Sonntag, 26. April 2020

Philip Kerr: Das Wittgenstein-Programm (1992)


Das Lesefrüchtchen gibt zu, dass es sich vom Titel der deutschen Übersetzung dieses Thrillers hat verleiten lassen, der im gewissen Mass eine Irreführung ist. Das englische Original heißt schlicht «A philosophical Investigation» und handelt auch nicht von einem Wittgenstein-, sondern von einem Lombroso-Programm, benannt nach dem italienischen Arzt und Psychiater Cesare Lombrso, der im 19. Jahrhundert kriminalpathologische Studien anstellte, um angeborene Verbrecher (delinquente nato) zu erkennen. Auf krimineller Früherkennung basiert auch das Lombroso-Programm des im Jahr 2013 spieldenden Thrillers. Die Handlung wurde also zwanzig Jahre in die Zukunft versetzt, wo es (à la Minority Report) medizinisch möglich ist, Männer mit potentiellem Gewaltpotential zu identifizieren und Präventivmassnahmen einzuleiten. Ihre Daten werden in einem Computersystem verwaltet, das jeder Person einen Decknamen aus der Philosophie- oder Literaturgeschichte gibt.

Eine davon bekam den Namen von Ludwig Wittgenstein, der - wie sich herausstellen wird – nicht nur ein besonderes Mass an krimineller Energie, sondern auch an technischem Know-how und kaltblütiger Logik besitzt. Wittgenstein gelingt es, das Computersystem zu hacken und an die echten Namen der Lombroso-Verdächtigen zu kommen, die er der Reihe nach – durch sechs gezielte Schüsse mit einer Luftdruckpistole in den Hinterkopf des Opfers – hinrichtet. So hat Wittgenstein u.a. Darwin, Byron, Kant, Thomas von Aquin, Spinoza, Keats, Locke, Charles Dickens, Betrand Russell und René Descartes auf dem Gewissen (nur bei Shakespeare gelingt es nicht, von diesem wird er verkloppt). Außerdem führt der Mörder eine Art Tagebuch, indem er – wie der historische Wittgenstein – zwei Hefte, ein blaues und ein braunes, verwendet. Ohnehin erscheint der Mörder nachgerade als Double des Philosophen, mit dem er nicht nur etliche körperliche und biographische Ähnlichkeiten teilt, sondern darüber hinaus aus Versatzstücken von Wittgensteins Werken ein logisch-philosophische Begründung seiner Taten entwickelt.

Einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhundert als Mörder? Eigentlich eine reizvolle Ausgangslage. Nur ist die Umsetzung in diesem Fall gar nicht gelungen, was nicht nur (aber auch) an der ziemlich miesen Übersetzung liegt. Allein dass der Roman, der ein beeindruckendes und aus heutiger Sicht auch ziemlich realitätsnahes Zukunftsbild entwirft, im Basisplot mit einer absurden Unwahrscheinlichkeit aufwartet, ist nur ärgerlich und stört das Lesevergnügen empfindlich: Es leuchtet partout nicht ein, weshalb ein willkürlich vom Computersystem als Wittgenstein benannter Kerl tatsächlich ein Wiedergänger des berühmten Philosophen sein soll. Das ist ein zu großer Zufall, als dass irgendwie glaubhaft wäre und er wird auch in keinster Weise glaubhaft gemacht. Das ist die große Schwachstelle der Plotkonstruktion, die dummerweise zugleich der zentrale Drehpunkt ist.

Auch sonst besitzt die Geschichte ihre Schwächen und Längen. Die philosophischen Ausführungen und der philosophische Disput, den Wittgenstein mit der Ermittlerin führt, sind nicht wirklich herausfordernd oder kühn, eher langweilig, auch wenn Thomas de Quincey und seine Gesellschaft der Connoisseure des Mords mit ihrem Interesse am perfekten Mord bemüht wird. Die Kommissarin bleibt als Gegenspielerin ihrerseits blass. Fast schon klischeehaft ist es, wie sie im Verlauf der Ermittlungen immer stärkere Faszination für den Mörder empfindet (dessen Ödipus-Komplex strukturell mit ihrem Vater- und Männerhass korrespondiert). Die Idee, dass hier eine junge, traumatisierte Detektivin in ein gefährliches Double-Bind mit einem intellektuell überlegenen Verbrecher gerät, ist allzu deutlich auf der Folie von Thomas Harris' Schweigen der Lämmer entworfen. Das Klischee kippt schließlich in puren Kitsch, wenn die Ermittlerin am Schluss echte Sympathie für Wittgenstein empfindet und ihm sogar eine Blume in die Strafanstalt vorbei bringt, bevor er dort für zwanzig Jahre ins «Strafkoma» versetzt wird, welches im Jahr 2013 als angeblich humaneres Strafmaß die Todesstrafe abgelöst hat.

Trotzdem hat der Roman den deutschen Krimipreis von 1995 gewonnen. Wie beim Wein sind wohl auch dort nicht alle Jahrgänge gleich gut.

Montag, 20. April 2020

Machado de Assis: Der Irrenarzt (1881)


Der brasilianische Nationaldichter Machado de Assis hat über 170 (teilweise ganz kurze) Erzählungen geschrieben. Darunter gilt die längere Novelle Der Irrenarzt als ein besonderes Glanzstück. Sie handelt von Dr. Simão Bacamarte, einem Arzt und Wissenschaftler, der sich auf dem zerebralpathologischen „Gebiet der Psyche“ einen Namen machen will. Zu diesem Zweck lässt er in seinem Heimatstädtchen Itaguaí ein Irrenhaus (genannt das Grüne Haus) bauen, in dem er alle Wahnsinnigen internieren will, um sie zu studieren. Eine Idee, die bei den Einwohnern bloß Kopfschütteln hervorruft und sie an der mentalen Gesundheit des Arztes zweifeln lässt: «Schon der Einfall, die Geisteskranken alle zusammen in einem Haus unterbringen zu wollen, wurde als Anzeichen von Geistesgestörtheit angesehen». Diese schon früh in der Erzählung geäußerte Vermutung über den zweifelhaften Geisteszustandes des Irrenarztes ist dann tatsächlich die Pointe der ganzen Geschichte.

Doch bevor es zu dieser (Selbst-)Erkenntnis kommt, sperrt Bacamarte der Reihe nach alle Einwohner ins Grüne Haus, die bei ihm den Eindruck von Geistesgestörtheit hinterlassen. Und das sind nicht wenige. Denn die leitende Theorie des Arztes bestimmt die Vernunft als «das vollkommenste Gleichgewicht aller Fähigkeiten»; alles was dem widerspricht, deutet auf Wahnsinn hin. Nur die kleinste Inkonsequenz in der Handlung, die kleinste emotionale Laune reicht deshalb schon, die Betroffenen als wahnsinnig zu erklären und wegzusperren, bis am Ende «vier Fünftel der Bevölkerung» im Grünen Haus interniert ist, das deshalb auch ständig erweitert werden muss. Angesichts dieses Missverhältnisses gelangt der Arzt zu einer diametral anderen Einsicht: Geistig krank ist offenbar, wessen Geisteskräfte stets im Einklang sind, während es als völlig normal zu erachten ist, wenn «verschiedene geistige Fähigkeiten nicht vollkommen ausgeglichen sind».

Neu bevölkern das Irrenhaus, das mehr und mehr zu einer verkehrten Welt wird, folgende Klassen von Geisteskranken: die Bescheidenen, die Toleranten, die Großmütigen, die Scharfsinnigen und die Aufrichtigen – kurz alle, die sich durch eine vollkommenen seelische Ausgeglichenheit auszeichnen. Bacamarte bemüht sich jedoch ernsthaft, die Patienten zu kurieren, wobei die Therapie vorsieht, sie von ihren guten Eigenschaften zu befreien. Dem Bescheidenen wird die Eitelkeit entlockt, der Aufrichtige zum Lügen gebracht usw. usf., bis alle Insassen geheilt sind. Diese Leistung führt Bacamarte schließlich zur finalen Erkenntnis, «zu der allerletzten Wahrheit», dass es keine Geisteskranken in Itaguaí gebe, weil alle irgendeinen Fehler haben. Außer bei sich kann der Irrenarzt keinen Fehler, kein einziges Laster feststellen, was ihm von seinem Umfeld auch bestätigt wird und ihn schließlich zur konsequenten Einsicht führt, dass er offenbar selbst wahnsinnig sein muss.

Er begibt sich deshalb freiwillig ins Grüne Haus, als einziges Exemplum seiner Theorie. Was also alle geahnt haben, hat Bacamarte letztlich selber erkannt: Er ist kein Irrenarzt, sondern ein irrer Arzt. Seine Selbsterkenntnis ist jedoch trügerisch, denn sie kommt nicht durch eine vernünftige Diagnose, sondern durch eine verquere Theorie zustande, welche die geistige Ausgeglichenheit gerade zum Wahnsinn erklärt. Einerseits hält sich Bacamarte also für geistig völlig gesund, was für ihn aber ein pathologischer Zustand darstellt, weshalb er sich selbst ins Irrenhaus bringt, was für die geistig Gesunden nichts anderes als eine Wahnsinnstat erscheinen muss. So macht ihn eigentlich erst dieser von außen unverständliche Schritt, sein freiwilliger Eintritt ins Grüne Haus, offiziell zum Irren. Hier zeigt sich die subtile Konstruktion von Machados Erzählung, die mehrfach dreht und wendet, was als normal und was als verrückt zu gelten hat.

Typisch für Machado de Assis ist der nüchterne, fast spröde Stil, wie ihn später auch die Prosa von Jorge Luis Borges auszeichnet. Im Kontrast zur Absurdität der Geschichte schafft diese nüchterne Erzählhaltung eine gewisse Komik. Etwa wenn Bacamarte durchwegs als bedeutendster Arzt Brasiliens vorgestellt wird, obwohl ihn die Handlung fortlaufend als weltfremden Mad Scientist vorführt, der aufgrund seiner obsessiven Beschäftigung mit der Zerebralpathologie selbst wahnsinnig wird. Zwischen den Zeilen zeigt sich zudem eine trockene Ironie, die nicht ohne spöttischen Unterton auskommt: «Eine Perücke bedeckte den gewaltigen noblen Kahlkopf, den er in langjähriger wissenschaftlicher Denkarbeit erworben hatte.»

Dienstag, 14. April 2020

Kenneth Patchen: Erinnerungen eines schüchternen Pornographen (1945)


Es gibt Bücher, von denen weiß man, bevor man sie liest, dass sie zum Kreis der Lieblingsbücher gehören werden. Man wird beim Lesen von keiner Zeile enttäuscht werden. Bei Kenneth Patchen war das so, dessen schräger Roman am Ende des Zweiten Weltkriegs erschienen ist. Hitler wird darin zweimal eher spöttisch erwähnt, ansonsten spielt der zeitgeschichtliche Hintergrund kaum eine Rolle. Auch handelt es sich, anders als der Titel vermuten lassen könnte, nicht um einen pornographischen Roman, sondern um eine ziemliche skurrile (Liebes-)Geschichte, die streckenweise eine absurde Komik entwickelt, wie man sie aus Blödelstreifen wie Naked Gun kennt.

Die Komik liegt jedoch nicht nur in der Skurrilität, sondern in der Erzählperspektive, die aus der Sicht des Protagonisten Albert Budd erfolgt, der ein sehr naiver junger Mann ist und vieles nicht wirklich versteht, was um ihn vor sich geht – und deshalb vollkommen unwissend zum Porno-Schriftsteller wird, als er sein Buchmanuskript zwei dubiosen Agenten übergibt, die es unter anderem Titel als pornographischen Roman verkaufen, indem sie zahlreiche Auslassungspunkte und Ausrufezeichen setzen, hinter denen die Leser anzügliche Stellen vermuten. Solche schein-zensierten Stellen finden sich über einige Seiten auch im Roman selber, als Albert bei einer Cocktail-Party von weiblichen Fans im Schlafzimmer verführt wird. Es handelt sich dabei auch um eine Parodie auf die amerikanische Prüderie und deren Zensurwesen.

Die komische Naivität von Albert, der seltsam lebensfremd agiert, kommt bei einem Dialog auf der Party gut zum Ausdruck:

Was tun Sie denn so?“ fragte mich die junge Dame.
Ich versuchte verzweifelt, mich daran zu erinnern, wie Mein Agent das Buch genannt hatte. Das Wort stand nicht in meinem Lexikon – ein ziemliches langes . . .
Dann fiel es mir ein.
Ich schreibe Pornographie.“

Doch Albert ist nicht nur naiv, er besitzt eine Phantasietätigkeit und ein genuiner Glaube, der nicht gerade Berge versetzen, aber doch Rehböcke hervorzaubern und seine verkrüppelte Freundin wieder zum Gehen bringen kann. Die Liebesgeschichte zwischen Albert und der an den Rollstuhl gefesselte Priscilla markiert ein Gegengewicht zur den ansonsten ziemlich durchgeknallten Ereignissen. Es gibt einige sehr berührende Szenen, etwa diejenige, wo sich beide vor einem heftigen Regenguss in eine Höhle flüchten und ihre Kleider über dem Feuer trocknen. Aber auch hier zeigt sich in doppeltem Wortsinn die Unschuld und Naivität Budds, der die Avancen seiner Freundin zwar alle registriert, aber nicht darauf reagiert.

Die Liebe findet schließlich ihre Erfüllung im Himmel. Beide sterben und verbringen als Engel in alle Ewigkeit „einen glücklichen Tod“. Dieser Schluss knüpft an ein philosophisches Gespräch zwischen Priscilla und Albert an, der die Ansicht äußert, dass der Mensch zu unrecht daran glaube, dass „zuerst das Leben und dann das Totsein“ komme. Viel logischer scheint ihm der Glaube, „daß am Anfang der Tod steht – und daß wir dann zum Leben erwachen“. Der Schluss des Romans widerlegt dieser Auffassung zugleich und gibt ihr doch Recht, indem das Paar zwar tot ist, aber als Engel doch weiterlebt. Das wirft die Frage auf, ob das Dasein auf Erden bloß ein Sterben für ein späteres ewiges Leben ist.

Neben dieser philosophischen Sequenz enthält das Buch zudem ein flammendes pazifistisches Plädoyer, das zwar Albert in den Mund gelegt wird, wohl aber Patchens eigene Ansichten wiedergibt. Patchen, der ein wichtiger Anreger der Beat-Bewegung war und mit Lawrence Ferlinghetti und Allen Ginsberg zu den „Rebel Poets“ zählte, neigte politisch zum Pazifismus und Anarchismus. Erfüllt vom Zorn der Gerechtigkeit spricht sich Albert deutlich gegen jede Form von Habgier und Gewalt aus: „Es gibt kein Brot außer dem Brot, das deinen geringsten Nächsten nährt, keinen Besitz außer dem Besitz, den du mit ihm teilst, keine Heimstatt außer der Heimstatt, deren Türen sich freudig öffnen. Kriege und von Kriegen hinterlassene Pestbeulen werden fortbestehen, bis die Menschheit sich von dem Mord abwendet, der jeden Tag von jedermann verübt wird.“ Solche Sätze dürften noch unmittelbar unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs geschrieben worden sein.

Daneben besticht der Roman durch eine Reihe verrückter Einfälle, z.B. die Erfindung einer Maschine, die auf Knopfdruck Bücher und gleich auch die dazu gehörigen Rezensionen erfasst, oder eine Liste von essentiellen Jazz-Stücken, von denen aber die Hälfte frei erfunden ist und die so verheißungsvolle Namen tragen wie „Lazy Daddy, Dat Street Car's Comin' 'Long von Big Rabbit Garys Plantation Boys“ oder „Evil Turkey Blues von Midge St. Elglade's Happy Brass Deceivers“. Im Internet-Zeitalter lassen sich solche Hoaxes rasch entlarven; beim Erscheinen des Buchs dürfte aber so mancher Jazz-Fan seinen lokalen Plattenhändler zur Verzweiflung getrieben haben, als er sich nach diesen Nonsens-Bands erkundigte – umso mehr als Patchen im Roman direkt dazu auffordert: „Das hier sind die Disks, die Sie kaufen müssen, wenn Sie den Grundstein zu einer Jazzsammlung legen wollen [...] schreiben Sie auf.“

Sonntag, 12. April 2020

Walter Vogt: Der Vogel auf dem Tisch (1968)


Der Kurzroman handelt davon wie der Buchhandlungsgehilfen Johannes Lips in den Wahnsinn schlittert. Lips wird als Figur am Rande der Zeit und Gesellschaft vorgeführt, der sich vor allem mit Büchern umgibt, weshalb er von verschiedenen Seiten gemahnt wird, es mit dem Lesen nicht zu übertreiben. Es gab einmal einen Junker aus La Mancha, der ebenfalls durch übermäßiges Lesen den Verstand verloren hat. Tatsächlich ist Lips aber nachgerade eine papierne Existenz: ein Buch in Person, das aus lauter Zitaten besteht.

Da er sich ganz in seiner Gedankenwelt verliert, fühlt er sich länger je mehr von seinen „Gedankenvögeln“ bedroht. Vogt spielt an verschiedenen Stellen mit der umgangssprachlichen Redewendung „einen Vogel haben“ für den Zustand der Verrücktheit. Lips besitzt aber tatsächlich einen echten ausgestopften Vogel, der auf seinem Schreibtisch steht und ihn mit seinen Glasaugen anstarrt. (Und offenbar auch Schuldgefühle weckt, weil er dem Vogel früher mit seinen Schulkameraden den Kopf umgedreht hat.) Sinnigerweise handelt es sich um einen Seidenschwanz, der auch als „Sterbevogel“ bekannt sei: „Wer ihn sieht, muß sterben.“

Dieser Vogel kündet als steinerner Gast gewissermaßen bereits Lips Schicksal an, der sich von allen Vögeln des Naturhistorischen Museum verfolgt fühlend in der Aare ertränken will, aber gerettet wird und im Glauben, er sei der heilige Franziskus, ins Irrenhaus kommt, wo er nach einer Elektroschocktherapie - „vrdammggfäärlich – abrvrdammt humaan“ - wieder entlassen wird, sich darauf aber in der Dusche entleibt. Auch dieser Ort ist symbolisch, weil Lips unter einem permanenten Waschzwang leidet.

Schauplatz ist Bern, weshalb zahlreiche Einsprengsel in Dialekt vorkommen. Obwohl es sich um eine Erzählung mit tragischem Ende handelt, bleibt der Tonfall eher humoristisch bis grotesk. Zudem wechselt die Erzählstimme von einer auktorialen in eine Ich-Perspektive, womit vermutlich die schizoide Spaltung narrativ verdeutlicht werden soll. Auch temporal vollzieht die Erzählung eine Schlaufe, insofern der Rutsch in den Wahnsinn als Binnengeschichte erzählt wird, gerahmt vom Irrenhaus-Aufenthalt. Vielleicht handelt es sich auch nur um eine Rückerinnerung, des erzählenden Ich.

Speziell hervorzuheben ist außerdem die doppelte Mise-en-abyme, als Lips in der Auslage seiner Buchhandlung ein Buch mit demselben Titel „Ein Vogel auf dem Tisch“ im selben Verlag (Lukianos Verlag von Hans Erpf) und derselben Geschichte entdeckt und die Verkäuferin zudem exakt die Stelle im Buch lobt, die davon handelt, wie Lips das Buch über sich selbst entdeckt.

Montag, 22. Oktober 2018

Jörg Schröder (erzählt Ernst Herhaus): Siegfried (1972)


Bei Schöffling erscheint diesen Bücherherbst die Neuauflage eines Skandalbuchs, eines Skandalbuch-Klassikers sogar. Es ist – für den Verlag ungewöhnlich – knallgelb und mit fetten Lettern versehen wie man sie nur vom März-Verlag kennt. Denn es handelt sich um das Buch des März-Verlegers Jörg Schröder, mit dem er im Alter von 34 Jahren so ziemlich mit allen abrechnete, die ihm bislang über den Weg gekommen sind. Und das sind gerade im Kulturbereich nicht wenige, ging Schröder doch bei Kiepenheuer & Witsch in die Lehre, sanierte den maroden Melzer-Verlag, indem er Maurice Girodias Olympia Press an Land zog und mit Der Geschichte der O. einen großen Porno-Markterfolg verbuchen konnte, bis er sich schließlich von Melzer trennte und seinen eigenen März-Verlag gründete, der ein Gütesiegel für harte amerikanische Avantgarde und allerhand queere und schwule Literatur wurde, lange bevor das die universitären Orchideenfächer auch nur am Rande interessiert hätte.

Schröder ist ein cooler Hund und das spielt er in jeder Sekunde dieser Nacherzählung seines Lebens aus. Er hat stets den richtigen Riecher, den Durchblick, die wahre Intuition, während alle anderen um ihn herum Waschlappen und denkfaule Säcke oder einfach bereits von Betrieb verschleißte Figuren sind. Und auf Rang und Autorität pfeift er sowieso. Sein Credo: „Du kommst nur weiter, wenn du es systematisch mit Leuten verdirbst, von denen alle Welt glaubt, daß man es mit ihnen niemals verderben dürfte.“ Schröder ist zudem ein unverwüstlicher Kerl. Im gesamten Buch ist so viel von „Bumsen“, vom „Puff“ und vom „Saufen“ die Rede, dass man bass erstaunt ist, wie er scheinbar nebenher ein erstklassiges Verlagsprogramm auf die Beine stellen konnte. Aber Schröder ist eben immer auf Achse, selbst wenn er im Suff versinkt oder im Spital liegt, wo ihm beinahe ein Bein amputiert werden muss. Noch in dieser prekären Situation schmeißt er den Laden aus dem Krankenlager.

Neben dem mitunter etwas anstrengenden Großsprechertum besticht das Buch durch eine schonungslose Selbstentblößung. So gut wie Schröder gegen alle Seiten austeilen kann, so nimmt er auch sich betreffend kein Blatt vor den Mund. Keine Peinlichkeit oder Intimität lässt er aus, nur dass sie aus seinem Mund keineswegs wie Peinlichkeiten klingen, sondern eben auch Ausdruck des mit allen Wasser gewaschenen Lebemannes sind, der sich keiner falschen Scham bewusst ist. Ein harter Kerl halt, der dem Leben mehr als nur einmal die Stirn geboten hat. Dass Schröder erzählen kann, was er will, ohne dass es peinlich wirkt, liegt neben seinem Habitus auch an seinem brillanten Erzähltalent, seiner pointenreichen und oft auch derben Sprache, mit der er die Dinge beim Namen nennt. Hinzu kommt – neben einem offensichtlich ausgeprägten Selbstbewusstsein – auch eine starke analytische Fähigkeit und ein beneidenswertes Gedächtnis.

Vermutlich gehört es zur hypertrophen Rhetorik dazu, dass Schröder alles aus dem Gedächtnis (an den Schriftsteller Ernst Herhaus) erzählt, denn damit beweist er einmal mehr, dass ihm niemand das Wasser reichen kann. Jedes Detail, alle Zusammenhänge und Befindlichkeiten sind Schröder noch präsent und er versteht es, diese mit einem unbestechlichen Blick einzufangen und einem psychologisch feinem Gespür für situations- oder milieubedingte Faktoren. Es gibt keinen Charakter, den er nicht erbarungslos in seinen individuellen und sozialen Verstrickungen erkennen kann. Zum Beispiel den Standesdünkel des Verlegers Melzer: „Wie die meisten bürgerlichen Juden hatte auch Melzer einen Adelstic, da schmolzen ihm die Eier ab.“ – Hier paart sich grobe Diktion mit einer messerscharfen Beobachtungsgabe.

Siegfried – benannt nach Schröders Onkel – bietet großartige Unterhaltung (man ist mit Schröder immer auf der Seite des lachenden Siegers: insofern ist der Buchtitel sicher auch allegorisch zu lesen) und vor allem ein spannendes Stück Verlagsgeschichte, natürlich aus einer radikal subjektiven Perspektive, die in den wenigsten Fällen für bare Münze genommen werden darf. Das Buch neigt zum Literarischen, wie Schröder auch an einer Stelle erwähnt, dass er anfänglich selber Schriftsteller werden wollte. Darüber kann auch die Koketterie mit der Oral History nicht hinwegtäuschen, derzufolge das Buch mündlich Ernst Herhaus erzählt wurde, der dann alles niedergeschrieben habe. Was auf den ersten Blick wohl als Authentitzitätssignal fungieren soll, kann genauso gut als Herausgeberfiktion gewertet werden.

Samstag, 20. Oktober 2018

Luigi Malerba: König Ohneschuh (1997)


Dieser späte Roman des italienischen Neoavangaurdista Luigi Malerba erzählt Odysseus Rückkehr aus Ithaka alternierend aus der Perspektive Odysseus und seiner Gemahlin Penelope, die zwanzig Jahre auf diesen Moment wartete, während sie die Freier, die es auf Odysseus Thron abgesehen hatten, in Schach halten musste, indem sie – wie es im Mythos heißt – bei Nacht wieder auftrennte, was sie bei Tag wob. Sie gab vor, erst das Totentuch für ihren Schwiegervater Laertes weben zu müssen, bevor sie eine neue Bindung eingehen könne. Doch diese Masche ist über die Jahre längst durchsichtig geworden.

Malerba erzählt keine Geschichte der glücklichen Heimkehr, sondern der zunehmenden Entfremdung eines Liebespaars, das zu lange getrennt gewesen ist. Misstrauen, Argwohn, Enttäuschung und Bitterkeit erfassen wie schleichendes Gift beide Herzen, die sich eigentlich nichts sehnsüchtiger gewünscht haben als ihre Zusammenkunft. Penelope ist misstrauisch, weil Odysseus als Bettler verkleidet vor sie tritt, um die Freier zu überlisten. Odysseus wiederum ist enttäuscht, weil sie keine Reaktion zeigt, als er ihr in Gestalt des Bettlers Nachrichten über sich selbst überbringt.

Der fortlaufende Perspektivwechsel zwischen Odysseus und Penelopes Wahrnehmung erlaubt es Schritt für Schritt nachzuverfolgen, wie sich die beiden Protagonisten gegenseitig immer weiter in Missverständnisse und Fehleinschätzungen verstricken, die schließlich darin gipfeln, dass Penelope Odysseus selbst dann noch als Bettler behandelt, als er sich längst in seiner wahren Gestalt gezeigt und sich - unter Beweis seiner Identität - an den Freiern gerächt hat. Doch Penelopes verletzte Ehre ist zu groß, als dass sie ihm auf die Schnelle verzeihen könnte. Vor allem aber ist sie nachhaltig entsetzt, als sie mitansehen musste, wie Odysseus die Freier der Reihe nach abschlachtete und sich vor ihren Augen vom geliebten Menschen zur grausamen Bestie wandelte. Das ist in ihrer Schonungslosigkeit - das Blut fließt wie im besten Splatterfilm literweise - zugleich auch eine der stärksten Stellen des Romans.

Angeregt zu dieser Nacherzählung des alten Mythenstoffes wurde Malerba offenbar duch seine Frau, die in einem Gespräch über die Odyssee sagte, es sei doch höchst unglaubwürdig, dass Argos, der Hund, Odysseus erkannt haben soll, seine ihm über Jahre treu gewesene Ehefrau aber nicht. Das könne allein damit erklärt werden, dass Penelope bloß so tat, als würde sie ihn nicht erkennen, in Tat und Wahrheit die Verkleidung aber von Anbeginn durchschaut hatte. Auch weil sie den Hang ihres Mannes zur List und zur Lüge kennt. Eine Pointe des Romans ist es denn auch, dass Odysseus selbst der Verfasser der Odyssee sei, worin er seine Heldentaten mit viel Phantasie ausgeschmückt habe. Damit wäre auch die ewige Streitfrage der Philologen über Homers Identität endlich geklärt.

Schließlich erkennt sich das Liebespaar aber wieder. Odysseus gelobt, nie mehr von Ithaka, seinem Heim und Herd, wegzugehen und will zum Zeichen seines Ernstes, fortan keinen Schuh mehr anziehen. So gibt es zu guter Letzt doch noch ein Happy End, was im klassischen Mythos nicht immer so war. Der große Heros der Odyssee wird zum Pantoffelhelden, zum „König Ohneschuh“. - So erklärt sich auch der deutsche Titel des Romans. Im italienischen Original lautet der Titel Itaca per sempre (Für immer Ithaka), was viel poetischer und leichtfüssiger klingt als der holzschuhartige Versuch auf Deutsch.

Donnerstag, 18. Oktober 2018

Arthur Conan Doyle: Professor Challenger und das Ende der Welt (1913)


Aus der Feder von Arthur Conan Doyle stammt neben Sherlock Holmes auch eine Reihe weiterer literarischer Figuren, die allerdings nie dieselbe Berühmtheit erlangt haben wie der Meisterdetektiv aus der Baker Street 221b. Eine dieser Gestalten im Schatten des großen Ermittlers ist Professor Challenger, dem Doyle mehrere Erzählungen widmete. Während Holmes dank seiner analytischen Schärfe die Verbrechen und Rätsel des Alltags löst, ist Challenger für die ganz großen Abenteuer und Menschheitsrätsel zuständig. Bereits in der ersten Erzählung Lost World von 1912 entdeckte er eine prähistorische Landschaft mit Urzeitwesen (was später Vorbild für den Kassenschlager Jurassic Park) wurde, dann stieß er auf das versunkene Atlantis und schließlich er- und überlebte er in einer weiteren Erzählung auch das Ende der Welt.

Aufgrund von Veränderungen in der Atmosphäre prophezeit der streitbare Professor das baldige Ende der Welt. Zunächst wird er, auch von seinen Fachkollegen, verlacht, doch schon bald zeigen sich beunruhigende Symptome rund um die Welt. Die Luft wirkt wie ein Nervengift auf die Befindlichkeit des Menschen, die enorm reizbar, ausgelassen oder hysterisch werden – und zuletzt dann mangels Sauerstoff versterben. Mit Ausnahme einer kleinen Gruppe rund um Professor Challenger, der rechtzeitig zwei Sauerstofftanks organisieren kann, um sich in seinem Häuschen vor dem Ersticken zu retten.

Challenger referiert seine Theorie in einem Garten-Gleichnis: So wie ein Weinbauer seine Trauben mit Gift besprüht, um sie vor Bakterien zu schützen, so handle auch der „Große Gärtner“ im Universum: „Ich habe den Eindruck, daß unser Gärtner gerade im Begriff ist, das Sonnensystem zu desinfizieren und den menschlichen Bazillus, den sterblichen kleinen Winzling, der sich über die Erdkruste dahinbewegt, in einem einzigen Augenblick zu sterilisieren und auszuradieren.“ Dank Challengers Voraussicht überleben er und seine Entourage die Katastrophe, sehen sich dann aber mit einem vollkommenen ausgestorbenen Planeten konfrontiert. Überall wo sie hinkommen, ist das Leben erloschen; die Menschen liegen tot bei ihrem letzten Verrichtungen.

Die Pointe der Geschichte ist jedoch: Das vermeintliche Massensterben entpuppt sich bloß als weltweiter Dornröschenschlaf. Nach 28 Stunden wacht die gesamte Bevölkerung wieder aus einer tiefen Katatonie auf und setzt ihre Tätigkeiten fort, als sei nichts gewesen. Auch die aus dem Märchen bekannte Ohrfeige fehlt nicht: „Das Hausmädchen versetzt einem ihrer Schützlinge einen Klaps und schon den Kinderwagen weiter bergauf.“ Allein Professor Challenger und seine kleine Gruppe weiß um die verstrichene Zeit, die sonst niemandem aufgefallen wäre. Unbemerkt hat die Menschheit einen Tag lang mit dem Leben ausgesetzt. Und das ist für die Betroffenen ein Gedanke, der viel beunruhigender ist als ein endgültiges Ende der Welt.

Die Geschichte endet mit einem öffentlichen Appell, die überstandene Katastrophe als Memento Mori zu verstehen, um die eigene Lebensführung angesichts der kosmischen Übermacht devoter zu gestalten. Es ist vielleicht dieser moralinsaure Unterton, der die ohnehin ziemlich platte Geschichte zu einem billigen Gleichnis gerinnen lässt, weshalb Professor Challenger literaturhistorisch nicht denselben Rang einnimmt wie der ungleich zynischere Sherlock Holmes.