Mittwoch, 31. Mai 2017

Brentano / Görres: BOGS, der Uhrmacher (1807)

Ein poetisches Konzept der deutschen Romantik war das Schreiben im Kollektiv. Friedrich Schlegel formulierte in einem seiner Athenäums-Fragmente das Ideal einer „Sympoesie“, bei der „es nichts Seltnes mehr wäre, wenn mehrere sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten“. Und Novalis sah in den Journalen „eigentlich schon“ das Vorbild für „gemeinschaftliche Bücher“. Das berühmteste Unternehmen in kollektiver Autorschaft sind Die Versuche und Hindernisse Karls (1808), auch als Doppelroman der Berliner Romantik bekannt, an dem sich Karl August Varnhagen von Ense, Wilhelm Neumann, August Ferdinand Bernhardi und Friedrich de la Motte Fouqué beteiligten, die alternierend ihre Kapitel zu dem Projekt beisteuerten.

Bereits ein Jahr zuvor erschien im Umkreis der Heidelberger Romantiker eine Doppel- oder Kollektivnovelle als Gemeinschaftswerk von Clemens Brentano und Joseph Görres, das aber eher aus einer Laune heraus entstanden ist. Inspiriert durch eine Zeitungsnachricht konzipierten die beiden Autoren zunächst eine scherzhafte Konzertannoce, die sich unter der Hand aber zu einer arabesken Geschichte ausweitete, weshalb diese schließlich unter dem Titel „Die über die Ufer der Badischen Wochenschrift als Beilage ausgetretene Konzert-Anzeige“ als separates Bändchen bei Mohr & Zimmer publiziert wurde – wie damals üblich: anonym. Die Verfasser versteckten ihre Autorschaft indes im Namen ihres Helden BOGS, der sich aus den ersten und letzten Buchstaben ihrer Nachnamen zusammensetzt: BrentanO/GörreS.

Der Inhalt dieser kleinen Groteske ist rasch erzählt: Der Uhrmacher BOGS will sich bei einer Schützengesellschaft bewerben und muss zu diesem Zweck ein „Selbstbekenntniß über [seinen] Karakter und [seine] Grundsätze“ ablegen, damit die Gesellschaft auf dieser Basis beurteilen kann, ob er einer Aufnahme würdig sei. Aus dem Bekenntnis geht aber hervor, dass der Uhrmacher eine irrational starke Inklination zur Musik besitzt, eine „wahrscheinlich physische Schwäche eines sehr reizbaren etwas zum Trunke geneigten Ohrs“. Die ganz auf bürgerlich-konservative Werte bedachte Schützengesellschaft stellt ihn deshalb auf die Probe: Wenn BOGS einem Konzert beiwohnen könne, ohne davon übermäßig hingerissen zu werden, dann wolle sie ein Auge zudrücken und den musisch-empfindlichen Kandidaten in ihren Kreis aufnehmen.

In Kenntnis seiner unkontrollierbaren Leidenschaft willigt BOGS nur zögernd in das Experiment ein: „Anfangs wollte ich mein Herz und meinen Kopf zu Hause lassen, aber zuletzt mußte ich doch ersters der Courage und letzteren des Hutes wegen mitnehmen.“ Wie befürchtet gerät das Probekonzert zum Fiasko: BOGS lässt sich von der Darbietung nicht nur hinreißen, er beginnt richtiggehend zu derilieren. Er verliert das Bewusstsein, verstrickt sich in Phantasmagorien, sieht bizarre Traumwelten vor seinen inneren Augen vorbeiziehen, und kann sich zwischen den Stücken nur notdürftig an die Uhren klammern, die er als dingfeste Stützen mitgenommen hat, ihm den nötigen Wirklichkeitsrückhalt zu sichern.

Die Bilanz fällt entsprechend kläglich aus: Die Schützengesellschaft verweigert BOGS nicht bloß die Aufnahme, sie zweifelt nachhaltig an seinem Verstand, weshalb der Uhrmacher angeleitet durch Doktor Sphex – der schon in Jean Pauls Titanroman herumgeisterte – einer medizinischen Untersuchung unterzogen wird, die eine anatomische Absonderlichkeit zu Tage fördert: BOGS besitzt einen Januskopf. Auf der Hinterseite, versteckt unter dem Haar, verbirgt sich ein zweites Konterfei, welches als Antipode des armen Uhrmachers für die Schattenseite seiner Vernunft verantwortlich ist, findet sich doch im „Höhlenwerk seines Kopfes“ alle Phantasmagorien wieder, die BOGS während der Konzertvorführung heimgesucht haben, hier aber unter der Schädeldecke fröhliche Urständ feiern.

Als wäre dieser Befund – eine Art Vorfläufermotiv von Dr. Jekyll und Mr. Hyde – nicht schon phantastisch genug, beschließt Doktor Sphex in die seltsam bevölkerte Kopfhöhle hinabzusteigen, „um sich durch den unmittelbaren Augenschein über den eigentlichen Bestand der Sache Auskunft zu verschaffen“. Durch den fremden Eindringling wacht das zuvor eingeschläferte Janusgesicht aber auf und gerät dabei so stark in Rage, dass er mit dem Uhrmacher im Raum herumwirbelt, bis „endlich die Verbundenen durch die Centrifugalkraft des Schwunges von einander ließen“. So kann der Uhrmacher mehr zufällig als durch medizinisches Geschick von seinem Parasiten befreit und endlich „als stiller, gesetzter, sedater Mensch“ in die hochlöbliche Jagdgesellschaft aufgenommen werden.

Soweit die groteske äußere Handlung der Erzählung, die sich rasch als romantische Allegorie entpuppt. Zunächst kann das Janusgeschöpf BOGS, abgesehen davon, dass die Romantik eine Vorliebe für Doppelgänger- und Zwillingsmotive hatte, als Figuration der doppelten Autorschaft von Brentano und Görres selbst angesehen werden. Mehr noch aber lässt sich der Exorzismus, den BOGS über sich ergehen lassen muss, als Konflikt zwischen romantischer und bürgerlicher Weltanschauung lesen. Die nüchterne Seite von BOGS entspricht der bürgerlichen Tugend, während das rückseitige Janusgesicht die Schattenseite der Romantik verkörpert. Die Profession des Uhrmachers ist gewissermaßen auch der Inbegriff des Pedantischen und Philiströsen, das den Romantiker ein Dorn im Auge war, weshalb es in der Erzählung nicht zufällig heißt, die „Prediger aus der neuen romantischen Klique“ hätten „gegen die klassischen Uhrmacher einen Bund geschlossen“.

Die Pointe der Erzählung verläuft indes in umgekehrter Richtung, wenn es darum geht, den Uhrmacher von seinen romantischen Anleihen zu befreien. Ganz zu Beginn, in einer überlangen Annonce der Jagdgesellschaft, die ebenfalls die gutbürgerliche Tradition vertreten und die Verbannung des romantischen Gedankenguts propagieren, werden die Romantiker als „Zifferfeinde und Ungeziefer“ bezeichnet. Kein Wunder setzen solche Zifferfeinde just einem Uhrmacher, der sich ex professio mit Ziffern und Ziffernblättern befasst, besonders hart zu, weshalb es letztlich gilt, dieses romantische Ungeziefer, das leibhaftig seinen Kopf befallen hat, zu entfernen. Ironischerweise steuert gerade im Teil, welcher die Austreibung der Romantik aus dem BOGS'schen Schädel schildert, das Phantastische und Irreale der Erzählung auf eine radikale Klimax zu, dass letztlich doch, wenn nicht auf der Handlungsebene, so doch poetologisch die romantische Ästhetik den Sieg davon trägt.

Freitag, 26. Mai 2017

Friedrich Schiller: Die Räuber (1781)

In seinem Anstoß Zur Geschichte des menschlichen Herzens erzählt Christian Friedrich Daniel Schubart die Anekdote zweier ungleicher Brüder: der eine heißt Carl, ist ein verbummelter, genusssüchtiger Mensch, weshalb er bei seinem Vater zunächst in Ungnade fällt, erweist sich dann aber von rechtschaffener Natur, während der andere Wilhelm, vordergründig ein Musterknabe, sich letztlich als eigennütziger und ziemlich skrupelloser Kerl entpuppt. Er macht sich des versuchten Mordes an seinem Vater schuldig, wovor ihn nur durch Zufall sein verstoßener Sohn retten kann. Schubart leitet seinen kurzen Bericht der angeblich wahren Begebenheit mit den Worten ein: „Hier ist ein Geschichtchen, das sich mitten unter uns zugetragen hat, und ich gebe es einem Genie preis, eine Komödie oder einen Roman daraus zu machen“.

Das Genie, das den Stoff dramatisierte, war der damals zwanzigjährige Friedrich Schiller. Er liess sich davon für sein erstes Stück Die Räuber inspieren, das 1781 anonym und im Selbstverlag erschienen ist – und erst später und unter erheblichen, nicht autorisierten Veränderungen uraufgeführt wurde. Beim publizierten Text handelt es sich also um ein Lesedrama, das in erster Linie als Buch und nicht für die Bühne konzipiert wurde. In der Vorrede zur ersten Auflage schreibt Schiller: „Nun ist es aber nicht sowohl die Masse meines Schauspiels als vielmehr sein Inhalt, der es von der Bühne verbannet.“ Inhaltlich stehen die beiden Brüder Karl und Franz Moor im Zentrum, die aus unterschiedlichen Beweggründen die Gesetze überschreiten und zu grausamen Verbrechern werden, wobei Franz der moralisch verworfene Gegentypus zum edlen oder „erhabenen Verbrecher“ Karl Moor markiert.

Franz, der zweitgeborene Sohn des Grafen von Moor, fühlt sich gegenüber dem charismatischen und viel attraktiveren Bruder Karl fürs Leben benachteiligt, weshalb er gewillt ist, diese naturgegebene Hintansetzung eigenmächtig aus dem Weg zu räumen, indem er eine Intrige gegen den Bruder in die Wege leitet. Er lässt seinem greisen Vater die falsche Nachricht von der Verworfenheit seines Sohnes Karl zukommen, worauf dieser Karl verflucht und aus Gram über dessen Lebenswandel dahinsiecht. Tatsächlich will der skrupellose Franz nichts anderes, als den Tod seines Vaters zu forcieren, um das Erbe baldmöglichst anzutreten. Er besitzt ein „Gewissen nach der neuesten Façon“, das wie die Beinschnallen an den Hosen beliebig – also bis zur absoluten Gewissenlosigkeit – erweitert werden kann und auch den versuchten Mord nicht ausschließt. Franz ist der ganz große Schurke, der in seiner Verzweiflung letztlich sogar gegen Gott frevelt.

Karl dagegen agiert nicht weniger grausam, allerdings nicht aus genuiner Unmoral, sondern aufgrund einer existenziellen Enttäuschung. Wie Schiller in seiner Selbstbesprechung zum Stück schreibt, steigert sich bei Karl eine „Privatverbitterung“ in „Universalhaß gegen das ganze Menschengeschlecht“. Dass ihn sein Vater (aufgrund des Ränkespiels von Franz) verstößt, veranlasst Karl (da er nichts von der Intrige weiß und sich den Zorn des Vaters also nicht erklären kann) impulsiv alle gesellschaftlichen Bande aufzukündigen und als mordender und brandschatzender Räuberhauptmann in die böhmischen Wälder zu ziehen. Trotz seiner Untaten verliert Karl sein Ehrgefühl nicht. Im Unterschied zum niederträchtigen Kumpanen Spielmann geht es ihm nicht um Spaß an der Sache, vielmehr versteht er sich als Rächer an einer dekadenten Welt: „Sag ihnen, mein Handwerk ist Wiedervergeltung – Rache ist mein Gewerbe.“

Karl wie Franz, so unterschiedlich auch ihre moralische Verfassung beschaffen ist, sind beides typische Sturm-und-Drang-Figuren, welche sich von den sozialen Fesseln losreißen und mit allen Kräften ins Unbedingte vordringen wollen. Nicht zufällig erwähnt Karl gleich zu Beginn den „Prometheus“, die Galionsfigur des Sturm-und-Drang, um aber festzustellen, dass der „lohe Lichtfunke“ von ihm heutzutage ausgebrannt sei, weil die Zivilisation alles Große und Erhabene im Keim ersticke: „Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug gewesen wäre.“ Genau so, mit exakter derselben Wortwahl, fühlt sich auch Franz an die äußeren Umstände gebunden, die er überwinden will: „Soll sich mein hochfliegender Geist an den Schneckengang der Materie ketten lassen?“ Beide sind sie Kraftmenschen, welche die lähmenden gesellschaftlichen Konventionen zugunsten einer absoluten Freiheit für sich aushebeln wollen. Das Stück zeigt aber, das radikale Freiheit letztlich nur in neuer Barbarei enden wird.

Schillers Räuber sind Ausdruck des aufklärerischen Interesses an der Natur des Verbrechens. Die Vorstellung, dass der Mensch von Natur aus böse sei, wie es Thomas Hobbes etwa mit seiner Formel von homo homini lupus noch postuliert hatte, war aus aufklärerischer Sicht, die von einem humanistischen Ideal ausging, unhaltbar. Entsprechend richtete man die Aufmerksamkeit auf die sozialen Umstände, unter denen ein Mensch auf die schiefe Bahn gerät und in die Kriminalität getrieben wird. Ein ganz ähnliches Anliegen verfolgte Schiller auch in der fast gleichzeitig entstandenen Erzählung Der Verbrecher aus verlorene Ehre (1786). In der programmatischen Einleitung fordert Schiller eine Art Linné'sches System, welches das Menschengeschlecht „nach Trieben und Neigungen klassifizierte“, um die innern Beweggründe des menschlichen Handlens besser zu verstehen: „An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr als an seinen Taten, und noch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken als an den Folgen jener Taten.“

Diese Absicht führt jedoch mit sich, dass man das Laster dem Leser in all seinen Facetten vor Augen führen, ja nachgerade eine „Leichenöffnung“ des Lasters veranstalten muss, um das Entsetzliche verständlich zu machen. Vor diese Herausforderung sieht sich der junge Dramatiker auch im Schauspiel Die Räuber gestellt, weshalb er in der Vorrede zum Stück die berechtigte Befürchtung ausspricht, dass es vom unverständigen „Pöbel“ in seiner Intention diametral als „Apologie des Lasters“ missverstanden werden könnte, was doch als abschreckendes Beispiel gedacht sei: „Wer sich den Zweck vorgezeichnet hat, das Laster zu stürzen und Religion, Moral und bürgerliche Gesetze an ihren Feinden zu rächen, ein solcher muß das Laster in seiner nackten Abscheulichkeit enthüllen und in seiner kolossalischen Größe vor das Auge der Menschheit stellen“.

Schiller formuliert darin eine Absicht, die er wenige Jahre später in seinem Aufsatz Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet (1784) theoretisch weiter ausführen wird, u.a. unter direkter Bezugnahme auf sein Stück Die Räuber, das er in einer Reihe mit Shakespeare und Molière erwähnt, was nicht zuletzt auch ein Licht auf das keineswegs geringe Selbstverständnis des jungen Schiller wirft. Wie die genannten Vorgänger so will auch Schiller den Menschen in all seinen erschreckenden Abgründen auf die Bühne stellen, um dem Publikum den Spiegel vorzuhalten, damit es die eigenen Schwächen im Schicksal der tragischen Figuren erkenne. Zwar räumt Schiller ein, dass ein Franz oder Karl Moor auf der Bühne faktisch keinen Verbrecher bekehren könne; der Wert des Schauspiels liege aber darin, dass man mit diesen Abirrungen des menschlichen Daseins bekannt gemacht werde, um im richtigen Leben davor gewappnet zu sein. Dem Schrecken auf der Bühne spricht Schiller somit eine humanisierende Wirkung zu.

Schiller präsentiert mit den Räubern ein Drama in grellen Farben, mit drastischen Szenen und liefert mit dem Aufsatz über die Schaubühne als moralische Anstalt zugleich eine Begründung für diese Ästhetik des Bösen nach. Interessanterweise geht Schiller – anders als in heutigen Debatten über den angeblich negativen Einfluss von Gewaltdarstellungen – in keinem Punkt von der Annahme aus, dass der Zuschauer zur Imitation angestiftet werden könnte. Im Gegenteil glaubt Schiller, dass letztlich „Menschlichkeit und Duldung“ durch „Rührung und Schrecken“ bewirkt werde. Der „kühne Verbrecher“ dient „zum schauervollen Unterricht“ und soll im Zuschauer entsprechenden einen „heilsamen Schauer“ hervorrufen, der an die Tugend appelliert. Das ist freilich eine Überzeugung, die aus dem Optimismus der Aufklärung heraus gedacht wurde. Dass Schreckens- und Gewaltdarstellungen den Menschen moralisch bessern, ist wohl ebenso idealistisch, wie die gegenteilige Vermutung, dass sie ihn verderben, unnötig fatalistisch ist.

Mittwoch, 24. Mai 2017

E. W. Hornung: Raffles (1899-1905)

Raffles, der Edelverbrecher aus der Feder des Schwagers von Sir Conan Doyle, ist das kriminelle Pendant zum Meisterdetektiv Sherlock Holmes. Wie dieser ist Raffles brillant, vornehm, distinguiert und überlegen mit einem untrüglichen „Sinn für Ästhetik“, der bei seinen Verbrechen stets eine Rolle spielt. Raffles versteht sie als Kunststücke und sein Ehrgeiz liegt weniger in der grossen Beute, sondern in der Formvollendetheit seiner Gaunerstücke, weshalb er sich vor immer verücktere Herausforderungen stellt. So wie Holmes' Leidenschaft darin besteht, scheinbar unlösbare Verbrechen aufzudecken, strebt Raffles danach, scheinbar unmögliche Verbrechen zu begehen. Dabei handelt es sich um keine schweren Verbrechen, mehrheitlich konzentriert sich Raffles auf Diebstähle, so dass man fast schon geneigt ist, von Kavaliersdelikten zu sprechen. Denn Raffles ist ein Gentleman, der trotz seiner kriminellen Neigung es nicht an Ehrenhaftigkeit missen lässt. So verabscheut er Gewalt, die er nur in äusserten Notfällen anwenden würde: „Gewalt ist das Eingeständnis einer schrecklichen Unfähigkeit.“ Raffles aber ist alles andere als unfähig, sondern ein Meisterdieb, der „größte der Prä-Raffleiten“, wie er einmal witzig meint, auch wenn er sich selbst bloss als Amateur versteht. Tatsächlich ist er ein Amateur im Wortsinn: Ein Liebhaber des Verbrechens, das er nicht aus Eigennutz oder zur Selbstbereicherung, sondern aufgrund seiner Schönheit – quasi als l'art pour l'art – begeht.

Die Erzählungen lesen sich somit wie inverse Kriminalgeschichten. Die Spannung liegt nicht darin, wie ein Verbrechen aufgedeckt, sondern wie und mit welcher Raffinesse und Brillanz es begangen wird. Am Ende triumphiert immer Raffles, wenn er seinem verblüfften Kompagnon mit dem Spitznamen Bunny den genialen Streich offenlegt. Wie Dr. Watson bei Sherlock Holmes so fungiert auch Rafffles Begleiter zugleich als Erzähler und getreuer Chronist der gemeinsam erlebten Abenteuer. Und wie Watson so bringt auch Bunny dem überlegenen Freund eine grenzenlose Bewunderung entgegen, in die sich mitunter aber auch eine Spur von Eifersucht mischt, wenn ihm wieder deutlich wird, dass er in diesem Duett stets die zweite Geige spielen wird. Bunny dient Raffles vornehmlich als Statist bei seinem Unternehmungen, entsprechend wenig wird er in die Pläne eingeweiht, damit er den Ahnungslosen nicht nur spielt, sondern tatsächlich auch ist, und damit jeden Verdacht von sich und Raffles abwendet: „Wie hättest du dich so tadellos benehmen können“, lobt ihn Raffles, „wenn du das gewußt hättest? Wer hätte das überhaupt zustande gebracht? Niemals hättest du deine Rolle so spielen können, und kein erster Bühnenstern an deiner Stelle hätte es besser machen können.“

Raffles liebt es allgemein, die Leute an der Nase herumzuführen. Nicht nur pflegt er ein Doppelleben – als national anerkannter Kricket-Spieler und ein heimliches als Dieb –, er mischt sich auch gerne inkognito unter die Gesellschaft, die er bestiehlt, und spricht mit den Leuten über sich und seine Taten, was ihm eine tiefe Befriedigung und eine diabolische Freude verschafft. In diesem Punkt offenbart sich die narzisstische Persönlichkeitsstruktur Raffles, der sich von den ahnungslosen Opfern selbst die nötige Bestätigung seiner Genialität holen will. So fühlt er sich natürlich auch geschmeichelt, als im Kriminalmuseum von Scotland Yard die „Reliquien“ seiner Verbrecherkarriere ausgestellt werden. Raffles lässt es sich nicht nehmen, in Begleitung eines Polizisten die Stücke selbst anzusehen, um sie dann aus dem Museum zu entwenden. Doch Raffles Wagemut wird ihm eines Tages zum Verhängnis: Er wird fast gefasst, was ihn zwingt, seine Identität zu ändern und fortan als moribunder Herr Maturin eine Deckexistenz zu fristen. Unter dieser Maskerade wird er aber nicht nur von Bunny entdeckt, sondern auch von einer alten Geliebten entlarvt, was ihn wiederum nötigt unterzutauchen, diesmal indem er seinen eigenen Tod vortäuscht. Und es wäre nicht Raffles, wenn er sich nicht heimlich unter die Trauergäste gemischt hätte, um seinem eigenen Begräbnis beizuwohnen.

Montag, 22. Mai 2017

Gerold Späth: Stimmgänge (1972)

In Stimmgänge macht Gerold Späth den Orgelbau, das traditionsreiche Metier seiner Familie, zum Thema einer gargantuesken Lebensgeschichte. Noch heute steht die Marke Späth für Qualitätsorgeln. Im Roman wird sie, nebst zahlreichen anderen, auch beiläufig, aber an zentraler Stelle erwähnt, nämlich dort, wo in der Kirche St. Bombast alle Orgelpfeifen in einer wilden Kakophonie losdröhnen: „Sauer, Seuffert, Silbermann, Slegel, Späth, Schweimb, Riepp und Gabler haben einander, auf einmal höllisch aufbrüllend, an der Gurgel und gehen – wie das in dem Kunsthandwerk üblich ist – alle zusammen wie der Teufel auf den Hasslocher los“. Das „hornt“ dann nicht nur „wie vor Jericho“, sondern bringt in der Tat die Kuppel der Kirche zum Einsturz, so dass der Fuß des genannten Hasslocher unter den niederfallenden Steinmassen zerquetscht wird.

Dieser zertrümmerte Fuß setzt nun das ganze Erzählwerk in Gang. Denn Jakob Hasslocher, der Protagonist und Erzähler, verkürzt sich den Aufenthalt im Spital mit der Niederschrift seiner Lebensgeschichte. Adressiert sind seine Aufzeichnungen an Haydée, seine ehemalige Geliebte und Ehefrau, von ihm mehrmals als „ewiges Mädchen“ apostrophiert, da sie in der Tat eine Art Urweib verkörpert. Jedenfalls handelt es sich um eine der merkwürdigsten Frauenfiguren der Weltliteratur: eine wahrhaft männerverschlingende Femme fatale, die ihre Opfer während des Beischlafs aussaugt und vaginal vertilgt. Eine menschliche Venusfliegenfalle, die mit jedem einverleibten Opfer ein noch stärkeres Odeur verströmt, das die Männer reihenweise anlockt und um den Verstand bringt, Hasslocher nutzt die unbändige Libido seiner Frau, um daraus Kapital zu schlagen, indem er ihr auf der gemeinsamen Hochzeitsreise regelmäßig Freier zuführt, die dann gegen gutes Geld im gierigen Schlund ihres Unterleibs verschwinden.

Zu diesem Schritt nötigt ihn das Testament seiner verstorbenen Großmutter, die ebenfalls ein monströses Urweib war und die halbe Sippschaft auf dem Gewissen hat. Auch für ihren Enkel hat sie sich über den Tod hinaus einen bösen Scherz ausgedacht. Gemäß der testamentarischen Verfügung kann Hasslocher sein Erbe erst antreten, wenn er eine Million beisammen hat. Immer wieder erscheint ihm die tote Großmutter und drängt ihn dazu, nicht länger auf der faulen Haut zu liegen und die Million endlich aufzutreiben. Mit dem Orgelhandwerk allein ist das kaum zu meistern, auch wenn er davon träumt, eine Orgel der Superlative zu bauen. Durch ein traumatisches Ereignis im Wald – Hasslocher gerät mitten in eine unkontrollierte Schießübung des Militärs – verschlägt es ihm zudem die Sprache. Seither ist er stumm, was mitunter auch ein unerwünschtes Erbe seiner Großmutter sein dürfte, die durch ein herrisches „Halt's Maul“ die anderen zum Schweigen verdammte und so aus Hasslochers Vater einen „Murmler“ machte.

Unter diesen Voraussetzungen – mit der toten Großmutter im Nacken, einem Kropf im Hals und der Vision einer Superorgel vor Augen – schlägt sich der junge Hasslocher auf seinen Stimmgängen durchs Leben, bis er schließlich seine eigene Stimme wieder findet und – gefördert durch den dubiosen Mäzen Jean de Blégrangers – zu einem renommierten Orgelbauer wird, der die verrücktesten Modelle entwirft. Ein Anhang zum Buch verzeichnet alle realisierten und nicht-realisierten Orgelprojekte von Hasslocher. Nur die Sache mit dem Testament erweist sich letztlich als Jux: die Großmutter hat ihren Enkel vollkommen vergebens angestachelt, denn ein lohnenswertes Erbe hat sie gar nicht vorzuweisen. So geht Hasslocher am Ende zwar leer aus, hat dafür allerhand Abenteuer erlebt. Die „Stimmgänge“ stehen deshalb auch metaphorisch für die zahlreichen, mitunter arg abschweifenden Episoden und Geschichten. Andererseits gibt Hasslocher auch an, er wolle sein Erzählung wie eine Orgel mit allen möglichen Ober-, Unter- und Zwischentönen orchestrieren. Das ist eine indirekte Einladung, die Romanarchitektur mit den eingeschalteten Konstruktionsplänen des komplexen Rudwieser Orgelwerks zu vergleichen. Am Ende liegt mit den Stimmgängen eine papierne Version der von Hasslocher erstrebten Wunderorgel vor.

Jedenfalls stellen die Stimmgänge einen Wälzer von epischem Ausmass dar, der alle Register zieht. Wie schon der Vorgänger Unschlecht, in dem der Orgelbauer Jakob Hasslocher als Nebenfigur bereits einen kurzen Auftritt hat, besticht auch der Zweitling des Autors durch eine archaische Sprachgewalt, eine derbe Komik und eine funkensprühende Fabulierfreude. Mitten in der postulierten Krise des Erzählens der Nachkriegszeit belebte Späth, in der Folge von Günter Grass, die Literatur mit neobarocken Romanungetümen, die alle Grenzen sprengen und ihre Herkunft aus der Tradition des Schelmenromans nicht verleugnen können. Narren und Schelme treten in der Literatur häufig auf, wenn es gilt der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. So sehen sich auch Späths naiv-gewiefte Helden wie weiland Simplicissimus einer bigotten und korrupten Gesellschaft ausgesetzt, der sie aber - zu ihrem eigenen Vorteil - mit List und Tücke begegnen. Nicht von ungefähr heißt Hasslocher Jakob mit Vornamen und sollte eigentlich auf den Namen Simon getauft werden: „Jakob der Listige und Simon der Erhörte“. Durch List zu Ruhm, so könnte verkürzt der Verlauf der Stimmgänge zusammengefasst werden.

Neben barocken Anleihen, beerbt der Roman auch seine modernen Vorläufer. So sind Kapitelüberschriften wie „Erstes fruchtiges Kopf- und Hinterstück“ ganz offensichtlich von Jean Pauls Blumen- und Fruchtstücken aus dem Siebenkäs inspiriert, während die Stimmgänge insgesamt auf der Folie von Melvilles Moby Dick komponiert sind. Wie dort das Buch mit dem berühmten Auftakt, den von einem Hilfsunterbibliothekar zusammengetragenen Exzerpten aus der gesamten Walfischliteratur, einsetzt, so beginnt auch Späths Roman mit einer mehrseitigen Reihe von Zitaten zur Orgel. Die Orgel – insbesondere die Vision einer Wunderorgel – bedeutet für Hasslocher somit, was der weiße Wal für Kapitän Ahab darstellt: eine gefährliche Obsession. Ahab und Hasslocher sind Verwandte im Geiste. Nicht von ungefähr hat ihre Leidenschaft beiden eine Prothese eingebracht: Der Wal biss Ahab das Bein ab, und der Orgelklang zertrümmerte Hasslochers Fuß. So bekennt er zum Schluss auch: „ich habe einen Bockfuss zu verstecken [...] es ist, hier haben Sie's: meine hasslochische Besessenheit“.

Dass beiläufig doch noch von einem echten Walfisch in den Stimmgängen die Rede ist, bildet die heimliche Pointe dieser literarisch durchtriebenen Tour de force. In einem erzähltechnisch herausragenden Kapitel, das verschiedene Geräusch- und Gesprächsebenen polyphon miteinander verfugt und außerdem noch typographisch mit einer semimimetischen Wiedergabe der Klangstruktur experimentiert, erzählt ein mitgenommener Tramper und „monströser Schwätzer“ während der Autofahrt von einem gestrandeten Walfisch, einem „Monstrum“ und „Riesentier“, dessen Speck er stückweise verkauft habe, bis das Tier ganz grauenhaft zu stinken begonnen habe und er den Kadaver in Formalin legen musste. - Das ist nur eine von vielen, scheinbar zusammenhangslosen Episoden, in die der Roman zu zerfallen droht. Doch zum einen besitzen solche Binnengeschichten hintergründig - wie hier mit dem Walfisch - eine symbolische Funktion für die Gesamterzählung; andererseits weisen sie strukturell auch auf die folgenden Werke von Späth voraus wie etwa Commedia oder Sindbandland, die dann zugunsten narrativer Mikrozellen gänzlich auf einen durchgehenden Handlungsbogen verzichten.

Dienstag, 2. Mai 2017

Albert Drach: Unsentimentale Reise (1966)

Eine jüdische Exilgeschichte als Abenteuer- und Schelmenroman: Ist das moralisch vertretbar, selbst wenn sie vom Betroffenen selbst erzählt wird? Aber weshalb soll man sich noch um narrative Angemessenheit und Gattungsgesetze kümmern, wenn die Welt ohnehin aus den Fugen geraten ist? So heißt es auch ziemlich zu Beginn schon: „Was anders ist, das ist, daß ich das Leben nicht mehr so ernst nehme, seit ich weiß, daß ich das die Gesetze aufgehoben sind, die es schützen.“ Zudem handelt es sich um eine unsentimentale Erzählung, die weder auf Mitleid pocht noch solches vom Leser einfordert. Der Titel ist eine Anspielung auf Laurence Sternes Sentimental Journey (1768), die im Deutschland des 18. Jahrhunderts einen veritablen Gefühlskult hervorgerufen und ein ganzes Genre der launigen Erzählweise begründet hat (tatsächlich wurde das engl. sentimental oft mit launig übersetzt). Von diesem heiter-melancholischen Ton distanziert sich Drach jedoch explizit und wählt stattdessen eine „unsentimentale“ Erzählweise, die von einem sarkastischen bis defätistischen Humor getragen ist, der sich mitunter auch gegen das erzählende Ich selbst richtet. Es weiß, dass er sich auf einer unsentimentalen Reise befindet, die falls sie überhaupt jemals endet, nur letal enden kann: „Sofern sie ein Ziel hat, ist es das, wohin ich nicht will, wohin man einen bringt und wo die Reise nicht mehr weitergeht.“

Geschildert wird aus der Ich-Perspektive die prekären Lebenumstände im französischen Exil des österreichischen Juden Peter Kucku (bzw. Pierre Coucou), der ein leicht dechiffrierbares Alter Ego des Autor ist (er gibt sich an einer Stelle sogar als Verfasser von Albert Drachs Großem Protokoll gegen Zwetschkenbaum zu erkennen). Das Buch ist in drei Teile gegliedert, wobei der letzte fast die Hälfte des gesamten Umfangs einnimmt und eine für den episodischen Schelmenromans typische Fülle an Personal und Handlungssequenzen umfasst, weshalb hier der Inhalt nur sehr raffend wiedergegeben werden kann. Der erste Teil dreht sich um die Deportation und die Internierung im Zwischenlager von Rives Altes, aus dem Coucou zusammen mit anderen Inhaftieren durch eine glückliche Fügung wieder entlassen wird. Ohnehin versucht Coucou mit allen Mitteln, den Nazis zu entkommen, auf die er eine ungeheure Wut hat, die sich einmal in einer fulminanten Hasstirade auf Hitler entlädt, dem „'Mann' genannten Hämling, der selbst nicht genau weiß, aus welchem Schleim seine eigene Rasse kommt“. Aus diesem „Zorn“ erwächst ein fast trotziger „Entschluß zu leben“ und den Faschisten zu entkommen. Zu diesem Zweck lässt sich Coucou durch eine Schummelei von der französischen Regierung einen Attest ausstellen, dass er kein Jude sei, indem er das Kürzel I.K.G. (für Israelische Kultusgemeinde) auf seinem Heimatschein durch eine Notlüge zur Formel „Im Katholischen Glauben“ uminterpretiert.

Der zweite Teil spielt mehrheitlich in Nizza, wo sich Coucuo nach seiner Entlassung aus dem Lager eine gesicherte Existenz verschaffen will und dabei mit verschiedenen Leuten in Kontakt tritt, um an Geld, Unterkunft und Essen zu kommen. Er fühlt sich einigermaßen in Sicherheit, da Nizza von den Italiener besetzt ist, doch dauert es nicht lange und die Gestapo reißt die Stadt an sich, weshalb Coucou wieder fliehen muss. Auf Rat einer irren Baronin fährt er mit dem Autobus in das Gebirgsdorf Caminflour La Commune in den Meeralpen, wo ihm die englische Familie Withorse („Witzpferd“) als Kontakt empfohlen wird (ob da eine Anspielung auf das hobby-horse und den sprunghaften Witz bei Sterne vorliegt, geht nicht eindeutig hervor). Der dritte Teil ist dem Aufenthalt in diesem Ort gewidmet, den Coucou mit merkwürdigen Bekanntschaften wie den Withorse oder dem germanophilen Dichter Lebleu verbringt, aber auch in ständiger Angst, entdeckt zu werden, sowie permanenten Geldsorgen. Erst als am Ende die Alliierten nicht zuletzt dank seiner Intervention einfahren, entschärft sich die Lage, wenngleich sie sich auch nicht normalisiert. Die Gefahr durch die Nazis weicht jetzt dem schlechten Gewissen, das den Entkommenen als raunende innere Stimme von Dr. Honigmann begleitet, der mit Coucou deportiert worden ist, im Unterschied zu ihm aber den Tod in der Gaskammer fand.

Doch Fragen der Moral gelten in diesen Zeit nicht, in der Freund und Feind nicht mehr klar zu trennen sind, in der Juden ihre Mitbrüder verraten, um sich selbst das Leben zu retten oder gar wie im Falle des Separatisten Quierke zur Gestapo überlaufen. Letztlich ist niemandem mehr zu trauen und man ist ganz auf sich alleine gestellt. Mit dieser morale provisoire ausgestattet, kämpft Coucou um sein Dasein, ohne falsche Skrupel und Rücksicht auf Verluste. Aus diesem Grund beschleicht den Protagonisten, so sehr ihn auch der Entschluss zu leben motiviert hatte, allmählich das Gefühl, dass er sich von sich selbst entfremdet und längst schon den Toten angehört (am Schluss nimmt die Verszeile „Die Toten reiten schnell“ aus Gottfried August Bürgers berühmter Ballade Lenore dieses Motiv auf). Tatsächlich fristet Coucou weitgehend ein abgestorbenes, moribundes Dasein, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass er trotz starker erotomaner Neigungen gerade zu jungen Mädchen nicht mehr zum Beischlaf fähig ist, obwohl sich mehrfach die Gelegenheit bieten würde. Ein weiteres auffälliges Defizit ist sein schwaches Erinnerungsvermögen, weshalb er ständig Personen begegnet, die ihn sehr gut kennen, er sich auf Anhieb aber kaum an sie erinnern kann, denn: „Man vergißt viel auf einer unsentimentalen Reise.“

Drachs kompromissloser, tiefschwarzer, aber von einer wiederum fast selbstdestruktiven Frivolität geprägter „Bericht“ (so lautet die offizielle Gattungsbezeichnung) ist ein absolute Ausnahmeerscheinung in der Exil- wie in der Romanprosa überhaupt. Vergleichbar ist die ausufernde erzählerische Wucht eigentlich nur mit zwei anderen Romanen, die mit derselben humoristischen Abgeklärtheit gegen die selbsterfahrene Zwangslage im Exil anschreiben: zum einen Ulrich Bechers Murmeljagd (im Schweizerischen Graubünden) und Albert Vigoleis Thelens Die Insel des zweiten Gesichts (auf Mallorca). In allen drei Fällen meldet sich ein autofiktionaler Ich-Erzähler zu Wort, keck und tolldreist, der sich trotz widrigster Lebensumständen nicht kleinkriegen lässt, sondern sich im Gegenteil durch Witz, List und einer gehörigen Portion wildentschlossener Frechheit gegen das tumbe Gewaltregime zur Wehr setzt, ohne dabei in eine Heldenpose zu verfallen. Vielmehr handelt es sich auch bei Pierre Coucou um eine ganz und gar unheroische, bisweilen sogar tragische Figur, die allein ein wacher Sinn fürs Absurde vor der restlosen Verzweiflung bewahrt.

Freitag, 28. April 2017

H.P. Lovecraft: Cthullhu. Geistergeschichten (1972)

Das Lesefrüchtchen hat sich endlich ein Herz gefasst und alle Lektüren beiseite geschoben, um sich endlich dem Stapel der vergessenen Leckerbissen zu nähern. Aus Laune griff es zunächst zu H.P. Lovecraft, nicht zuletzt auch, weil die Übersetzung aus der Feder von H.C. Artmann stammt. Artmann, dieser grandiose Avantgarde-Autor und Liebhaber von Trivialgenres, hat Lovecraft für den deutschsprachigen Raum entdeckt, als er noch in niemandes Munde war. Heute gilt Lovecraft hingegen als Ikone der gehobenen Horror-Story und ist auch unter E-Literaten längst salonfähig geworden. Jedenfalls muss man sich in ihren Kreisen nicht schämen, wenn man Lovecraft liest – was eigentlich eher gegen als für den Autor spricht. Aber letztlich kann er für die intellektuelle Vereinnahmung nichts.

Lovecraft ist in erster Linie ein brillanter Techniker. Er schöpft aus dem Vollen, was die bizarren Abgründe der menschlichen Phantasie angeht. Seine Erzählungen sind weniger Orgien des Horrors als der Einbildungskraft. Er ist ein unermüdlicher Erfinder phantastischer und grauenerregender Szenarien, die er mit einer ungeheuerlichen Akribie und schier unermüdlichen Darstellungs schildert. Dabei sind die meisten Erzählungen gar nicht auf eine Wirkungsästhetik hin komponiert. Jedenfalls packt einem der beschriebenen Schauer selten. Das heißt: Die Geschichten sind, was sicher an ihrer analytischen Ausrichtung liegt, nicht per se schrecklich, sie beschreiben lediglich den Schrecken in all seinen perversen Abarten. Wenn Giorgio Manganelli im Vorwort Lovcraft als „Pornographen des Grauens“ betitelt, liegt er genau richtig. Wie de Sade in endlosen Variationen seine tableaus aneinanderreiht, so wiederholt auch Lovecraft seine Schilderungen des Schreckens bis zur Ekstase - oder Ermüdung.

Die Kurzgeschichten sind praktisch alle nach demselben Schema aufgebaut: Durch eine pseudodokumentarische Erzählweise wird eine authentische Nähe zu den geschilderten Ereignissen geschaffen, durch einen scheinbar kritischen Erzähler deren Glaubwürdigketi anfangs jedoch relativiert, obwohl von Anfang immer klar ist (was den Geschichten mitunter die Spannung nimmt): Wie unglaublich die Befürchtungen und Ahnungen auch anmuten, genau so (oder noch schlimmer) wird es am Ende auch eintreffen. Sodann wird der Erzähler nicht müde, das Entsetzen in allen nur erdenklichen Schattierungen auszumalen. Dann läuft er zur Höchstform auf. Für Lovecraft selber gilt deshalb, was er über den Maler Pickman in der ersten Erzählung des Bandes schreibt: „er schilderte mit eiskalter Überlegung eine wohlfundierte Welt des Horrors“ und ist mit dieser Methode ein „durch und durch genauer, ja fast wissenschaftlich vorgehender Realist.“ Hier zeigt sich die wahre Kreativität von Lovecraft: Seine Erzählungen sind veritable Vokabularien des Grauens, und machen sie wohl für Artmann als Übersetzer besonders interessant.

Doch offenbar erwies sich auch das Übersetzen des Horros als Grenzerfahrung. Zumindest waren die Wortfindungen so ausgesucht, dass sich nicht alle verlustfrei ins Deutsche übersetzen ließen. Das Adjektiv „ghoulish“ (engl. für gräulich, makaber) zumindest, das an mehreren Stellen auftaucht, muss Artmann trotz lexikalischer Hilfe unbekannt gewesen sein, verdeutsche er es doch schlicht – und irgendwie auch kongenial – in „ghoulisch“ (das auch in flektierter Form wie etwa in „das ghoulische Schweigen“ vorkommt) und schuf damit ein hapax legomena, das seither als Synonym für die teuflische, böse Seite der Menschheit weiterverwendet oder gar als diabolische Sprache angesehen wird. Ein produktives Missverständnis also, welches das Grauen in Form eines rätselhaften Worts in die deutsche Sprache importiert. Nichts ist unheimlicher, als was sich dem primären Verständnis entzieht.

Und genau nach diesem Prinzip funktionieren die Erzählungen von Lovecraft: Sie beschreiben jenen Moment, in dem das Irrationale in die Welt einbricht, wo sich der Schrecken in Form des absolut Unbegreiflichen, des Unausdenkbaren manifestiert, dass die Betroffenen vor Schreck entweder den Verstand verlieren, in irrsiniges Gelächter ausbrechen oder mit gebrochenen Blick dahinscheiden. Oft sind es grausige, absolut unhmane, gallert- und schleimartige Wesen aus den Urtiefen des Meeres, der Vergangenheit oder des Alls, welche schon lange vor der Menschheit existierten und nur darauf warten, diese wieder auszulöschen. Wie zum Beispiel der grosse Cthullhu, der zu Lovecrafts Privatmythologie gehört und auch in anderen Erzählungen wieder auftaucht, wie auch das berühmte gewordene Buch Necronomicon des wahnsinnigen Arabers Abdul Alhazred, das alle Zauberformeln enthält, um die bösartigen Kräfte zu erwecken.

Darin liegt wohl auch die anhaltende Faszination am Autor: dass er den Horror in der Buchkultur verankert und ihm dadurch als schriftlich tradiertes Erbe eine vermeintliche Genealogie verschafft. Lovecraft schreibt nicht einfach "Geistergeschichten", wie der Erzählband etwas unglücklich betitelt ist; vielmehr arbeitet er an einer vertiablen Kosmologie des Horrors und seiner klandestinen Überlieferung, die eigentlich nicht für menschliche Augen bestimmt ist.

Sonntag, 16. April 2017

Martin Kessel: Die Schwester des Don Quijote (1938)

Vom kulinarischen Verhalten entspricht das Lesefrüchtchen denjenigen, die sich vom Gemüse allmählich zum Filet hinfressen. Diese Eigenart bringt leider mit sich, dass die wirklich schmackhaften Stücke oft zugunsten leichter Kost liegen bleiben. Eben kürzlich hat das Lesefrüchtchen einen Stapel entdeckt, auf dem sich längst vergessene Leckerbissen sedimentiert haben: Samuel Beckett, Albert Drach, H.P. Lovercraft, Harry Mathews oder auch Thomas Kapieleskis Volumenroman Je dickens, destojewski. Statt sich aber endlich ans Eingemachte zu wagen, futtert sich das Lesefrüchtchen weiterhin durch Gelegenheitslektüren. So auch geschehen im jüngsten Fall: Obwohl der Großroman Herrn Brechers Fiasko von Martin Kessel im Visier war, wich es auf die viel schmalere Erzählung Die Schwester des Don Quijote aus. Aber immerhin: eine weitere Don Quijotiade.

Im Unterschied zur offenbar weitaus opulenteren Romanprosa Kessels handelt es sich bei der Geschichte um eine Künstlernovelle von fast klassischem Zuschnitt und formvollendeter Erzählkunst. Literarische Vorbilder sind unverkennbar Fontane und Thomas Mann, über den Kessel auch promoviert hatte. Wie Lothar Müller in seinem glänzenden Nachwort betont, fällt die Novelle merkwürdig aus der Zeit. Obwohl im modernen, motorisierten und elektrifizierten, Berlin spielend, verhandelt die Geschichte unter Ausschluss jeglicher zeithistorischer Bezüge den romantischen Konflikt des Künstlers zwischen Lebenswirklichkeit und Werkideal. Reminiszenzen an den Maler Frenhofer bei Balzac oder E.T.A Hoffmanns Johannes Kreisler werden wach, die auf existentielle Weise mit ihrem Kunstwerk verstrickt sind.

Im Zentrum der Erzählung steht denn auch ein Gemälde, dessen Sujet, wie es gleich zu Beginn heisst, „über den Rahmen hinausweist“ auf das dahinter liegende Schicksal. Das Bild trägt den Titel Die Schwester des Don Quijote und zeigt einen Frauenakt vor dem Spiegel, aus dem zwei markante Augen entgegenblicken. Sie gehören der neurasthenischen Salonschönheit Saskia Sorell, die für den Maler Schratt zum Inbegriff dessen wird, was er „die Dame“ nennt: eine im mondänen Verblendungszusammenhang lebende Gesellschaftsdame, die zum „Vexierbild ihrer Spiegelnatur“ wird. Kurz: Ein weiblicher Don Quijote der High Society. Die Antipode zur diesem Frauentypus ist die Haushälterin Agnes Veitzuch, ein neugieriges, linkisches Weibsbild, bei dem der Maler zur Untermiete wohnt. Zu beiden Frauen gerät der Maler in eine verhängnisvolle Abhängigkeit, die sich auch auf dem Gemälde manifestiert. Das Konterfrei der Veitzuch schleicht sich schemenhaft in den Hintergrund des Spiegelporträts und verdoppelt so die Spiegelung nochmals. Auch das natürlich ein zutiefst romantisches Motiv.

Lange Zeit scheint der Maler an diesem Gemälde zu scheitern. Zum einen hindert ihn die leidenschaftliche Zuneigung zu seinem koketten Modell an der Vollendung, zum anderen die vormundschaftliche Art der Haushälterin, die heimlich bereits Besitzansprüche an dem Bild anmeldet, in der Hoffnung, dass der baldige Erfolg des Künstlers sie für ihre Umtriebe entschädigen könne. So ist Schratt zwischen Begehren auf der einen und häuslicher Observation auf der anderen Seite gefangen. In einem dramatischen Akt entlädt sich sein Konflikt auf dem Gemälde, das ihm nicht gelingen will: Er zieht einen roten Querstrich mitten durch das gemalte Gesicht der Haushälterin im Hintergrund, die sich von der Exekution in effigie auch persönlich getroffen fühlt. Schliesslich triumphiert die Kunst aber über das Leben. Während die porträtierte Sorell in einer Nervenheilanstallt in Italien landet, verfällt die Veitzuch dem letalen Wahnsinn und haucht ihren letzten Odem in den Armen des konsternierten Künstlers aus.

Die Krise kündigte sich schon lange vorher an durch den Gestank von verbrannter Milch, der wie ein „milchig brenzliche[r] Trauer- und Begräbinisgeruch“ das ganze Haus durchströmte und „unvertreibbar“ schien. Von diesem unheilvollen Vorzeichen drängt das Geschehen immer stärker zum finalen Ereignis in der Silvesternacht, das für den Künstler zum Sieg der Kunst, für die beiden Porträtieren allerdings zum Verhängnis wird. Auf diese dramatische Weise ist seit den Konjunkturen der Romantik nicht mehr um die Kunst gerungen und gelitten worden. Wohl unfreiwillig bekommt die Erzählung dadurch einen fast parodistischen Zug. Mit dem Maler Theo Schratt aufersteht nochmals eine romantische Künstlerfigur, die sich im Kontext der Moderne und ihren zahlreichen Ismen (in der Erzählung durch die Kunstrichtung des „Trilogismus“ kurz anzitiert) bloß mit erheblichen Kollateralschäden behaupten kann. Selbst die geplante Italienfahrt, der klassische Topos der künstlerischen Bildungsreise, endet mit einer typischen Erfahrung der Moderne: mit einem Autounfall.

In dieser seiner ersten Autofahrt erlebt Schratt gewissermaßen auch die Ästhetik der Moderne, wie sie Tommaso Marinetti paradigmatisch im Manifest des Futurismus beschreibt – und zwar nicht zufällig auch am Beispiel einer rasanten Autofahrt. Der Rausch der Geschwindigkeit, wie sie die moderne Technik ermöglicht, soll auch in der Kunst zu neuen Wahrnehmungs- und Darstellungsformen führen. Mehr noch inszeniert Marinetti den Autounfall zu einem natalen Akt, aus dem der neue Mensch und seine radikal neue Ästhetik hervorgeht. Während der Fahrt lernt Schratt zwar auch den Rausch der Geschwindigkeit kennen, der ihn sogar in eine Art „Wachtraum“ versetzt. Er zieht daraus aber ebenso wenig ästhetische Konsequenzen wie aus der darauffolgenden Carambolage. Vielmehr wertet er ihn als geradezu schicksalhaftes Zeichen, das ihn wieder in die Fänge der Haushälterin zurückwirft.

Wohl auch deshalb, weil der Unfall just in dem Moment erfolgt, als ihm die Bedeutung des Hintergrundes generell, insbesondere aber die Hintergründigkeit seines Gemäldes klar wird. So setzt eben der romantische Künstler nicht sein eigenes Leben aufs Spiel, sondern ergötzt sich an der abstrakten Schönheit des Todes. Dieses romantische Ideal der schönen Leiche ist jedenfalls die Erkenntnis, die Schratt am Ende ereilt: „Leichnam und Schönheit“. Darin erblickt er die „Größe der Kunst“: „Denn nur, wer die Schönheit von Grund auf errichtet, aus Finsternis, Wollust und Sterngeäder der Nacht, nur der ist ihr Schöpfer.“ Besser hätte es auch Detlev Spinell, der große Verehrer der Todesschönheit, nicht formulieren können.