenster auf das kostbare Geschirrladung des unten in der Gasse durchfahrenden Töpfers kracht, bringt er die Bevölkerung gegen ihn auf und landet als "Stifter alles Übels" im Kerker, aus dem er aber mit einer List wieder entfliehen kann. Die Stimmung im Dorf ändert sich schlagartig wieder, als Hans Dampf vom Fürst Nikodemus an den Hof gerufen wird, weil er angeblich Tieren das Sprechen beibringen kann.

Mit dieser Kunst ist es genauso wenig weit her wie mit allen anderen Fähigkeiten Hans Dampfs. Er ist nicht einmal in der Lage die soignierten französischen Einsprengsel in der Rede des Fürsten richtig zu verstehen. Als er mit "mon cher" angesprochen wird, meint er, es gehe um seine 'Scher' (Schere). Mehr als ein kläffendes "Ma Ma" vermag er dem Hund auch nicht antrainieren, trotzdem zeigt sich der mindestens ebenso naive Fürst beeindruckt, als der Hund coram publico vollkommen korrekt die Frage beantwortet, wen ein Kind zuerst im Leben erblickt (eben seine 'Mama'). Immerhin erweist hier Hans Dampf einen Restwert an Bauernschläue, getreu nach dem Motto: Im Reich der Idioten gilt selbst ein schwaches Licht als helle Birne.

Nach diesem Muster reihen sich Episoden an Episoden, die allesamt dem Grundsatz sancta simplicitas verpflichtet sind. Als Ouvertüre beginnt die Erzählung mit eine satirischen Absage an die Aufklärung: Eine lalenburgische Maxime besteht darin, "dass Aufklärung und Kenntnisse die tödlichsten Gifte sind, welche man einem Volke beibringen kann. Europa hat den grössten Teil seiner Übel nur der Selbstdenkerei zu verdanken." Zschokkes Geschichte entpuppt sich damit als eine weitere Variante von Erasmus' Lob der Torheit, das unter ironischem Deckmantel die Vorzüge der Dummheit preist und damit eigentlich eine Gesellschaftskritik qua Affirmation vornimmt. Die Geschichte endet denn auch mit einer längeren Rede von Hans Dampf, der kurz vor seiner Ernennung zum Konsul seine 'Klugheitslehre' zum Besten gibt, die nichts anderes als ein Lob der Einfalt ist: "Selig sind die Armen im Geiste. Die sehen in ihrer Einfalt mehr als die von Weisheit Verblendeten."

Donnerstag, 30. November 2023

Chris Kraus: I love Dick (1997)

Nachdem das Lesefrüchtchen mit G. einen Roman gelesen hat, der die unbeholfene Strichzeichnung eines Pimmels enthält, scheint ihm ein Buch mit dem Titel I love Dick die folgerichtige Lektüre zu sein. Der Titel ist natürlich zweideutig zu verstehen - oder mehr noch ist der Titel zunächst nichts anderes als eine plakative Provokation. Denn 'Dick' bezeichnet auf der Erzählebene weniger das männliche Gliedteil als ein erfolgreicher Universitätsprofessor namens Dick, der aber tatsächlich als Sinnbild des inkarnierten Phallogozentrismus figuriert, seinen Namen symbolisch folglich zurecht trägt. 

Das Buch gilt als Referenzwerk, ja als Klassiker feministischer Literatur. Um das zu begreifen, braucht es einige Zeit. Erst in der zweiten Hälfte entfaltet das Buch sein wahres Potential und beginnt wütend, kontrovers und politisch zu werden. Die Geschichte hebt damit an, dass die Ich-Erzählerin, die weitgehend identisch mit der Autorin Christ Kraus ist, und ihr Mann bei Dick eingeladen sind, wo sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Was sich zwischen den beiden an diesem Abend abspielt, nennt Kraus einen "Konzeptfick". Wie bei der Konzeptkunst geht es wohl auch da weniger um die tatsächlich Ausführung, sondern um die reine Idee. 

Aus dem Konzeptfick entwickelt sich daher naheliegender Weise ein Kunstprojekt. Chris und ihr Mann Sylvère beginnen Liebesbriefe an Dick zu schreiben, die sie jedoch nicht abschicken. Was als Spass anfängt, wird für Chris immer ernster, so dass sie sich schliesslich von ihrem Mann trennt, unter anderem weil sie erkennt, dass sie nicht mehr als eine bessere Partybegleitung ihres angesehenen Gatten ist, in dessen Schatten ihre eigene Existenz als Regisseurin gleichsam "ausgelöscht" wurde. Sie übergibt Dick die Briefe und verbringt sogar eine Nacht mit ihm, was jedoch nur zu erneuter Enttäuschung führt, als sie post coitum feststellen muss, dass für Dick der "subtilste, psychowissenschaftliche Blowjob überhaupt", den sie ihm verpasste, nicht mehr als eine willkommene Nummer war, weil er beschlossen habe, "niemals mehr Nein zu sagen".

Selbst beim romantisch idealisierten Dick fühlt sich Chris also einmal mehr als Frau ausgenutzt, gedemütigt und beschämt. Scham ist ein entscheidendes Stichwort für den zweiten Teil des Buches, wo Kraus die Frage erörtert, weshalb für Frauen sooft schambehaftet sei, was Männer berühmt mache, zum Beispiel das Schreiben "in der 1. Person", sich selbst zum Thema zu machen. Gerade dies verfolgt Chris Kraus jedoch konsequent in ihrem Buch, das nicht nur die radikale Ich-Perspektive wählt, sondern überdies mit Klarnamen arbeitet. Alle Personen sind leicht als ihre realen Vorbilder identifizierbar, selbst Dick, dessen Nachname zwar nie genannt wird, hinter dem jedoch unverkennbar der Medientheoretiker Dick Hebdige steht. Die autofiktionale Vermischung zwischen Text und Lebenswelt führt sogar so weit, dass das Buch im Verlag von Sylvère Lotringer, der Edition Semiotext(e), erschienen ist.

Obschon die Desillusionierung mit Dick quasi die feministische Wende bei Chris Kraus initiiert, hört sie nicht auf, Dick Briefe zu schreiben. Bloss sind es nun keine Liebesbriefe im eigentlichen Sinne mehr, sondern ein "Manifest" mit dem provokanten Titel "Jeder Brief ist ein Liebesbrief", das sich insbesondere mit feministischer Kunst auseinandersetzt, mit Ausstellungen von Eleanor Antin, Miriam Shapiro, Hannah Wilke, Judy Chicago u.a. oder mit feministischen Vordenkerinnen wie Simone Weil. Aber auch die Marginalisierung durch das eigene Judentum (das "Itzig"-Sein) kommen zur Sprache und vor allem die fehlende öffentliche Anerkennung von Frauen. Die Frage: "Wer darf sprechen und warum?" ist leitend und die von der Autorin gezogene Bilanz ernüchternd: nach wie vor werde der weibliche Diskurs strukturell unterdrückt. 

Aus dieser Bilanz, dass es "nicht genug niedergeschriebene weibliche Unbändigkeit gibt", leitet Chris Kraus das Kernanliegen ihres Buches ab, das sich in einer Schlüsselpassage verdichtet, die es verdient, ausführlich zitiert zu werden: "Ich habe mein Schweigen und alles Verdrängte mit dem Schweigen des gesamten weiblichen Geschlechts zusammengeführt, und mit all dem, was es verdrängt. Ich glaube, dass es sich bei der blossen Existenz von sprechenden, seienden, paradoxen, unerklärlichen, schnoddringen, selbstzerstörerischen, doch in allererster Linie öffentlichen Frauen um das überhaupt Allerrevolutionärste auf der ganzen Welt handelt." Aus diesem Statement erklärt sich auch die radikale Selbstentblössung, die sich die Autorin gibt. Ihr Ziel ist es, eine "Ehrlichkeit" zu erreichen, welche - einem zitierten Wort René Crevels zufolge - die "Ordnung bedroht".

Ordnung - gemeint ist in diesem Kontext selbstredend die patriarchale Ordnung, mit der das Buch auf eine fulminante, schamlose und deshalb mitunter auch exhibitionistische Weise abrechnet. Doch ist die Autorin zu klug, als dass sie dies nicht mit in ihre Erzählstrategie einkalkuliert, denn erst die Tabuverletzung vermag ihrer Ansicht nach eine Enttabuisierung herbeizuführen. Ist das Experiment gelungen? Dem Buch selbst ist - als ironische Volte - das eigene Scheitern eingeschrieben. Dick liest die an ihn gerichteten Briefe, insbesondere das "Manifest", erst gar nicht, dann nur flüchtig, ignoriert die Absenderin und ihr Anliegen also weitgehend, und bequemt sich erst durch die nachdrückliche Bitte des Ex-Partners Sylvère endlich zu einer Antwort. Diese ist denn auch an Sylvère direkt und nicht etwa an Chris gerichtet - sie bekommt lediglich dasselbe Schreiben in Kopie. Krasser könnte der postulierte weibliche Diskursausschluss nicht demonstriert werden.


Donnerstag, 16. November 2023

John Berger: G. (1972)

G. - so lautet das Initial des Protagonisten, der - wenn es nach seinem Vater gegangen wäre - Giovanni heissen würde. Den wirklichen Namen erfahren wir nie, dafür wissen wir, dass der Junge in der Schule den Übernamen Garibaldi (nach dem italienischen Freiheitskämpfer) erhielt, weil sein (unehelicher) Vater Italiener war. Im Deutschen besitzt G. - ausgesprochen als 'G-Punkt' - freilich noch eine weitere, sexuelle Bedeutung: Gemeint ist damit landläufig die sogenannte Gräfenberg-Zone, die erogene Zone der weiblichen Vagina. Ob diese Allusion auch im Englischen, der Original-Sprache des Romans, mitschwingt, weiss das Lesefrüchtchen nicht. Ganz unpassend wäre es jedenfalls nicht, zumal dieser G., dieser ungenannte Giovanni, seinem Namen mehr als nur gerecht wird: Handelt es sich doch um "Don Juan" höchstpersönlich.

Wer nun einen erotischen Roman erwartet, liegt falsch, obschon es explizite Szenen gibt, ja sogar pennälerhafte Strichzeichnungen von Geschlechtsteilen, was aber niemals pornographisch wirkt, da die Prosa durchwegs durch- und metareflektiert ist, was den Roman zu einem (frühen) Vertreter der literarischen Postmoderne macht. Wie schon in den klassischen Bearbeitungen des Don Giovanni-Stoffes ist auch hier die Verführer-Geschichte eingebettet in einen zeithistorischen Kontext. Der Roman bietet ein episches Panorama vom Burenkrieg in Südafrika bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Im mittleren und zentralen Teil wohnen wir der ersten Überquerung der Alpen in einem Flugzeug bei. Ein historisch verbürgtes Spektakel, das anno 1910 der Luftfahrtpionier Jorge Chavez unternahm, der im Roman unter der Schweizer Variante seines Klarnamens auftaucht: Geo Chavez. Auch er ein G.

Nicht von ungefähr: Das Schicksal dieses Flugpioniers ist in mehrerer Hinsicht mit demjenigen des Protagonisten G. verknüpft. Nicht allein, dass G. beim Start des Flugzeugs in Brig ein Zimmermädchen kurz vor ihrer Heirat vernascht, und nach der Bruchlandung in Domodossola einem wohlsituierten Herrn die Ehefrau ausspannt (der ihn sodann mit der Pistole verfolgt), nein, worin sich Geo und G. vor allem gleichen, ist die Sorglosigkeit ihres Tuns: "Wie der Flieger mochte auch er sorglos gewesen sein." Beide riskieren alles, um auf den G-Punkt zu gelangen - wahlweise die sexuelle Erfüllung oder die maximale Flughöhe - und beide gehen schliesslich an ihrem Wagemut zu Grunde. Geo Chavez erliegt nach dem Absturz im Spital den Verletzungen, G. wird Jahre später in Triest zum Opfer eines Überfalls kurz vor dem Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg, weil er fälschlicherweise als österreichischer Agent und Aufwiegler verdächtig wird.

Wie Zeno Cosini bei Italo Svevo findet sich auch G. ähnlich unbeteiligt von den politischen Geschehnissen bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Triest. So geht er auch seltsam gleichgültig in den Tod: Weder setzt er sich gegen seine Angreifer zur Wehr, noch legt beweist er eine heroische Todesbereitschaft. Er lässt es mit sich geschehen. Entsprechend lapidar wird der Tathergang erzählt. G. spürt noch den "Geschmack der Milch" als "Wolke des Unwissens" in seinem Mund. Dann wird er ins Meer geworfen. In einem filmreifen Schwenk führt der Blick hinaus ins offene Meer, wo sich die untergehende Sonne in den glitzernden Wellen spiegelt. Der letzte Satz lautet: "Der Horizont ist nur wie die gerade Bodenkante eines Vorhanges, der willkürlich plötzlich am Ende einer Vorstellung herabgelassen wird." Aufführung vorbei. Schluss.

Ein rätselhafter Tod, der sich vielleicht narratologisch dadurch erklärt, dass G. als Don Juan längst zur "Legende" geworden ist, was aber sich so anfühlt, wie es gegen Ende des Romans heisst, als sei man "lebendig begraben". G. erkennt intuitiv, dass seine "Zeit" vorbei ist, dass er sein sozialrevolutionäres Potential als ewiger Verführer eingebüsst hat. "Es war nicht mehr die Zeit an sich, die ihn weiterbringen konnte, denn die Zeit war bedeutungslos geworden." Deshalb entscheidet er sich, gleichsam in einem acte gratuit, sein Image abzulegen, indem er die Frau eines österreichischen Bankiers entgegen der ursprünglichen Absicht gerade nicht verführt (wohl auch weil es für ihn uninteressant wurde, da sie sich als Nymphomanin geradezu aufdrängt und ihr Mann, der in Anlehnung an Tolstois Ehebruch-Roman Anna Karenina, kein "Karenin" sein will, es sogar gönnerhaft zulässt). Stattdessen hilft er einer jungen Slowenien - und besiegelt damit sein Schicksal.

Neben seiner thematisch komplexen Verknüpfung von Sexualität, sozialen Fragen und zeitgeschichtlichen Hintergründen besticht der Roman durch seine chronologisch lose Erzählweise, die durch die vielen mit Leerzeilen getrennten Abschnitte auch visuell erkennbar ist. Es sind Bausteine, die eher mosaikartig als kontinuierlich, die Ereignisse umkreisen, mit Wiederholungen, Disruptionen, Pro- oder Metalepsen und ständig durchsetzt mit Reflexionen des Erzählers, der Probleme der Darstellbarkeit diskutiert oder die Geschicke seines Helden kommentiert. Jedoch nicht als souveräne auktoriale Stimme, der über alles beredt Auskunft gibt, sondern quasi aus der Position eines aussenstehenden Beobachters, dem vieles, was sich ereignet, genauso erklärungsbedürftig scheint wie den Lesenden. 

Samstag, 11. November 2023

Edgar Allan Poe: Der wahre Sachverhalt im Falle Valdemar (1845)

Eine späte Kurzgeschichte des Godfathers of Grusel in Form eines Rechenschaftsberichts: Ein anonymer Ich-Erzähler, der sich seit einiger Zeit mit dem Phänomen des Mesmerismus, eine bis ins 19. Jahrhundert virulente Heilmethode, beschäftigt, schildert eine sonderbare Begebenheit. Der Mesmerismus - begrifflich abgleitet von Franz Anton Mesmer, dem Entdecker des sogenannten 'animalischen Magnetismus' - basiert auf Hypnosetechniken, die dem Körper zu neuer Vitalität verhelfen sollen. Doch wie dem Erzähler auffällt, wurde bislang kein Mensch "in articulo mortis mesmeriert". 

Zufälligerweise kennt der Erzähler einen Freund, Ernest Valdemar, der aufgrund seines nervösen Charakters schon früh ein dankbares Versuchskaninchen für magnetische Experimente war und der nun im Sterben liegt. Es soll deshalb der Versuch gewagt werden, ob der Mesmerismus auch als lebensverlängernde Massnahme taugt. Als die Ärzte erstaunlich präzise die Todesstunde bestimmen können, eilt der Erzähler zu seinem Freund und mesmeriert ihn auf dem Sterbebett, indem er ihm - wie es die Regeln der Kunst verlangen - mit Handstrichen magnetische Energie zuführt.

Zuerst scheint die Übung wirkungslos, Valdemar ist im Begriff dahinzuscheiden, sein Puls lässt nach, sein Atem erlischt, dann jedoch zeigen sich "unleugbare Anzeichen des mesmerischen Einflusses". Er befindet sich nun in Hypnose und der Erzähler versucht eine erste Kontaktaufnahme. Auf die Frage, ob er schlafe, antwortet er im Flüsterton: "Ja, ich schlafe jetzt - wecken Sie mich nicht. - Lassen Sie mich so sterben." Als im Verlauf des Abends die Frage wiederholt wird, antwortet Valdemar erneut, nun aber mit einer schauerlichen Stimme, die wie "aus weiter Ferne", "aus einer tiefen Höhle im Innern der Erde" zu kommen scheint: "Ja - nein - ich habe geschlafen - und nun - nun - bin ich tot."

Obschon diese Nachricht und vor allem der "schauerliche" Ton, in dem sie vorgebracht wird, allen Anwesenden "zähneklapperndes Grauen" erregt, beschliesst man den Sterbenden weiterhin in seinem hypnotischen Zustand zu belassen, da man der allgemeinen Überzeugung ist, der Eintritt des Todes sei "durch den magnetischen Prozess" aufgehalten worden. Ganze sieben Monate observieren die Ärzte und der Erzähler den "Schlafwachenden", dessen Zustand unverändert apathisch bleibt, und einzig "im Vibrieren der Zunge" noch "Anzeichen einer magnetischen Einwirkung" erkennen lässt. 

Endlich entscheidet man sich, den Hypnotisierten wieder zu wecken und damit ins Leben zurückzurufen. Doch entgegen aller Erwartung steht Valdemar nicht wieder auf, sondern verfault vor den entsetzend Augen aller Anwesenden. Die Erzählung schliesst mit einer Gore-Szene par excellence: Als der Erzähler seine "magnetischen Striche" macht, "schrumpfte, zerbröckelte, verfaulte sein ganzer Körper unmittelbar, im Verlauf einer einzigen Minute oder nicht einmal einer Minute, unter meinen Händen. Auf dem Bett, vor den Augen der ganzen Gesellschaft, lag eine nahezu flüssige Masse von ekelhafter, abscheuerregender Fäulnis."

Valdemar war schon lange tot, der Magnetismus hat lediglich den physischen Verfall seines Körpers aufgehalten, der nun in Sekundenschnelle abläuft. Den Geist weiterhin am Leben bzw. im Körper zu halten, vermochte er jedoch nicht. Die Antworten mit der schauerlichen Stimmen kamen bereits aus dem Totenreich.