Dienstag, 25. November 2025

Lawrence Durrell: Nunquam (1970)

Diese Art von Literatur scheint dem Lesefrüchtchen etwas aus der Mode geraten zu sein. Wie soll man den Vorbehalt benennen? Es handelt sich um eine Art joviale Gentlemen-Literatur, bei der Süffisanz und Tiefsinn irgendwie Hand in Hand gehen, bei der das Geistreiche stets mit der Frivolität kokettiert und sich Erzähler wie Figuren als sexuell Freizügige gefallen. Letztlich handelt es sich um eine ausgedehnte Salon-Plauderei, die bei aller Bildungshuberei - viel Psychoanalytisches wird ventiliert - und stupenden Eloquenz doch relativ unausgewogen und ohne Fokus daherkommt. So sehr der Autor als Causeur auch brillieren will und mag, ein Gefühl als Storyteller besitzt er nicht. Bis die Geschichte Fahrt aufnimmt, vergeht viel zu lange Zeit, und dann steuert sie auch schon abrupt dem jähen Ende zu.

Das Lesefrüchtchen kam aufgrund der Frankenstein-Lektüre auf den Roman, da es auch hier um die Erschaffung eines künstlichen Menschen geht, genau genommen einer künstliche Frau, die anders als Frankensteins Monster alles andere als abweisend ist, sondern die perfekte, atemberaubende Nachbildung der zu früh verstorbenen Schauspielerin Iolanthe, kurz genannt Io. Nachdem er aus der Irrenanstalt entlassen wurde, erhält der Erfinder Felix Charlock vom impotenten Chef seiner alten Firma den Auftrag, der sich regelmässig mittels plastischer Chirurgie selbstoptimiert, einen Androiden herzustellen. Das Experiment gelingt "mechanisch so vollkommen" (303), dass sich nicht nur der Chef, sondern auch Felix schlagartig in das künstliche Wesen verlieben, auch wenn ihnen die Vorstellung "unheimlich" (304) ist, dass sich hinter dem perfekten Simulation nur eine Maschine verbirgt.

"Wir müssen uns davor hüten, eine zu grosse Zuneigung zu dem Ding zu fassen" (304), mahnt daher der Erfinder Charlock. Doch der Appell erweist sich als überflüssig, denn wie jeder künstliche Mensch so emanzipiert sich auch die "Nylon-Iolanthe" (131) von ihrem Schöpfer, entwickelt eine Eigenständigkeit und einen eigenen Willen und nimmt Reissaus. Doch anders als Frankenstein, der zum Opfer seiner eigenen Schöpfung wurde, verhält es sich hier - aus unmotivierten Gründen - umgekehrt und Charlock gibt seinem Geschöpf schliesslich den Gnadenstoss, nachdem er die ursprüngliche "Liebesmaschine" (203) als "eine verkommene Hure" (326) wiederentdeckt und einfangen will. Da gerät die Attrappe in Panik, es brennen ihr die Sicherungen durch und sie dreht "sich langsam um die eigene Achse", wie wenn "ein Motorrad mit noch laufender Maschine umfällt" (329).

Lawrence Durrell hat keine Roman geschrieben, sondern stets mehrbändige Roman-Zyklen. So auch hier: Nunquam ist der Nachfolgeband des Romans Tunc, weshalb es zu Beginn, nicht allein aufgrund der deliranten psychiatrischen Eingangsszene, etwas Zeit braucht, bis man sich in der Vorgeschichte zurechtfinden. Beide Romane stehen unter dem aus dem Satyricon entlehnten Motto: "Aut tunc aut nunquam". Wörtlich übersetzt: Dann oder niemals bzw. damals oder nie; im Roman selbst hingegen mit der geläufigeren Redewendung: Jetzt oder nie (72, 330). Was damit ausser der - bei Petron vorgeprägten - hedonistischen Lebenshaltung zum Ausdruck kommen soll, bleibt unklar, ausser dass es dem Autor die Gelegenheit zu zwei schlüpfrigen Anspielungen bietet: zu TUNC dem "kleinen Fruchtbarkeitsgott" (87) sowie zur anagrammatischen Verwandlung in "CUNT" (88). Nicht von ungefähr ist die künstliche Iolanthe auch mit einem perfekten Geschlechtsorgan ausgestattet: "Kommen Sie und sehe Sie sich die Vagina an. Sie ist eine wahre Pracht." (153)

Lawrence Durrell: Nunquam. Roman. Deutsch von Susanne Lepsius. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1970.

Dienstag, 18. November 2025

Thea von Harbou: Metropolis (1925)

Metropolis von Regisseur Fritz Lang zählt heute als technisch ebenso aufwändiges wie brillantes Zukunftsdrama zu den Meilensteinen der Filmgeschichte. Bei Erscheinen vor knapp hundert Jahren war das opulente, über drei Stunden dauernde Opus jedoch ein finanzielles Desaster. Während die futuristische Bildwelt die Kritik noch überzeugen konnte, fiel das Drehbuch aus der Feder von Fritz Langs damaliger Partnerin Thea von Harbou als "Märchen für Erwachsene" in Ungnade. Die Autorin geriet, ebenso wie die von ihr zuvor verfasste Romanvorlage, weitgehend in den Schatten der Rezeptionsgeschichte, während Fritz Lang längst als Meister des frühen, expressionistischen Kinos in die Filmgeschichte eingegangen ist. Darin liegt vielleicht eine historische Gerechtigkeit: Denn als der jüdische Regisseur 1933 aus Deutschland fliehen musste, schloss sich Thea von Harbou der NSDAP an.

Allein vom literarischen Standpunkt aus verdient der Roman diese Geringschätzung nicht. Handelt es sich doch um ein Paradebeispiel expressionistischer Erzählweise. Die pulsierende, mithin dämonisierte Metropole, der dystopische Futurismus mit Maschinen und Fabriken, die exaltierten, zuweilen psychisch zerrissenen Charaktere, das Schrille und Grelle, die ekstatischen Drogen- und Traumbilder sowie ein Hauch von Okkultismus - das alles sind nicht nur typische Merkmale expressionistischer Prosa, sie bestimmen auch die Atmosphäre dieses rasanten, dabei motivisch komplexen, indes nicht restlos schlüssigen Werks. In der allegorischen Dicht, aber auch in der Personifizierung der dämonischen Stadt erinnert der Roman an Meyrinks Golem, von dem sich die Autorin wohl hat inspirieren lassen, nicht zuletzt für die Figur eines künstlichen, vom Schwarzmagier Rotwang geschaffenen Menschen, den es gleichsam aus dem jüdischen Ghetto nach Metropolis verschlagen hat.

Der Roman lebt von Antithesen und wirkt deshalb streckenweise plakativ. Da ist der Protagonist Freder, ein junger idealistischer Mann, der gegen seinen Vater Joh Fredersen rebelliert, den allmächtigen und unbarmherzigen Herrscher über Metropolis im "Neuen Turm Babel", für den die Menschen bloss Maschinenfutter sind, weshalb er sie durch den perfekten "Maschinenmenschen" (26) zu substituieren hofft. Die Elite verkehrt im "Haus der Söhne", während die Working Poor, die "Blauhemden", in der unterirdischen Arbeiterstadt hausen und sich in der "Totenstadt" zum Klassenkampf zusammenfinden. Es gibt des Vergnügungstempel Yoshiwara auf der einen, der Dom auf der anderen Seite mit dem Mönch Desertus, der wiederum eine Gegenfigur zum Magier Rotwang darstellt. Und schliesslich ist da noch die gütige Maria und ihr unheimliches Ebenbild, die von Rotwang geschaffene Roboterfrau, die er einmal "Parodie" dann wieder "Futura" nennt. Tatsächlich ist sie beides: Eine Nachäffung des Menschen und möglicherweise doch seine Zukunft.

Die Handlung ist aufs Ganze besehen ebenso einfach wie diffus im Detail. Freder verliebt sich in die richtige Maria und solidarisiert sich mit den Blauhemden, die Maria zu einem friedlichen Klassenkampf führen will. Sein Vater hingegen zettelt mit Hilfe von Rotwang hinterrücks eine blutige Revolution an, um seinen Sohn zur Raison zu bringen: "Die Stadt soll untergehen, Freder, damit du sie wieder aufbaust." (153) Die falsche, künstliche Automaten-Maria hetzt die Massen zum Sturm auf die Maschinen von Metropolis auf, die - als eine Art Gott-Maschinen geschildert - heiss- und sich schliesslich zu Tode laufen, so dass Chaos und eine grosse Katastrophe ausbricht. Es herrscht Endzeitstimmung, die Harbou in apokalyptischen Bildern - Geisselung, Kreuzigung, Hexenverbrennung - und in einem ewig ausgedehnten Showdown heraufzuschwören versteht, bis zu guter Letzt die grosse Versöhnung stattfindet und der Weg für einen Neubeginn geebnet ist.

So weit, so hollywoodlike. Antagonismen, grosser Konflikt, Happy End. Kompliziert wird es hingegen, sobald die hintergründigen Motive ins Spiel kommen. Joh Fredersen, der Herr über Metropolis, hat seine Frau Hel bei der Geburt des gemeinsamen Sohns Freder verloren (sie trägt nicht von ungefähr den mythologischen Namen der Herrscherin übers Totenreich). Zuvor war sie die Geliebte von Rotwang, der den doppelten Verlust - zunächst durch den Weggang von ihm, dann durch ihren Tod - nie verkraftet hat und heimlich auf Rache sinnt. Aus diesem Grund schuf er eine künstliche Frau, die er aber - im Auftrag von Fredersen - optisch der Klassenkämpferin Maria nachbildet, um die Arbeiter aufzuhetzen. Bevor es dazu kommt, warnt er die richtige Maria, um Fredersens Plan zu vereiteln, doch dieser belauscht das Komplott und erwürgt seinen heimlichen Rivalen - scheinbar. Als Metropolis bereits in Trümmern liegt, wacht er überraschend wieder auf, wähnt sich im Jenseits und will zu seiner geliebten Hel, die er in Maria wiedererkennt, der er bis auf die Domturmspitze nachstellt.

Auch die aufgebrachte Masse ist, nachdem sie das Debakel ihres Maschinensturms erkannt hat, hinter Maria her, kann aber nicht zwischen der echten und der künstlichen Maria, ihrer Parodie, unterscheiden, die letztlich den Flammen zum Opfer fällt, während die echte Maria von Freder höchstpersönlich aus den Fängen Rotwangs gerettet werden kann - das alles vor den Augen seines verzweifelten Vaters, der um das Lebens seines Sohns bangte und sich letztlich versöhnlich zeigt und seine Rigidität ablegt ...
Der Autorin wurde - neben einem zu simplen Umgang mit der sozialen Frage - die naive Sprache und die plakative Darstellung vorgeworfen. Nicht ganz zu recht, wenn man sie als zeittypische, weitgehend dem Expressionismus geschuldete Ausdrucksformen versteht. Wenn Vieles an dem Roman tatsächlich holzschnittartig anmutet, dann doch genau in dem Sinne wie der grobe Holzschnitt die dominierende künstlerische Ausdrucksform des Expressionismus war, als dessen literarisches Pendant Harbous geraffte Sprachbilder von suggestiver Eindringlichkeit gelten können.

So pathosbeladen gewisse Szenen, insbesondere der schier endlose Showdown, auch daherkommen, so bieder die vertretene Moral und so aufgesetzt die theologisch-mythologische Verbrämung auch anmuten mag, der inzwischen wohl nicht zufällig mehrfach aufgelegte Roman besitzt auch lohnenswerte Momente, die zu fesseln vermögen und ansatzweise bereits dem späteren Cyberpunk den Weg ebnen. Allem voran die dystopische Vision einer rein funktionalen, aber inhumanen Welt, unter deren glänzender Oberfläche ein rebellisches Proletariat haust. Ebenso die Schilderung der Paternoster-Maschinen in ihrer kruden Mischung zwischen Technokratie und Mythologie. Und nicht zuletzt die protopsychedelische Szenerie im Club Yoshiwara, wo um eine schwingende und klingende Mammutmuschel die Droge Maohee konsumiert wird und sich alle dem kollektiven Rauscherlebnis hingegen, hat visionären Charakter. Es sind mächtige Bilder, die man so schnell nicht mehr vergisst und die cineastische Qualität dieses, trotz allen kritisierbaren Mängeln, an dramaturgischen Effekten nicht armen Romans nachhaltig unterstreichen. 

Thea von Harbou: Metropolis. Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Herbert W. Franke. Frankfurt a.M./Berlin: Ullstein, 1984.en

Sonntag, 9. November 2025

Jules Verne: Das Karpatenschloss (1892)

Ein kurzer, etwas unausgewogener Roman des enorm produktiven und erfolgreichen Abenteuerschriftstellers Jules Verne, der vor allem deshalb Beachtung verdient, weil er das transsylvanische Setting von Bram Stokers Vampirroman Dracula um einige Jahre vorwegnimmt. Möglicherweise liess sich Stoker sogar von Jules Vernes Erzählung inspirieren. Das Lesefrüchtchen konnte jedoch keine verbindlichen Belege für eine solche Annahme finden. 

Im Zentrum steht jedenfalls auch ein düsteres Schloss auf der zerklüfteten Karpatenkette, das die Einwohner des Dörfchens Werst in Angst und Schrecken versetzt, weil sie glauben, dass es sich um ein altes Geisterschloss handelt, in dem Unholde und Vampire hausen. Mit Ausnahme des Dorfarztes Patak, der solche Befürchtungen als Aberglauben verspottet, sich dann aber als ausgekochter Feigling herausstellt, als er den Förster Nick Deck zum Schloss begleiteten soll. 

Grund für diese Expedition ist, dass - dank dem Kauf eines Fernglases - beobachtet wurde, dass Rauch aus dem Schloss aufsteigt. Brennt es dort oder lagern Vagabunden, Verbrecher gar oder handelt es sich am Ende doch um Hexerei? Während die Bevölkerung in der Dorfschenke darüber debattiert, entschliesst sich Nick Deck selbst nachzuschauen. Kaum hat er seinen Entschluss kundgetan, ertönt durch eine Gespensterstimme eine Warnung in der Schenke, um Nick von seinem Vorhaben abzuhalten: Sonst drohe ihm Unheil!

Doch Nick Deck wäre kein Held, wenn er sich davon einschüchtern liesse. Anderntags zieht er früh am Morgen zum Schloss hinauf, den jammernden Doktor als unfreiwilligen Begleiter im Schlepptau. Doch dann erleben sie in der Nacht einen Spuk mit Irrlichtern, Geräuschen und seltsamen Schattengestalten sondergleichen, bei dem der übermütige Nick Deck sogar vom Schlag getroffen wird, als das eiserne Ausfalltor berührte. Er muss mit der Bahre wieder ins Dorf getragen werden.

Zur selben Zeit halten sich zwei "Touristen" im Dorf auf: Graf von Telek uns sein Diener Rotzko. Als vernimmt, dass das Spukschloss Rudolf von Gortz gehöre, beschliesst er, selbst nachzusehen. Denn mit dem Namen verbindet ihn eine tragische Geschichte, die sich einige Jahre zuvor in Neapel zugetragen hat. Er lernte dort die bezaubernde Sängern La Stille kennen und hielt um ihre Hand an. Bei ihrem letzten Auftritt vor der Verlobung war auch Baron von Gortz zugegen, der sie schon wochenlang aus einer vergitterten Loge anstarrte.

Am letzten Abend wurde das blasse Gesicht des Barons sichtbar, was La Stille einen tödlichen Schrecken verpasste: Sie sinkt just in jenem Moment auf den Bühnenboden nieder, als im Stück "Orlando" die auch Heldin stirbt: "Innamorata, mio cuore tremante / Voglio morire ..." sind ihre letzten Worte. Als der Graf sich nun ins Karpatenschloss begibt hört er plötzlich diese Stimme wieder und glaubt, La Stille sei noch am Leben. Als er in die Gemächer vordringt, sieht er sie dann tatsächlich auch auf einer Bühne stehen und singen, während Baron von Gortz im Sessel sitzt und hingebungsvoll lauscht.

Doch alles erweist sich schliesslich als reine Illusion. Orfanik, ein physikalisch und technisch versierter Mad Professor, hat sie für den musikliebenden Baron mithilfe von phonographischen Aufnahmen inszeniert. Um die Bevölkerung vom Schloss fernzuhalten, hat er das Schloss ausserdem mit der Dorfschenke verkabelt, um die Gespräche abzulauschen und mit Geisterstimmen zu warnen. Auch der Spuk entpuppt sich am Ende als ausgetüftelte Apparatur: Das "Höllenspektakel" war "rein physikalischer Natur". Was Nick Deck niederstreckte, waren keine Hexereien, sondern "von den Batterien des Laboratoriums abgegebene Entladungsschläge".

Die Komposition wirkt insgesamt etwas schief und die Tonalität schwankt zwischen Satire und Schauerromantik. Was als Abenteuer von Nick Deck beginnt, schlägt plötzlich in die narrative nachgeholte Liebesgeschichte Franz von Teleks um. Auch die technische Erklärung wie der Spuk und die Erscheinung von La Stille zustande kam, wirkt durch den rasch eingeschobenen Exkurs am Schluss ungelenk und aufgepfropft. Hier setzte der Schnellschreiber Verne, wohl mehr auf einen Verblüffungseffekt als auf eine ausgefeilte Dramaturgie.

Denn damals waren die technologischen Errungenschaften wie Telefon und Phonograph, die es erlaubten die Stimme aufzunehmen und/oder an fremden Orten erklingen zu lassen, brandneu und unbekannt und daher dazu bestimmt ein Lesepublikum in Erstaunen zu versetzen. Jules Vernes Landsmann Auguste Villiers de l'Isle-Adam war in seinem Roman L'Eve future (1886) war wohl der erste, der Edisons Erfindung in Romanform brachte: War es dort eine Androidin, die dank dem Phonographen sprechen konnte, verleiht derselbe Apparat bei Verne einem Licht-Hologramm die Stimme.¨

Auf diese Verdrängung des Phantastischen durch die Technik verweist der Kurzroman gleich zu Beginn: "Unsere Träume von heute werden dank der immer weiter sich entwickelnden Wissenschaft morgen gewiss schon Wirklichkeit sein. Mit dem Ende des praktischen, positivistischen 19. Jahrhunderts scheint auch das Ende der Sagen gekommen zu sein."

Donnerstag, 6. November 2025

Mary Shelly: Frankenstein (1818)

Eine passende Lektüre für Halloween: Frankenstein - neben Bram Stokers Dracula ist das der Horrorklassiker schlechtweg. Und oft wird das Monster mit seinem Schöpfer verwechselt. Denn im Unterschied zu Dracula ist Frankenstein nicht der Name der schaurigen Kreatur, sondern ihres Erschaffers: des jungen Schweizer Naturwissenschaftlers Victor Frankenstein aus Genf. Aus dessen Perspektive wird, vermittelt durch den Abenteurer Robert Wilson, die Geschichte mit epischem Atem erzählt: Wie er aus faustischem Erkenntnisdrang die Grenzen des zulässigen Wissens überschreitet, mit dem Geheimnis des Lebens experimentiert und schliesslich Opfer seiner eigenen Schöpfung wird, nachdem er sich angewidert von ihr abgewandt hatte. Nur wenige Minuten, nachdem sein Wesen, belebt durch den "Funken des Seins", "das trübe gelbe Auge" öffnet, erfüllen "Abscheu und atemloses Grauen" Frankensteins Herz, als er die missgebildete Kreatur erblickt: "Unfähig, den Anblick des Wesen zu ertragen, das ich erschaffen hatte, floh ich aus dem Labor." (53) Doch das Monster wird ihn in einem erbitterten Kampf bis ans Ende der Welt verfolgen, um sich an ihm für seine unglückliche Existenz zu rächen.

Während Frankenstein über Monate hinweg seelenruhig "in Grüften und Beinkammern" (46) Leichen untersucht, ohne dabei auch nur den geringsten Schauer zu empfinden, schlägt sein Erfinderstolz beim Anblick seines Geschöpfs augenblicklich in abgrundtiefe Abscheu um: "aber nun, da mein Werk vollbracht war, verblasste der schöne Traum, und Abscheu und atemloses Grauen erfüllte mein Herz" (53). Während er Leichen als bloss "leblose Körper" (46) betrachtet, hat er es nun mit einer lebendigen, ja gar mit einer "dämonischen Leiche", nämlich einer "erneut zum Leben erwachten Mumie" (54) zu tun. Rühmte er sich zuvor, dass nie ein "übernatürlicher Schrecken" (46) seinen Verstand getrübt habe, verlässt ihn angesichts seines Geschöpfs jedwede rationale Fassungskraft, die ihn überhaupt erst jene Erfindung machen liess. Das Produkt naturwissenschaftlicher Spitzenleistung wird in einem Atemzug zu einer Ausgeburt der Hölle. Dieser drastische Gesinnungsänderung mag übertrieben und psychologisch unplausibel wirken. Diegetisch erklärt sie aber, weshalb sich das Geschöpf von Anbeginn verstossen und ungeliebt empfindet. Anders als Viktor kann es auf keine behütete Kindheit und "liebevollere Eltern" (28) hoffen, da es von seinem Schöpfer von Anbeginn nicht akzeptiert wird, nicht als "Adam", sondern als "gefallener Engel" behandelt wird (103).

Gerade diese harsche Zurückweisung lässt die künstlich aus Leichenteilen zusammengesetzte Gestalt böse werden (und schliesslich Frankensteins jüngerer Bruder Wilhelm ermorden) - zumindest der eigenen Darstellung zufolge, die im zweiten Teil des Romans ausführlich geschildert wird. Wie das Monster seine eigene Hässlichkeit erkennt, wie er sich deshalb vor den Menschen verbirgt, sie heimlich aber beobachtet und dadurch nicht nur Sprechen, sondern auch Lesen lernt. Zufällig findet er ein Büchlein mit Die Leiden des jungen Werthers, dessen Lektüre ihm die eigene tragische Situation vor Augen führt: Ihm fehlt eine Partnerin, mit der er glücklich sein könnte, weshalb er von Frankenstein fordert, "eine Kreatur des anderen Geschlechts" zu erschaffen: "so monströs wie ich selbst" (158), um nicht länger gesellschaftlich isoliert zu sein: "Überall sehe ich Glückseligkeit, von der ich unwiderruflich ausgeschlossen bin. Ich war gütig und gut. Nur das Elend liess mich böse werden. Mach mich glücklich und ich werde erneut tugendhaft sein." (103)

Das alles erfährt der Leser in dritter Instanz: Es gehört zum erzähltechnischen Kniff des Romans (aber auch zu seiner besonders verschachtelten Architektur), dass er im Bericht von Wilson einen Binnenbericht enthält: Wilson gibt wieder, was Frankenstein ihm erzählte, darunter auch, was das Monster diesem wiederum erzählte - alles in direkter Rede, als würden die Betroffenen selbst sprechen. Dadurch gewinnt die Erzählung an unmittelbarer Lebensnähe und manchmal unterläuft der Autorin tatsächlich, dass sie die komplexe Erzählanlage vergisst und direkt in eine Ich-Perspektive kippt. Zugleich steht durch diese Erzählanlage andererseits die Verlässlichkeit dieser Berichte fortlaufend in Frage. Frankenstein erzählt Wilson seine Geschichte, als er schon halbwegs im Wahnsinn liegt, während er zugleich die Redlichkeit seiner Kreatur in Zweifel zieht, ihn als Lügner und Schönredner bezichtigt und ihm deshalb auch seinen Wunsch verweigert, ein weibliches Pendant zu erschaffen.

Nach dieser erneuten Abfuhr schwört ihm das Monster Rache und droht, bei seiner Hochzeitsnacht zu erscheinen, um ihn im Gegenzug an seinem eigenen Glück zu hindern (186). Diese Drohung hallt in Frankenstein nach (210, 213), weshalb er die Heirat zum Unverständnis seiner Verlobten Elisabeth hinauszögern will. Frankenstein erkennt, dass er zum "Sklaven seiner Schöpfung" (168) geworden ist, sich mit dem missglückten Menschenexperiment eine persönliche Nemesis geschaffen hat, ein "Unhold", ein "Dämon" (75), ein "Teufel" (221), der nicht ruhen wird, bis er selbst ins Unglück stürzt. Als schliesslich die Hochzeit herannaht, ist das Monster auch zur Stelle und erwürgt Frankensteins Verlobte. An diesem Punkt folgt der dialektische Umschlag: In seiner Verzweiflung startet nun Frankenstein einen blindwütigen Rachefeldzug gegen sein Geschöpf und verfolgt es zunächst entlang der Rhône bis hinauf in die Polargegend. Mit einer Besessenheit, wie sie später nur Kapitän Ahab kennt, jagt Frankenstein seinen "Feind" (230) durch die Eismeere - und zweifellos liess sich Herman Melville durch die Schilderung dieser schrecklichen Schneewüste zu seinem "Weissen Wal" inspirieren.

Gemessen an heutigen Sehgewohnheiten kann der Roman nur bedingt als Horror-Roman gelten. Wer ihn unter dieser Erwartung liegt, wird aufgrund seines langen epischen Atems zwangsläufig enttäuscht. Auch wenn die Idee eines lebendigen Leichnams, eines Zombies avant la lettre, damals schockierend gewesen sein musste und die Schilderung des mordenden Monsters furchteinflössend und Frankensteins Grabschändungen durchaus gruselig, dominieren im Roman nicht die Schockmomente, sondern die psychologische Situation, die durch die personale Erzählweise umso dringlicher erscheint. Spürbar ist das insbesondere dort, wo der Überschwall emotionaler Rede sich disproportional zur relativ simplen Plotstruktur verhält. In dieser sprachlichen Weitschweifigkeit handelt es sich letztlich auch um einen rhetorischen Roman. Von Frankensteins Beichte bis hin zum Schlussmonolog des Monsters als Märtyrer stehen grosse, emotionsgeladene Reden im Vordergrund, die - dem Drama nicht unverwandt - der Erzählung letztlich ihre Dramatik verleihen.

Der Roman erlebte eine leicht überarbeitete Neuauflage 1832. Doch den anhaltenden Weltruhm bescherte ihm ein Jahrhundert später die Verfilmung mit Boris Karloff in der Rolle des Monsters. Seine Maske mit dem kantigen Kopf und der Narbe an der Schädeldecke sowie den Elektroden am Hals hat sich tief ins kulturelle Gedächtnis eingegraben. Doch mit der Romanvorlage hat der Film und alle weiteren Sequels wie Frankensteins Braut (1935), Frankensteins Sohn (1939), Frankensteins Haus (1944) usw. nur noch sehr wenig zu tun. Der gravierendste Unterschied besteht darin, dass im Film dem künstlichen Menschen unwissentlich das Hirn eines Massenmörders eingepflanzt wurde, er also ab ovo zum Gewaltverbrecher bestimmt ist, während der Reiz des Romans gerade in der moralischen Frage liegt: Ist die Kreatur genuin böse oder ist sie es durch seine Lebensumstände und die soziale Ausgrenzung erst geworden. Das Monster selbst stellt sich auf den zweiten Standpunkt, allein seine Aufrichtigkeit wird von Frankenstein mehrmals in Zweifel gezogen. Mehr noch attestiert er seinem Geschöpf eine Persuasionskraft und stempelt es also zum unzuverlässigen Erzähler. Doch wie zuverlässig ist Frankenstein selbst, der seine Geschichte bereits halb im Wahnsinn mitteilt? Aus diesen Unschärfen seiner komplexen Erzählsituation zieht der im Grunde simpel gestrickte Roman seine Stärken.

Die Entstehungsgeschichte ist ebenso legendär wie das von der nur knapp 19jährigen Mary verfasste Buch selber. Gemeinsam mit ihrem späteren Gemahl Percy Shelley, ihrer Stiefschwester Claire Clairmont und deren Liebhaber, dem notorischen Dandy-Dichter Lord Byron, sowie seinem Leibarzt John Polidori verbrachte sie die Sommermonate 1816 in der Villa Diodati in Genf, die heute noch existiert, sich aber in Privatbesitz befindet. Das Jahr 1816 ging als Jahr ohne Sommer in die Geschichte ein, da die klimatischen Verhältnisse durch einen Vulkanausbruch in Indonesien erheblich gestört waren. Die Atmosphäre verdüsterte sich, die Temperaturen sanken und viele heftige Gewitter gingen über dem Genfer See nieder, so dass die englische Gruppe mehrheitlich gezwungen war, sich im Innern aufzuhalten, wo sie zur Zerstreuung eine französischsprachige Sammlung deutscher Gespenstergeschichten lasen: die Fantasmagoriana, in Deutschland unter dem Titel Gespensterbuch von Johann August Apel und Friedrich Laun herausgegeben. Der Regisseur Ken Russell hat die Begebenheit in seinem Film Gothic (1986) in schwülstigen Bildern imaginiert, die sich mancher verbürgter Versatzstücke bedienen, aber insgesamt wenig mit der historischen Realität zu tun haben.

Auf einen Vorschlag von Byron sollen alle eine eigne Gruselgeschichte verfassen: Polidori schreibt in der Folge die Erzählung The Vampyre, die Bram Stoker später zu seinem Dracula inspirieren wird, und Mary legt einen ersten Entwurf zu Frankenstein vor, der zwei Jahre später in Buchform erscheinen wird: mit einer Widmung an ihren Vater William Godwin, doch anonym, ohne Angabe der Verfasserin, da ihr der Stoff wohl zu kühn erschien und es für Frauen um 1800 ohnedies nicht einfach war als Autorinnen akzeptiert zu werden. Tatsächlich äussert sich ein Kritiker der Quarterly Review entsetzt über das "Wirrwarr aus grauenvollen und abscheulichen Absurditäten" und fragt sich am Ende, "ob das Hirn oder das Herz des Autors das kränkere" sei. In der zweiten, überarbeiteten Auflage von 1831, die dann unter ihrem vollen Namen Mary Wollstonecraft Shelley erschien, schildert die Autorin in der Vorrede ausführlich die Entstehungsgeschichte des Romans im Juni 1816, die seither mit zu seinem Renommee massgeblich beigetragen hat. 

Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Die Urfassung. Aus dem Englischen neu übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann. Düsseldorf: Artemis & Winkler Verlag, 2006.