Montag, 19. Februar 2024

Ed Martin: Frankenstein '69 (1969)

Nach Poor Things, welches das Lesefrüchtchen eben gelesen hat, gleich noch eine Frankenstein-Geschichte. Ist auch bei Alasdair Gray das künstlich generierte Geschöpf sowohl weiblich wie auch mit einer ordentlichen Libido ausgestattet, so gilt das in diesem Fall erst recht, denn es handelt sich um eine veritable Porno-Variante.

Das Buch erschien in der von Kultverleger Jörg Schröder geführten Olympia Press in Deutschland. Während der von Maurice Girodias ursprünglich gegründete Verlag neben erotischer Literatur (Geschichte der O., Fanny Hill) unter dem dezenten Deckmantel olivfarbener Umschläge heute längst kanonisierte Werke von Henry Miller, Nabokov, Beckett oder Burroughs verlegte, setzte Schröder vorwiegend auf ein pornographisches Programm, das sich unter dem liberalen '68er Spirit gut verkaufte und so ökonomisch die Titel im ambitionierteren März-Verlag querfinanzieren konnte. Eines der Bücher, das dort – nun nicht mehr im unauffällig olivgrünen Tarnumschlag, sondern mit der Signalfarbe eines knalligen Pink – erschienen ist, war Frankenstein ‘69 eines gewissen Ed Martin, über den das Lesefrüchtchen nichts herausfinden konnte. Wohl handelt es sich um ein Pseudonym.

Der Titel Frankenstein ’69 (auf Englisch reimt er sich: …stein …nine) spielt einerseits auf das Erscheinungsjahr 1969 an, andererseits natürlich auf die Sex-Stellung 69. Offenbar ist der Roman mittlerweile auch als eBook erhältlich, und zwar mit dem Untertitel: «Die Paarung der Meerjungfrauen mit unersättlichen Sex-Robotern». Damit ist die Handlung des Buches eigentlich schon perfekt zusammengefasst: Ein verrückter Wissenschaftler kreiert in seinem Labor drei lebendige Sexpuppen, während seine nymphomane Frau es hinter seinem Rücken pausenlos mit anderen treibt und zur Erfüllung ihrer schier unersättlichen Lust sich gleichfalls drei männliche Sex-Roboter mit riesigen, stahlharten Schwengeln fabriziert, einer davon sogar verkehrtherum, mit dem Skrotum nach oben montiert, was zu ganz neuen Stimulationspraktiken führt.

Und da tummeln sich tatsächlich auch noch notgeile Wassernixen, die am liebsten Penisse mitsamt den Hoden mit ihren Vulven verschlingen. Wie sich ein Koitus mit einem schwanzbeflossten und ausserdem auch genital amphibischen Meerwesen anfühlen muss, gehört zum Originellsten, was diese Pornoparodie zu bieten hat. Die Handlung ist, wie in jedem Porno, ohnehin sekundär bis irrelevant, was die Erzählung auch dadurch parodistisch zum Ausdruck bringt, dass selbst längere Passagen im exakt gleichen Wortlaut wiederholt werden, um mit Augenzwinkern die Repetivität und Austauschbarkeit dieser Art von Storytelling zu signalisieren. Zugleich entsteht dadurch beim Lesen ein nahezu surrealer Déjà-lu-Effekt, der vielleicht etwas vom halluzinogenen Sixties-Flair vermitteln soll.

Sonntag, 18. Februar 2024

Alasdair Gray: Arme Dinger (1992)

Seit Jahren steht im Bücherregal des Lesefrüchtchens der schottische Kulturoman Lanark. A Life von Alasdair Gray. Bislang kam es aber nie dazu, ihn zu lesen, und aus aktuellem Anlass griff es nun zuerst zu einem späteren Roman desselben Autors: Arme Dinger (Poor Things), der gerade frisch verfilmt mit Emma Watson in der Hauptrolle in den Kinos läuft. Das Lesefrüchtchen hat den – in der Presse hochgelobten – Film (noch) nicht gesehen, es vermutet aber, dass hier der seltene Fall vorliegen könnte, dass eine Verfilmung die literarische Vorlage überbietet. Nicht dass die Lektüre durchwegs enttäuschend gewesen wäre, ein wenig schwerfällig hingegen ist das Buch schon in seiner neobarocken – oder wie es im Roman selbst heisst: «pseudogotischen» – Machart.

Das Buch präsentiert sich als Herausgeberfiktion, bei der Gray selbst als Editor und Kommentator (und realiter auch, wie in allen seinen Büchern, als Illustrator) eines angeblichen Textunikats auftritt, das im Jahr 1909 ein gewisser Archibald McBandless im Selbstverlag veröffentlicht haben soll. Geschildert wird darin eine Art Frankenstein-Geschichte mit weiblichen Vorzeichen. McBandless erzählt, wie er bei dem befreundeten Arzt Gotthard Baxter, der manipulative Eingriffe an der Natur vornimmt, eine entzückende junge Frau namens Bella kennenlernt, die – wie sich herausstellt – als Selbstmörderin in Glasgow aus dem Fluss Clyde gefischt und von Baxter zu neuem Leben erweckt wurde, indem er ihr das Hirn ihres ungeborenen Kindes einpflanzte. Mutmasslich handelt es sich um eine gefallene Frau mit einem ungewollten Spross im Leib, weshalb sie sich aus Verzweiflung das Leben nahm. Schon immer war es Baxters Plan, «einen fortgeworfenen Körper und ein fortgeworfenes Gehirn aus unserem gesellschaftlichen Abfallhaufen zu holen und zu einem neuen Leben zu vereinen».

Das neue Wesen, das seinen Schöpfer Gotthard Baxter kurzerhand und konsequent «Gott» nennt, zeichnet sich durch eine verhängnisvolle Kombination von kindlichem Gemüt und sexueller Appetenz aus, was unter anderem daran zum Ausdruck kommt, dass sie den Geschlechtsverkehr als «Trauen» missversteht und sich sooft mit ihrem Angetrauten Duncan Trauburn (man bemerke das Wortspiel) ‘traut’, dass dieser vor Erschöpfung und Furcht vor «der scharlachroten Hure des modernen Babylon» schliesslich im Irrenhaus landet. Doch neben Trauburn hält auch der Erzähler McBandless um Bellas Hand an und wartet sehnsüchtig, bis sie von ihren Flitterwochen zurückkehrt. Diese erweisen sich nicht nur als fatal für den koital dauerbeanspruchten Trauburn, sondern überdies als prägend für Bellas eigene Entwicklung, die ganz dem humanitären Einsatz für 'arme Dinger', wie sie selbst eines war, gewidmet sein wird (daher der Titel).

In Alexandria wird sie Zeugnis der Bevölkerungsarmut und des katastrophalen Elends der Menschen, insbesondere sieht sie eine Mutter mit einem blinden und verkrüppelten Kind, was sie an ihre Narbe am Bauch erinnert und daran, dass sie offenbar selbst einmal eine verzweifelte Mutter war. Als ihre männlichen Begleiter sie mit den Worten «Sie können nichts Gutes tun» zu helfen abhalten wollen, erleidet sie einen psychischen Anfall, was in Form von wildbekritzelten Briefseiten, die als Faksimile quasi dokumentarisch in die Erzählung eingestreut werden, visuell bekräftigt wird. Allein dass diesem Umstand, der ziemlich exakt in der Mitte des Buches erfolgt, ein solches Gewicht verliehen wird, deutet auf den entscheidenden Wendepunkt hin. Bella Baxter entwickelt sich aufgrund dieser Erfahrung zur radikalen Sozialistin, die sich nach der Heirat mit McBandless für bolschewistische Wohltätigkeit einsetzt und eine Abtreibungs-Klinik gründet, um Frauen vor einem ähnlichen Schicksal, wie sie es in Alexandria erlebte, zu bewahren. 

Im Anschluss an diese aus McBandless' Perspektive erzählten Geschichte zitiert Gray als Herausgeber einen Brief von Bella Baxter mit einer an ihre Nachkommen gerichtet Gegendarstellung. Darin bezichtigt sie ihren Gatten, unter allerlei Anleihen bekannter Schauerromane, darunter selbstredend auch Marry Shelleys Frankenstein, eine «teuflische Parodie» ihrer Lebensgeschichte verfasst zu haben - aus purem Neid, weil er selbst als bloss geduldeter Ehemann an ihrer Seite ein Schattendasein fristete, während sie als aktive Klassenkämpferin im öffentlichem Ansehen stand und angeblich sogar Affären mit H. G. Wells und Ford Maddox Ford unterhielt. Die Vorstellung, ein Geschöpf aus Baxters Retorte zu sein, weist sie als infame Lüge weit von sich, stattdessen gibt sie an, damals nicht Selbstmord begangen zu haben, sondern von ihrem tyrannischen und gewalttätigen Ehemann zu Baxter geflüchtet und dort unter dem Decknamen Bella untergetaucht zu sein. Ihr wahrer Name sei Victoria.

Die Leserschaft kann so, wie es in einer ausdrücklichen Aufforderung heisst, «zwischen zwei Darstellungen wählen» - eigentlich zwischen drei: da der Autor in seiner Funktion als Herausgeber im Anhang einen pseudo-dokumentarischen Abriss über Bella (Victoria) Baxters Leben und ihr karitatives sozialistisches Engagement gibt, der es am Ende offenlässt, ob ihr Alter an der Geburt ihres Gehirns oder ihres Körpers zu messen sei. - Wie gesagt, ein eher schwerfälliges Buch, das für eine Parodie zu wenig humoristisch, für einen politischen Roman wiederum zu verspielt und als postmodernes Verwirrspiel zu beliebig ist. Die Geschichte pendelt unentschlossen zwischen einer männlichen Schöpfungsphantasie und einem weiblichen Emanzipationsnarrativ. Es wirkt ein bisschen, als wäre auch das Buch wie mutmasslich die Protagonistin aus mehreren Organismen zusammengesetzt.

Freitag, 16. Februar 2024

Aleš Šteger: Archiv der toten Seelen (2016)

Man kennt es aus dem von J.J. Abrams produzierten Film 10 Cloverfield Lane oder aus der zweiten Staffel der Fernsehserie Fargo, wo völlig unerwartet UFOs auftauchen und für eine überraschende Wende sorgen. Mit einem ähnlichen Überraschungseffekt wartet auch - Achtung Spoiler - der Schluss von Štegers Roman auf, als sich das Theater von Maribor unvermittelt in ein gigantisches Raumschiff verwandelt, sich vom Erdboden erhebt und ein klaffendes Loch - "ein riesiger Schlund" - auf dem Theaterplatz hinterlässt. Dass diese Entfernung des bedeutendsten slowenischen Theaters ausgerechnet ins Jahr 2012 verlegt wird, als Maribor zur Europäischen Kulturstadt ernannt wurde, ist nur eine von vielen bösen Pointen in diesem Roman, der mit der Stadt und ihren Einwohnern nicht gerade zimperlich umgeht. Geschildert wird in einer Mischung aus Fantasy und Sozialkritik ein eher dystopisches Gesellschaftsbild von Korruption und Verschwörung. Sinnbildhaft steht dafür der Bau einer neuen Kanalisation, bei dem eine Röhre platzt und der gesamte Unrat an die Oberfläche gespült wird.

Der Titel in der deutschen Übersetzung - im Original lautet er schlicht Odpusti (verzeihen, vergeben) - spielt auf Gogols Sozialsatire Die toten Seelen an. Vermutlich liegt im Anspruch, das Sittenbild einer 'seelenlosen' Gesellschaft zu bieten, die Gemeinsamkeit zu Gogols Roman, mit dem Štegers Geschichte ansonsten wenig gemeinsam hat, einmal abgesehen davon, dass da auch einer von Haus zu Haus zieht, allerdings nicht um tote Seelen zu kaufen, sondern um sie zu befreien. Alex Bely, ehemaliger Dramaturg am Mariborer Theater, kehrt nach sechzehn Jahren in seine Heimatstadt zurück, gemeinsam mit Rosa Portero, einer Frau mit Armprothese, die sich als österreichische Journalistin ausgibt. Angeblich wollen sie eine Reportage über die Kulturhauptstadt schreiben, weshalb sie wichtige Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft um eine Interview bitten.

Doch heimlich verfolgen sie einen ganz anderen Plan. Sie wollen der Verschwörung des "Grossen Ork" auf die Spur kommen. Zu diesem Zweck hypnotisieren sie ihre Interviewpartner, schliessen sie an ein E-Meter an, um sicher zu gehen, dass sie nicht lügen, und verabreichen ihnen am Ende eine Art Pille, die sie zum Geständnis bringt, bevor sie wahnsinnig werden, in animalische Verhaltensweisen kippen oder direkt sterben. Der Roman steht somit in der Tradition des Topos vom Heimkehrer, der - hier aus noch unbekannten Motiven - mit seiner früheren Vergangenheit abrechnen will. Die Thematik der Reinigung, der Säuberung, des Auslöschens ist zentral. Lange bleibt unklar, was genau vor sich geht, und auch der Protagonist Bely entpuppt sich zunehmend als dubiose Figur mit einer Vorgeschichte als führendes Sektenmitglied bei Scientology und sodann bei einem obskuren Orden, der sich die Ausrottung der Zwillinge zum Ziel setzte. Beim Initiationsritus sollte Bely einen Zwilling töten, rettete die Person aber und flüchtet mit ihr: Es ist Rosa Portero, mit der er fortan die Mariborer High Society in Aufruhr versetzt.

Astro-Mythen, Esoterik, okkulte Seelenlehren und christliche Religion sowie wilde geschichtsphilosophische und evolutionsbiologische Theorien von der Regression der Menschheit verschmelzen zu einer diffusen neuen Kryptologie, in deren Zentrum das Symbol des Tintenfisches steht. Auf dem Körper des dubiosen 'Helden' der Geschichte zeichnen sich allmählich Tentakel ab, bis er schliesslich als Messias einer neuen Rasse mit dem UFO davonfliegt. Das Motiv des Tintenfisches wird äusserst geschickt gleich am Beginn des Romans eingeführt, ohne dass man als Leserin bereits eine Ahnung von der ganzen Tragweite hätte. Ein Restaurantbesitzer vertilgt genüsslich gegrillte Tintenfischtentakel und philosophiert über die organische Überlegenheit dieser Tiere, weil sei drei Herzen haben und einen intelligenten Körper, weshalb sie auch "Kopffüsser" genannt werden. In einem beiläufigen Smalltalk wird hier bereits angedeutet, was schliesslich den gesamten Plot dominieren wird.

Das Archiv der toten Seelen ist ein oftmals verblüffender, spannender, weil raffiniert aufgebauter Roman, der die Lesenden zunächst lange im Dunkeln tappen und nur allmählich gewisse Zusammenhänge erahnen lässt bis zum phantastischen Finale. Das alles eingebettet in eine zuweilen groteske Gesellschaftssatire, die mit einigen Anspielungen aufwartet, die der lokal nicht vertrauten Leserschaft wohl oder übel entgehen. Dass der zuerst als Lyriker hervorgetretene Autor - Archiv der toten Seelen war sein erster Roman - auch über eine gute Portion an Selbstironie verfügt, zeigt sich an dem Cameo-Auftritt als Programleiter der Europäischen Kulturhauptstadt, den er in seinem eigenen Roman für sich vorsieht, und zwar als äusserst cholerisches Naturell. Zweimal begegnet man ihm, wie er sich lauthals empört: "'Verkackte Hurensöhne, sag ihnen, sie können mich am Arsch lecken, die mit ihrer blöden Oper, der Hund soll ihre Mutter ficken!', schreit der Impressario."

Dienstag, 13. Februar 2024

Nikolaj Gogol: Die toten Seelen (1842/1852)

Es ist ein merkwürdiger Handlungsreisender, dieser Pawel Iwanowitsch Tschitschikow: In seiner Troika (seinem Dreigespann) zieht er von Landgut zu Landgut durch die russische Provinz und versucht die Gutsbesitzer davon zu überzeugen, ihm 'tote Seelen' zu einem geringen Preis zu verkaufen oder gar zu schenken. Gemeint sind sogenannte "Revisionsseelen", das heisst alle steuerrelevanten und daher auf der Revisionsliste geführten leibeigenen Bauern der Gutsbesitzer. Da diese Listen bis zur nächsten Revision unverändert gültig bleiben, müssen die Gutsherren auch für inzwischen bereits verstorbene Bauern Kopfsteuern bezahlen. Der listige Tschitschikow will sie deshalb von dieser Steuerlast befreien, indem er ihre toten Seelen vertraglich übernimmt, jedoch nicht aus purem Altruismus, sondern um sich selbst den Anschein eines vermögenden Herren, der über hunderte von Leibeigenen gebietet, zu geben und sich damit die nötige Kreditwürdigkeit zu verschaffen. Denn seit seiner Jugend träumt der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Tschitschikow davon, ein eigenes Landgut zu besitzen.

Ein Grossteil der Romanhandlung besteht darin, Tschitschikow auf seinem Weg von Gutshof zu Gutshof zu folgen, was mit der Zeit repetitiv und daher auch ermüdend wirkt. Das einzige Spannungsmoment liegt in der lange unbeantworteten Frage nach der Motivation Tschitschikows, tote Seelen zu kaufen. Das erfährt der Leser erst zum Schluss des ersten (und einzig vollendeten) Teils, wo der Autor in einer riesigen (und in dieser Dimension wohl einmaligen) Analepse den gesamten Werdegang des Helden nacherzählt, nachdem man ihm bereits quer durch halb Russland gefolgt ist.

Diese Ausgangslage bietet dem Erzähler jedoch die Gelegenheit, der Reihe nach verschiedene Sozialcharaktere vorzuführen und sich in mitunter weit ausholende Exkurse teilweise auch satirischer Art über Land und Leute zu ergehen. Einer dieser Exkurse nutzt der Erzähler auch für eine poetologische Rechtfertigung des gesamten Romanunternehmens, das keine positiven Helden aufweisen kann. Im Gegenteil, Tschitschikow begegnet Antitypen jeglichen Couleurs: Lügnern, Betrügern, Neppern, Prahlköpfen, Geizigen wie Verschwendern - und auch er selbst ist als Hochstaplerfigur keineswegs ein Vorzeigeheld im klassischen Sinn. Auch von den gesellschaftlichen Zuständen schildert der Roman alles andere als ein harmonisches Bild: Nepotismus und Korruption sind an der Tagesordnung, wie auch das Paradestück einer Amtssatire zeigt, wie man sie erst wieder bei Franz Kafka lesen wird, wo die Absurdität, der Leerlauf und nicht zuletzt auch der Filz eines gigantischen Verwaltungsapparats auf die Schippe genommen.

Der Erzähler schätzt jene Schriftsteller glücklich, welche "an allen langweiligen oder gar abstoßenden und in ihrer Erbärmlichkeit kränkenden Charakteren vorübergehen" und sich jene Personen aussuchen könne, "welche die wahre menschliche Würde zur Geltung bringen", um der Leserschaft "das Idealbild des Menschen" vor Augen zu führen. Die anderen Schriftsteller hingegen, die das Wagnis auf sich nehmen, das zu zeigen, was man lieber geflissentlich übersieht, nämlich den "ganzen Leerlauf der kalten, innerliche zerrissenen, alltäglichen Charaktere, die uns auf unserer bitteren und oft öden irdischen Bahn bedrängen", diese Schriftsteller haben einen viel schwierigeren Stand, weil Kritiker nur allzu rasch vom Inhalt auf den Verfasser schliessen. Zweifelsohne zählt sich auch der Gogolsche Erzähler zu dieser unrühmlichen zweiten Sorte, weshalb ihm besonders daran gelegen ist, die Leserschaft in einem längeren Exkurs vom Wert seines Unternehmens zu überzeugen. Dazu wählt er ein optisches Gleichnis: Es sei ebenso ehrenwert, (mit dem Teleskop) die entfernten Gestirne am Himmel vor das Auge zu zaubern, wie (mit dem Mikroskop) die Regungen der unscheinbarsten Wesen sichtbar zu machen.

Die romantische Prägung des Fragment gebliebenen Romans ist noch deutlich in solchen Exkursen des Erzählers erkennbar, mit denen er sich direkt an die Leserschaft wendet oder sein Vorgehen legitimieren will. Nicht wenige Exkurse nutzt er auch, um eben erzählte Episoden ins Allgemeine zu wenden, so dass sie leicht als Allegorie auf russische Zustände zu verstehen sind. Denn das Einsammeln von toten Seelen ist gleichsam nur ein narrativer Vorwand, um ein satirisches Sittengemälde der vielbeschworenen russischen Seele auszubreiten, die sich durch den mikroskopisch-sezierenden Blick des auktorialen Erzählers als nahezu ebenso leer und tot erweist. Besonders deutlich zeigt sich dieser allegorisch Zug in der Schlussapotheose des ersten Teils, wo die Troika Tschitschikows sinnbildlich mit Russland gleichgesetzt wird.

Tatsächlich ist hinter dem vordergründigen Spott und der Satire ein patriotischer, zuweilen sogar reaktionärer Zug vernehmbar, der im zweiten, unvollendeten Teil noch deutlicher zum Ausdruck kommt, wo das Lob von Tradition und Landwirtschaft beschworen und positiv in Stellung gebracht wird gegen den Sittenzerfall in den Städten, die bereits unrettbar von der westlichen Dekadenz eingenommen sind.