Das
Lesefrüchtchen gibt zu, dass es sich vom Titel der deutschen
Übersetzung dieses Thrillers hat verleiten lassen, der im gewissen
Mass eine Irreführung ist. Das englische Original heißt schlicht «A
philosophical Investigation» und handelt auch nicht von einem
Wittgenstein-, sondern von einem Lombroso-Programm, benannt nach dem
italienischen Arzt und Psychiater Cesare Lombrso, der im 19.
Jahrhundert kriminalpathologische Studien anstellte, um angeborene
Verbrecher (delinquente nato)
zu erkennen. Auf krimineller Früherkennung basiert auch das
Lombroso-Programm des im Jahr 2013 spieldenden Thrillers. Die
Handlung wurde also zwanzig Jahre in die Zukunft versetzt, wo es (à
la Minority Report) medizinisch möglich ist, Männer mit
potentiellem Gewaltpotential zu identifizieren und
Präventivmassnahmen einzuleiten. Ihre Daten werden in einem
Computersystem verwaltet, das jeder Person einen Decknamen aus der
Philosophie- oder Literaturgeschichte gibt.
Eine
davon bekam den Namen von Ludwig Wittgenstein, der - wie sich
herausstellen wird – nicht nur ein besonderes Mass an krimineller
Energie, sondern auch an technischem Know-how und kaltblütiger Logik
besitzt. Wittgenstein gelingt es, das Computersystem zu hacken und an
die echten Namen der Lombroso-Verdächtigen zu kommen, die er der
Reihe nach – durch sechs gezielte Schüsse mit einer
Luftdruckpistole in den Hinterkopf des Opfers – hinrichtet. So hat
Wittgenstein u.a. Darwin, Byron, Kant, Thomas von Aquin, Spinoza, Keats, Locke, Charles Dickens, Betrand Russell und René Descartes auf dem
Gewissen (nur bei Shakespeare gelingt es nicht, von diesem wird er verkloppt). Außerdem führt der Mörder eine Art Tagebuch, indem er – wie der
historische Wittgenstein – zwei Hefte, ein blaues und ein braunes, verwendet. Ohnehin erscheint der Mörder nachgerade als Double des
Philosophen, mit dem er nicht nur etliche körperliche und
biographische Ähnlichkeiten teilt, sondern darüber hinaus aus
Versatzstücken von Wittgensteins Werken ein logisch-philosophische
Begründung seiner Taten entwickelt.
Einer
der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhundert als Mörder?
Eigentlich eine reizvolle Ausgangslage. Nur ist die Umsetzung in
diesem Fall gar nicht gelungen, was nicht nur (aber auch) an der
ziemlich miesen Übersetzung liegt. Allein dass der Roman, der ein
beeindruckendes und aus heutiger Sicht auch ziemlich realitätsnahes
Zukunftsbild entwirft, im Basisplot mit einer absurden
Unwahrscheinlichkeit aufwartet, ist nur ärgerlich und stört das
Lesevergnügen empfindlich: Es leuchtet partout nicht ein, weshalb
ein willkürlich vom Computersystem als Wittgenstein benannter Kerl
tatsächlich ein Wiedergänger des berühmten Philosophen sein soll.
Das ist ein zu großer Zufall, als dass irgendwie glaubhaft wäre und
er wird auch in keinster Weise glaubhaft gemacht. Das ist die große Schwachstelle der Plotkonstruktion, die dummerweise zugleich der
zentrale Drehpunkt ist.
Auch
sonst besitzt die Geschichte ihre Schwächen und Längen. Die
philosophischen Ausführungen und der philosophische Disput, den
Wittgenstein mit der Ermittlerin führt, sind nicht wirklich
herausfordernd oder kühn, eher langweilig, auch wenn Thomas de
Quincey und seine Gesellschaft der Connoisseure des Mords mit ihrem
Interesse am perfekten Mord bemüht wird. Die Kommissarin bleibt als Gegenspielerin ihrerseits blass. Fast schon klischeehaft ist
es, wie sie im Verlauf der Ermittlungen immer stärkere Faszination
für den Mörder empfindet (dessen Ödipus-Komplex strukturell mit ihrem Vater- und Männerhass korrespondiert). Die Idee, dass hier
eine junge, traumatisierte Detektivin in ein gefährliches
Double-Bind mit einem intellektuell überlegenen Verbrecher gerät,
ist allzu deutlich auf der Folie von Thomas Harris' Schweigen
der Lämmer entworfen. Das Klischee
kippt schließlich in puren Kitsch, wenn die Ermittlerin am Schluss
echte Sympathie für Wittgenstein empfindet und ihm sogar eine Blume
in die Strafanstalt vorbei bringt, bevor er dort für zwanzig Jahre
ins «Strafkoma» versetzt wird, welches im Jahr 2013 als angeblich humaneres Strafmaß die Todesstrafe abgelöst hat.
Trotzdem
hat der Roman den deutschen Krimipreis von 1995 gewonnen. Wie beim
Wein sind wohl auch dort nicht alle Jahrgänge gleich gut.