Montag, 23. Dezember 2024

Gertrude Stein: Drei Leben (1909)

Dieses Jahr wäre Gertrude Stein 150 Jahre alt geworden. Auch wenn ihr Einfluss auf die moderne Literatur als durchaus bedeutend gilt, dürfte ihr Werk nur eine Minderheit wirklich gelesen haben. Weltbekannt ist ihr oft zitiertes und adaptiertes Monostichon "A rose is a rose is a rose is a rose ...". Mit dem Lyrikband Tender Buttons (1914) versuchte sie, inspiriert durch Picasso, kubistische Gedichte zu schreiben und mit The Making of Americans (1925) schuf sie ein ähnlich sperriges Riesenwerk wie Finnegans Wake ihres Zeitgenossen James Joyce (den man, nebenbei bemerkt, in ihrer Gegenwart aber nicht erwähnen durfte). Daran wagt sich das Lesefrüchtchen (noch) nicht. Stattdessen greift es zum Früh- genauer noch zum Erstlingswerk Three Lives.

Die drei - lediglich über den fiktiven Schauplatz Bridgepoint - miteinander verbundenen Erzählungen schildern das Schicksal von drei Frauenfiguren. Als Motto ist ihnen ein Zitat des Symbolisten Jules Laforgue vorangestellt: "Ich bin also unglücklich, und das ist weder meine Schuld noch die des Lebens." Die drei Frauen könnten unterschiedlicher nicht sein: Die gute Anna ist ein pedantisches Hausmädchen von übertriebenem Pflichtbewusstsein bis hin zur Selbstaufopferung; Melanctha eine zugleich melancholische wie auch leidenschaftliche Frau auf der vergeblichen Suche nach dem richtigen Mann und die sanfte Lena ein bis zur Einfalt gutmütiges Mädchen. Alle drei sterben aus der Welt hinaus, nachdem sich ihr Lebensglück nicht erfüllen konnte. 

Stein verzichtet jedoch auf jegliche Form der Psychologisierung. Die Vorgänge werden mit einem distanzierten, manchmal ironischen Blick von Aussen geschildert, was sie teilweise in seltsamer, weil unkommentierter Schwebe lässt. Dazu trägt auch der für Gertrud Stein später typische, hier schon ansatzweise vorhandene reihende und repetitive Stil bei. Am radikalsten durchgeführt in der mittleren und auch längsten Erzählung über Melanctha, die im Kern ein vertrackter Liebesdialog enthält, der sich hoffnungslos in sich selber verstrickt. Der Wortschatz beschränkt sich auf ein Minimum. Gewisse Sätze wiederholen sich immer wieder oder setzten absatzweise identisch ein. Die Syntax ist stets gleichförmig aufgebaut, was der Prosa etwas Formelhaftes, zuweilen sogar Beschwörendes verleiht.

Eine solche, auf jegliche Eleganz und guten Stil verzichtende Schreibweise, die manisch um sich selber kreist, war 1909 gewiss radikal und auch heute verlangt sie der Leserin einiges ab. Oder aber sie erlaubt eine Art gleitende Lektüre mit schwebender Aufmerksamkeit über dem Text. Aus heutiger Sicht muten die Erzählungen aufgrund der narrativen Regelverstösse mitunter wie der Versuch eines noch nicht ganz ausgereiften Sprachmodells an, einen literarischen Text zu verfassen. Eine andere Assoziation bietet sich, wenn man bedenkt, dass Gertrud Stein bei William James, dem Bruder des Schriftstellers Henry James, Psychologie studiert und im Rahmen dieses Studiums auch mit Schreibautomatismen experimentiert hat. Tatsächlich sollen Steins Texte bis zu ihrer ersten Schreibblockade mit knapp 60 Jahren einfach "geschehen" sein. Verfasst in einem einzigen Flow.


Dienstag, 17. Dezember 2024

Han Kang: Die Vegetarierin (2007)

Die südkoreanische Autorin Han Kang erhielt dieses Jahr den Nobelpreis für Literatur. Wie so häufig, wenn es sich nicht gerade um Bob Dylan handelt, ist die erste Reaktion nach der Verkündigung: Wer? Meistens kennt man die prämierten Schriftsteller nicht einmal dem Namen nach. Dem Lesefrüchtchen ging es auch heuer wieder so: Han Kang, wie überhaupt die südkoreanische Literatur, ist eine Terra inkognita, die es aus gegebenen Anlass erstmals zu erkunden gilt, und zwar mit Die Vegetarierin, dem 2016 als ersten auf Deutsch übersetzten Roman der Autorin, der ausserdem der bislang erfolgreichste ist und auch bereits verfilmt.

Die Geschichte ist ebenso schlicht wie die Sprache, in der sie erzählt wird. Aufgrund von Alpträumen beschliesst eine Frau namens Yong-Hye von einem Tag auf Fleisch zu verzichten, was - wie uns der Klappentext erklärt: weil Vegetarismus in Südkoreabei als subversiv gilt - bei ihrem Ehemann und mehr noch in ihrer Familie auf grosses Unverständnis, ja Widerstand stösst. Als sie bei einem gemeinsam Abendessen zum Fleischkonsum gezwungen wird, schlitzt sie sich vor allen mit einem Obstmesser das Handgelenk auf. Ans diesem Suizidversuch, der die Frau in die Psychiatrie bringt, zerbricht die Ehe. Als sie wieder aus der Klinik entlassen wird, kommt es zur Annäherung an ihren Schwager, einem Videokünstler, der länger schon eine erotische Phantasie mit seiner Schwägerin in seinem Skizzenheft festhielt. Insbesondere fasziniert ihn ihr Mongolenfleck. So nennt man ein bei asiatischen Kindern häufig auftretendes bläuliches Muttermal am Steiss, das im Laufe der Adoleszenz aber wieder verschwindet. Nur bei Yong-Hye nicht, was ein relativ offensichtliches Motiv für ihr regredierendes Wesen ist. Sie sehnt sich danach, zur Pflanze zu werden, während ihr Schwager sich mit ihr vereinigen möchte. Zu diesem Zweck verleitet er sie zu einer Kunstperformance, bei der er zuerst ihren Körper von oben bis unten mit Blumen bemalt, danach denjenigen eines Künstlerfreundes, wobei er beide vor laufender Kamera zu Körper- und softpornographischem Sexualkontakt animiert, was der Freund aber empört ablehnt. Schliesslich lässt sich der Künstler von einer früheren Freundin selbst mit Blumen bemalen und gelangt somit zum lange ersehnten Beischlaf mit seiner Schwägerin, die sich dieser pflanzlichen Vereinigung tranceähnlich hingibt. Als dies seine Frau entdeckt, zerbricht auch diese Ehe, und sie steckt ihre Schwester wieder in die Psychiatrie. Der Schluss des Buches handelt vom verzweifelten und wahrscheinlich auch vergeblichen Versuch, die Schwester am Leben zu halten, die nun gänzlich die Nahrung verweigert, nur noch Wasser und Sonnenlicht zu sich nimmt, um durch diese Photosynthese zum Baum zu mutieren und kopfüber ins Erdreich einwurzeln möchte. 

Soweit der äussere Hergang der Handlung, die weitgehend auch rein äusserlich und oberflächlich bleibt und auch in einer eigentümlich unterkühlten, klinischen Sprache erzählt wird. Abgesehen von den kursiv gesetzten Gewaltträumen der Protagonisten dringt die Erzählung nicht in die Tiefe und verzichtet auch weitgehend auf Erklärungen. Der Kunstgriff liegt im Wechsel der Erzählperspektive: Jeder der drei Teile wird aus einer anderen Sicht geschildert, so dass Yong-Hye stets aus einer Aussenperspektive wahrgenommen wird und ihre innere Motivation zwangsläufig rätselhaft bleiben muss. Die Vegetarierin ist trotz oder wegen dieser distanzierten und sterilen Erzählweise ein zunehmend beklemmendes, ja bedrückendes Buch. Weniger wegen der unerklärten Wandlung der Protagonistin an den Rand der Magersucht und des Wahnsinns, sondern weil ihre Schwester in der Radikalität dieser Lebensverweigerung am Ende schlagartig ihre eigene Lebensverfehlung erkennt. Das Verhalten Yong-Hyes bewirkt eine schleichende Erosion des Alltags, die ihre Schwester schliesslich in eine veritable Lebenskrise stürzt. Die Figur der Schwester bildet somit den Fluchtpunkt des Romans, weshalb der dritte und letzte Teil nicht zufällig aus ihrer Sicht erzählt wird und relativ abrupt mit einem surrealen Bild von brennenden Bäumen - dem einzigen phantastischen Element der Geschichte - endet und der Frage, die alles offen lässt: "Lehnt sie sich gegen etwas auf?" So wird der Roman als Parabel einer Auflehnung gegen das Korsett der Vergesellschaftung durch Familie, Ehe, Beruf lesbar. Das vegetative Dasein als Pflanze erscheint als Utopie eines von allen Fesseln befreiten Lebens.

Sonntag, 15. Dezember 2024

Kurt Vonnegut: Schlachthof 5 (1969)

Kurt Vonnegut, Verfasser satirischer Science-Fiction-Romane, erlebte als gefangener amerikanischer Soldat hautnah den Bombenangriff auf Dresden im Jahr 1945. Seit diesem Erlebnis wollte er die Erinnerungen daran zu Papier bringen, doch er fand nie die richtige literarische Form dafür, wie er im Vorkapitel zu diesem Buch erläutert. Bis er schliesslich auf die Idee verfiel, gänzlich von einem Erlebnisbericht abzusehen und die Geschichte wie eine wahnwitzige Science Fiction Story zu erzählen. Er durchmischt seine Kriegserinnerungen mit extraterrestrischen Versatzstücken der aus seinen Romanen bekannten Tralfamadoniern, worauf im barocken Untertitel auch angespielt wird, und schickt eine fiktive Figur namens Billy Pilgrim auf eine abenteuerliche Reise durch Raum und Zeit, was es schier unmöglich macht, den trotz seines bescheidenen Umfangs überbordenden Roman auch nur einigermassen sinnvoll zusammenzufassen.

Doch beginnen wir beim Namen, denn Nomen est bekanntlich omen: Der Pilger Pilgrim ist eine Art Inkarnation des ewigen Juden, der zu rastloser Wanderung verdammt ist. Nicht nur, dass Billy von einem Moment auf den anderen wild durch seine Lebensgeschichte und erst noch auf fremde Planeten katapultiert wird, er durchlebt während seiner Zeitreisen auch unentwegt alle Phasen seines Daseins. Was den tröstlichen Aspekt hat, dass er selbst in den schlimmsten Situationen niemals um seinen Tod fürchtet, weil er ihn bereits kennt. "So geht das." - Diese im Roman refrainartig wiederkehrende Formel bringt Vonnegut jedesmal, wenn jemand stirbt, ermordet wird oder sonstwie ums Leben kommt. Und das geschieht am Laufmeter, was der lapidaren Formel einen bitterironischen Unterton verleiht. Sie demonstriert die Gleichgültigkeit mit der im Krieg das Leid und die Vernichtung so vieler Menschen hingenommen wird.

Der Klappentext zitiert den Kritiker Hans Sahl mit der Aussage, es sei "ein Buch gegen die Unmenschlichkeit". Wer dabei nun einen moralisch hochgestreckten Zeigefinger erwartet, liegt falsch. Vonnegut erzählt schrill, grell, mit comicartigen Bildern und, zeitreisebedingt, im hektischen Wechsel der Szenen, die mal in Billys Vergangenheit führen, mal auf den Planeten Tralfamadore, dann wieder in die Dresdener Szenerie, wo er gemeinsam mit britischen und amerikanischen Soldaten im Schlachthof 5 in Gefangenschaft war, als der Bombenhagel über der Stadt losging. Gegen Ende des Romans liegt Billy im selben Krankenhaus wie der Militärhistoriker Copeland Rumfoord, ein arroganter Grosssprecher, der in seinem 27bändigen Standardwerk über die "Amtliche Geschichte der Heeresluftwaffe im Zweiten Weltkrieg" den verheerenden Luftangriff auf Dresden systematisch unterdrückte und Billy keines Blickes würdigte, als dieser behauptete, er sei selbst vor Ort gewesen.

Vonneguts Schwierigkeiten mit seinem Erlebnisbericht dürften mit diesem öffentlichen Verdrängungsprozess zusammenhängen: Eine Geschichte, die niemand hören will. Deshalb legt er sie dem denkbar unglaubwürdigsten Zeitzeugen in den Mund, einer rührend-naiven Figur, die aufgrund übermässiger Lektüre von Trivialromanen des erfolglosen SF-Autors Kilgore Trout an Zeitreisen glaubt und davon überzeugt ist, von Ausserirdischen entführt worden zu sein. Mit derselben Selbstverständlichkeit spricht er über seinen Aufenthalt auf Tralfamadore wie über über die Katastrophe von Dresden und verleiht seiner Erzählung somit einen fragwürdigen Wirklichkeitsstatus und dem Buch insgesamt alle Ingredienzien eines postmodernen Romans, der frei mit historischen, fiktionalen und auch intertextuellen Versatzstücken umgeht (etwa zu dem im Untertitel erwähnten Kinderkreuzzug oder zu John Bunyans The Pilgrim Progress).

Zu diesem postmodernen, metafiktionalen Spielformen gehört auch ein - wohl spektakulärer! - Cameo-Auftritt des Autors selbst, der seiner eigenen Figur im deutschen Gefangenlager begegnet. Dort auf der Latrine wird Billy Zeuge einer üblen "Scheißorgie", bei der ein Amerikaner verzweifelt darüber klagt, dass er sogar sein Hirn herausgeschissen hätte: "Das war ich. Ich war das. Das war der Verfasser dieses Buches."


Donnerstag, 28. November 2024

George Tabori: Son of a bitch (1981)

George Tabori, ursprünglich aus Ungarn stammender Drehbuchautor, Dramatiker, Übersetzer, Schriftsteller und Schauspieler, arbeitete mit Bert Brecht und Alfred Hitchcock zusammen und schrieb am Wiener Burgtheater sowie am Berliner Ensemble Theatergeschichte - eine Koryphäe, ja fast schon eine Legende des Nachkriegstheaters. Er gehört zu jenen Gestalten, die den Holocaust hautnah miterlebt haben - Taboris Vater ist in Auschwitz gestorben, er selbst konnte sich durch einen vorgetäuschten Selbstmord unter dem Decknamen George Turner in die britische Armee einschleusen -, sich davon aber nicht abschrecken oder in die Knie zwingen liessen, sondern erst recht ihre kreative Lebensenergie daraus zogen. Ein bekanntes Bonmot von Tabori ist die Frage, welches der kürzeste Witz sei. Die Antwort: Auschwitz. Diese durch nichts zu erschütternde Schwarzhumorigkeit fliesst auch ungefiltert in Taboris literarische Prosa ein, speziell auch in diesen "Roman eines Stadtneurotikers", wie es in der deutschen Übersetzung im Untertitel heisst.

Stadtneurotiker, bei diesem Wort denkt man sofort an Woody Allen. Und diesen Vergleich kann man durchaus ziehen, wenngleich Taboris Protagonist die Figuren aus Allens Filmen bei Weitem übersteigt. Das Fahrige, Nervöse und Konfuse weicht bei Tabori einer zynischen Gesellschaftsanalyse und einem ätzenden Sarkasmus. Ein richtiger "Son of a bitch" eben. So nennt sich der Protagonist selbst mit der Begrünung, Schmerzen machen einen "ganz bösartig, zum son of a bitch" - und er wird auch von anderen so bezeichnet. Es handelt sich um Arthur, einen New Yorker Lebensversicherungsagent für die Upper Class, der ironischerweise aber selbst an einer Krankheit laboriert, was er sich um keinen Preis anmerken lassen will, um nicht unglaubwürdig zu wirken. Doch seine Schmerzen nehmen fortlaufend zu, auch wenn er es verleugnen will - vor sich und erst recht vor seiner Umgebung. Längst schon ist die Epoche "V.S., Vor meinen Schmerzen" passé.

Ein gesellschaftssatirisches Glanzstück, in dem Prestigedenken, Machtgebaren und Dekadenz herrlich seziert werden, bildet das Diner bei einem Klienten, mit dem er es keinesfalls verderben will, weshalb er alles daran setzt, dass der Abend gut - und dass heisst zur Zufriedenheit des Gastgebers - über die Bühne geht. Arthur motiviert seine Frau nicht nur dazu, ihre "Titten" vorteilhaft im Dekolleté zu richten, er zwingt sich selbst sogar trotz heftiger Schmerzen das Essen herunterzuwürgen, obschon im bereits ein "Stück harter Kot" die Speiseröhre hinaufkriecht. Allein aus Angst den Gastgeber, der sich als wahrer Egozentriker und Sadist herausstellt, zu verstimmen, was auch beinahe geschieht, als Arthur zunächst dankend seine Portion ablehnt. Wie er dann aber schwitzend an seinem monströsen Beefsteak kaut und vor dem geistigen Auge all die Dinge durchrechnet, wie ein Strandhäuschen in Easthampton, die er sich dank seinem Kunden leisten kann, ist von schneidender Komik. 

Sonntag, 17. November 2024

Dino Buzzati: Die Mauern der Stadt Anagoor. Erzählungen (1987)

Das Grauen nimmt kein Ende. Nachdem das Lesefrüchtchen zu Hanns Heinz Ewers und H.P. Lovecraft griff, zieht es nun Dino Buzzati aus dem Regal, der freilich eine ganz andere Art von Schauergeschichten verfasste, die weniger dem blanken Horror, sondern - wenn man so will - eher einem metaphysischen Gruseln verpflichtet sind. Meistens fungieren die Erzählung zwar ebenfalls nach dem Prinzip, dass etwas Unerklärliches oder Übersinnliches in den Alltag tritt und die Geschehnisse fortan schicksalhaft bestimmt, Buzzati im Unterschied zu Ewers und Lovecraft jedoch mehr an der psychologischen Seite solcher Phänomene interessiert ist, weshalb seine Erzählungen oft ins Allegorische und Parabelhafte driften. Die mitunter phantastischen Geschehnisse wollen sich als Gleichnisse verstanden wissen. Nicht völlig zu Unrecht ist der 1906 in Belluno bei St. Pellegrino geborene Autor und Journalist daher schon zum 'italienischen Kafka' erklärt worden.

Die Titelgeschichte des vorliegenden Bandes Die Mauern der Stadt Anagoor mit Erzählungen aus den 1940er und 1950er Jahren liesse etwa sich leicht als Variante von Kafkas Türhüter-Parabel begreifen. Ein namenloser Ich-Erzähler wird in der Sahara an einen Ort geführt, der auf keiner Landkarte verzeichnet ist: eine mit hohen Mauern umgebene Stadt mitten in der Wüste. Dort lagern unzählige Menschen und warten bereits seit Jahren darauf, dass sich das Tor öffnet, um eingelassen zu werden. Dabei steht nicht einmal fest, ob die Stadt auch wirklich bewohnt ist. Es kursiert lediglich die Legende, dass einst ein "einziger Mensch", ein Pilger der sich zufällig vor den Toren aufhielt und nicht einmal wusste, dass es sich um die begehrte Stadt Anagoor handelt, Einlass erhielt. Das allein verschafft den Wartenden ein den Glauben einer "nahen Glückseligkeit". Dem Erzähler jedoch reisst nach 25 Jahren der Geduldsfaden und er bricht sein Lager ab, was von den anderen mit der Bemerkung quittiert wird: "Du verlangst zuviel vom Leben".

Die Anspielung auf Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" ist zu offensichtlich, auf deren Folie sich auch die Schlusspointe der Erzählung erschliesst: Der Mann vom Lande bei Kafka wurde erst bei seinem Tod eingelassen. Das Warten vor dem Tor ist ein existentielles Gleichnis. Auch sonst scheint Buzzati intertextuell eng mit einigen Klassikern der phantastischen Moderne verknüpft. Ein übermütiger Mensch präsentiert eine Art Bartleby-Figur, in Der Hund, der Gott gesehen hatte stirbt ein Eremit ausgestreckt wie Robert Walser im Schnee (der Text erschien allerdings zwei Jahre vor Walser Tod) und eine Erzählung trägt mit Der Mantel denselben Titel wie Gogols berühmte Novelle. Auch Jorge Luis Borges liesse sich als literarischer Anverwandter nennen, weisen seine dichten, paradoxen Kurzgeschichten doch etliche Parallelen mit Buzzatis Prosa auf. Ohne dass damit eine bewusste Bezugnahme auf die genannten Autoren behauptet werden soll, lässt sich Buzzatis Prosa motivgeschichtlich in diesem Kontext verorten, auch wenn sein Name im Vergleich weniger bekannt sein dürfte. Als Entdeckung lohnt sich Buzzati aber allemal.

Wie Borges geht auch Buzzati meist von einer abstraktem, metaphysischem Problem aus, das er zu einer parabolischen, gleichnishaften Erzählung ausgestaltet. So etwa in der Eingangserzählung Wenn es dunkelt. Ein erfolgreicher Mann in seinen besten Jahren wird auf dem Dachboden mit seinem kindlichen Alter Ego konfrontiert. Während er von seinem früheren Ich Bewunderung und Achtung vor seiner Lebensleistung erwartet, zeigt sich das Kind eher enttäuscht von seinem späteren Selbst. Die Frage nach dem Sinn des Lebens, das Streben nach einem erfüllten Dasein, aber auch die sich wandelnde Selbstwahrnehmung im Laufe der Zeit wird hier in eine spannungsreiche Konstellation gebracht. Ebenfalls auf einem Dachboden spielt die mitunter längste Erzählung Die Bodenkammer. Hier taucht plötzlich eine Kiste mit Äpfeln auf, so verlockend, dass ein Maler nicht widerstehend kann und durch den Biss in den Apfel in ekstatische Rauschzustände gerät, die er fortan stets wieder aufsuchen will. Was folgt ist - unter dem Motiv des biblischen Sündenfalls - das drastische Gleichnis einer Sucht, die den Betroffenen selbstquälerisch zwischen auferlegten Verboten und permanenter Selbstüberlistung oszillieren lässt.

Das Einbrechen des Irrationalen oder Übersinnlichen in das Leben eines Menschen bildet ein wiederkehrendes Motiv bei Buzzati. Aus dieser Grundkonstellation entwickelt er in einer präzisen, schnörkellosen Sprache die Psychogramme seiner Figuren. Das kann eine Kiste Äpfel sein, aber auch der Tod, eine unheilbare Krankheit wie Aussatz oder ein Tier wie ein gigantischer Igel oder - wie in der zweiten längeren Erzählung - ein herumstreunender Hund, von dem die gesamte Bevölkerung annimmt, es handle sich um den Vierbeiner des kürzlich verstorbenen Heiligen auf dem Hügel. Sie verfallen deshalb auf die fixe Idee, dass Gott höchstpersönlich sie durch dieses Tier observiere, weshalb sie in seiner Gegenwart ein gänzlich anderes Verhalten an den Tag legen und auf ihre heimlichen Sünden verzichten. Sie steigern sich sogar richtiggehend in einen Kult des Hundes hinein und verehren ihn wie ein Totemtier, bis sie auf das Grab des Heiligen pilgern und dort ein Hundeskelett erblicken, das ihnen schlagartig vor Augen führt, dass sie einem falschen Glauben aufgesessen sind: Das angebetete Tier war irgendein Strassenköter, der Hund des Heiligen ist längst mit seinem Herrn verschieden.

Der Band erschien in der "Reihe religiöser Erzählungen", weshalb die Herausgeberin Elisabeth Antkowak ihre Auswahl auf Texte stützte, in denen Fragen nach Gott und Tod, Gut und Böse, Gnade und Schicksal im Zentrum stehen. Im eigentlichen Sinne religiös können die Erzählungen dennoch nicht genannt werden, da sie einerseits keine spezifischen Glaubensinhalte transportieren, zum anderen auch in keinster Weise erbaulich sind, wie das die Herausgeberin gern suggerieren möchte, wenn sie insbesondere auf den Aspekt der Hoffnung abhebt. Doch sind die allermeisten Erzählungen alles andere als hoffnungsvoll, im Gegenteil enden sie oft auf die fatalste Weise, ohne Aussicht auf Trost, Rettung oder Umkehr. Der Verlauf jeder Erzählung steuert unerbittlich immer in Richtung Verdammnis zu. Wo die Herausgeberin da noch Hoffnungsschimmer aufblitzen sieht, bleibt ein Rätsel, heisst es an einer Stelle doch vielmehr unmissverständlich explizit: "Keine Hoffnung!" und "kein Heilmittel".

Der Mensch, so sehr er sich nach Transzendenz sehnt und sein Wunsch nach göttlicher Gnade zum Ausdruck kommt - bei Buzzati wird sie ihm fast durchwegs verwehrt. Sie sind von Anbeginn Verdammte, die sich ihrem Schicksal schliesslich widerstandslos ergeben. Alles andere wäre literarisch auch wenig erspriesslich. 

Donnerstag, 7. November 2024

H. P. Lovecraft/August Derleth: Das Grauen vor der Tür (1945)

Nach Hanns Heinz Ewers greift das Lesefrüchtchen zu einem anderen Meister des gepflegten Horrors: zu H. P. Lovecraft. Im Unterschied zu Ewers, bei dem das Grauen stets lebensweltlich verankert ist, steigt es bei Lovecraft aus den Untiefen der kosmischen Vergangenheit, aus dem All oder aus übersinnlichen Sphären auf. Jedenfalls handelt es sich um ein Ding, welches das menschliche Fassungsvermögen auf vernichtende Weise übersteigt. Eine Art totales Erhabenes, das den Menschen - anders als bei Kant - nicht auf seine seelische Überlegenheit zurückwirft, sondern ihn schlichtweg zermalmt. So auch in dieser Geschichte, die der mit Lovecraft befreundete Horrorschriftsteller August Derleth auf Basis von hinterlassenen Fragmenten rekonstruiert und 1945 als Kollaboration beider Autoren publiziert hat. Die deutsche Übersetzung nennt allerdings Lovecraft als Hauptverfasser, obschon ausschliesslich die Idee von ihm stammt, der quantitativ überwiegende Teil des Textes jedoch von Derleth ausgeführt wurde. Leider, wie man feststellen muss.

Passenderweise präsentiert sich die Erzählung selbst als Rekonstruktion aus verschiedenen hinterlassenen Aufzeichnungen, die schachtelartig die entsetzlichen Ereignisse aus der Perspektive von drei verschiedenen Personen schildern. Die Entstehungsbegingen sind somit als fiktionale Rahmung mit in den Text eingeflossen. Das soll der Geschichte einerseits eine Pseudoauthentizität verleihen, andererseits erweist sie sich mit der obsessiven Beschäftigung alter Schriften und Bücher auch als reine Bibliotheksphantastik. Es handelt sich im Kern um die Recherche und den Vorstoss in eine uralte Mysterien, die man besser hätte ruhen lassen sollen. Ambrose Deward, ein Spross der Familie der Billingtons zieht in das abgelegene Landhaus seiner Vorfahren in den düstern Wäldern nördlich der fiktiven Stadt Arkham in Massachusetts ein und trifft dort nicht nur merkwürdige Gerüchte über das dubiose Treiben seiner Ahnen an - die Rede ist von seltsamen Geräuschen aus dem Wald und zerquetschte Leichen -, sondern er findet auch rätselhafte Aufzeichnungen, auf die er sich primär keinen Reim machen kann. Mehr und mehr wird Deward von der düstern Atmosphäre des Hauses eingenommen, so dass er seinen Cousin zu Hilfe ruft. Dieser findet ihn aber in einem schizophrenen Zustand wieder, der zwischen Hilflosigkeit und Böswilligkeit changiert. Auch wiederholen sich die Ereignisse, die seltsamen Geräusche sind wieder hörbar und neue zermalmte Leichname werden aufgefunden. Der Cousin geht der Vergangenheit des Hauses und des im Wald befindlichen Steinturmes weiter nach und konsultiert deswegen einen Spezialisten namens Dr. Lapham, der ihm schliesslich das schreckliche Geheimnis offenbart, das sich mit Billingtons Anwesen verbindet.

Wie immer bei Lovecraft sind es vorzeitliche, monströse Gottheiten, die "Grossen Alten" genannt, die lange vor der Menschheit, in prähumanen Dimensionen, existierten und periodisch wiederkehren, um die Menschen zu unterjochen, sobald sie rituell angerufen werden. In diesem Fall war es der alte Billington, der zusammen mit einem Priester und einem Indianer, im Steinturm den "grauenhaften Aussenweltlern" ein irdisches Einfallstor geschaffen hatte. Dort öffnete sich periodisch die Türe, damit die Unwesen aus einer Art ausserweltlichem Limbo, einem zeit- und ortlosen "Draussen", in die Lebenswelt eindringen konnten. Darauf bezieht sich der Titel "Das Grauen vor der Tür". Dort, an der Schwelle, lauern die kosmischen Monstren, nur erpicht darauf, die Macht wieder an sich zu reissen. Alle Versatzstücke dieser "grotesken und schrecklichen Mythologie" von dem oktopoiden Cthullu in der versunkenen Stadt R'Leyh bis zum Necronomicon aus der Feder des Arabers Abdul Alhazred, die Lovecraft systematisch entwickelte, werden am Ende des Romans von einem Dr. Lapham in aller Länge und Breite vordoziert, was dem Roman nicht nur einen läppisch didaktischen Charakter verleiht, sondern für eingefleischte Lovecraft-Fans überdies alles andere als überraschend sein dürfte. Der Spannung ist dies mehr als nur abträglich, da von Anbeginn klar ist, welches 'Rätsel' da gelüftet werden soll. Zu allem Überfluss werden alle Lösungsschritte in ermüdender Redundanz vorgetragen.

Auch an den irrsinnigen Sprachexzessen Lovecrafts mangelt es der eher spröden Diktion Derleths  weitgehend, um die phantastische Aussenwelt in all ihren unbegreiflichen Schrecken wirklich plastisch zu gestalten. Hierin zeigt sich auch das wahre Genie von Lovecraft: Nicht auf der Ebene des Plots oder der Geschichte, sondern in der opulenten Sprachmacht, wie er die ewig gleichen Phantasien in stets berauschend neue Worte fassen konnte.

Freitag, 1. November 2024

Hanns Heinz Ewers: Geschichten des Grauens (1907/1908)

Zu Halloween gönnt sich das Lesefrüchtchen ein paar Schauergeschichten aus der Feder von Hanns Heinz Ewers, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein vielgelesener und äusserst produktiver Schriftsteller und Drehbuchautor - z.B. für den Gruselfilm Der Student von Prag (1919) - des damals hoch im Schwange gewesenen Genres der Phantastik war, bevor er in den Nationalsozialismus abglitt. Er gilt als Meister des Makaberen, immer hart an der Grenze zur Geschmacklosigkeit. Mit der kurzen Erzählung Die Tomatensauce verfasste er einen der ersten bekannten Splatter-Texte. Insbesondere seine Romane rund um die Figur von Frank Braun - Zauberlehrling (1909) und Alraune (1911) - erfreuten sich in ihrer Mischung aus Okkultismus, Horrorelementen und lüsterner Erotik grosser Beliebtheit. Das sind auch die Elemente, die weitgehend seine Schauergeschichten auszeichnen, u.a. publiziert in den Bänden mit den sprechenden Titeln Das Grauen. Seltsame Geschichten (1907), Die Besessenen. Seltsame Geschichten (1908) oder Mein Begräbnis und andere seltsamen Geschichten (1917), von denen vier 1972 neu aufgelegt wurden.

Gleich die erste Erzählung vollzieht einen für Ewers typischen Tabubruch, auch für heutige Verhältnisse, erst recht zur damaligen Zeit. Es geht nämlich um Nekrophile, die überdies recht freizügig geschildert wird. Wie ebenfalls typisch für Ewers wird die eigentliche Geschichte erst durch eine längere Rahmenhandlung eingeleitet, in der die historische Situation - die Handlung spielt in einer amerikanischen Ausländer-Siedlung während des Ersten Weltkriegs - und die beteiligten Personen überdetailiert eingeführt werden. Das Hauptpersonal besteht aus Stephe, dem einfältigen Totengräber, und dem niederländischen Hochstapler Jan Olieslager, die zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammenwachsen. Olieslager verhilft Stephe dazu, dass er aus der Armee ausgemustert wird, während Stephe dem Hochstapler im Gebeinhaus auf dem Friedhof, wo er wohnt, Obdach bietet, nachdem dieser aufgeflogen ist. Olieslager hat längst bemerkt, dass sein verschlossener Kumpan ein Geheimnis mit sich herumträgt, und will es auf Teufel komm raus ergründen. Es stellt sich heraus, dass der ansonsten beziehungsunfähige Stephe sich nächtens mit frischen Frauenleichen vergnügt, im Irrglauben, dass sie mit ihm sprechen, ihn liebkosen und beschenken. Nachdem Olieslager seinen Freund zur Beichte gezwungen hat, scheint die Obsession aufzuhören, da verliebt sich Stephe aber in die bildhübsche Gladys Paschiitsch und erwartet seitdem nichts sehnsüchtiger als ihr Tod, der dank einer Seuche, oh Wunder, auch tatsächlich eintritt. Doch das Schicksal meint es nicht gut mit Stephe, denn die heimlich geliebte Gladys soll nicht auf dem Friedhof beerdigt, sondern kremiert werden. Tief in der Seele erschüttert durch diesen 'Liebesverrat' kündigt er seinen Job und ward nicht mehr gesehen.

Die zweite Erzählung ist die schwächste, eher eine tragische Liebesgeschichte als wirklich eine Geschichte des Grauens. Sie steht zu Unrecht in diesem Band. Geschildert wird, wie so oft bei Ewers in der Nacherzählung eines direkt Beteiligten, um die Intensität zu steigern, wie eine junge Frau ihren frisch Verlobten in einer stürmischen Nacht draussen im Wald beim Sterben an einem Schlangenbiss beiwohnt, während er unendliche Qualen leidet. Es heisst, sie hätte in dieser Nacht "in die offene Hölle gesehen", weil ihr Geliebter nicht ganz ohne ihr Verschulden so qualvoll verenden musste. Zuvor hatte sie, um ihn vom Trinken abzuhalten, die Weinflaschen mit Wasser umgefüllt. Gerade die Stärke des Weines hätte ihn, so mutmasst der Erzähler, möglicherweise bei Kräften gehalten, bis der Arzt zu Hilfe kam. Doch er kam zu spät.

Die dritte Erzählung Der Spielkasten ist in Französisch-Indochina angesiedelt. Ewers, der vor dem ersten Weltkrieg Spanien, Mittel- und Südamerika sowie Indien, Südostasien, China und Australien bereiste - liess seine aussereuropäischen Erfahrungen häufig literarisch einfliessen, was ihm erlaubte, die Schrecken in exotische Gefilde und fremde Kulturen zu verlegen. So schildert er in der Erzählung Die Mamaloi in drastischer Genauigkeit das grausame Ritual eines Voodookultes in Haiti, bei dem in kollektiver Ekstase nicht nur Tiere, sondern auch ein Kleinkind geopfert werden. In Der Spielkasten ist es die asiatische Kultur, welche die europäische Leserschaft in Schrecken versetzen soll, wenn bspw. die bestialischen Mordmethoden der "gelben Schweinhunde" geschildert werden, die ihren Opfern mit glühenden Nadeln die Augen ausstechen oder lebende Ratten in die Eingeweide nähen. Doch darum geht es in einer längeren Rahmengeschichte nur am Rande: Im Kern geht es um die Rache des vietnamesischen Herrschers und Philosophen Hong-Dok an einem deutschen Legionär, weil dieser ihm eine seiner neuen Frauen ausgespannt hat. Er rächt sich jedoch nicht aus Eifersucht, sondern aus verletztem Stolz, weil er sich zunächst von den Schmeicheleien des Legionärs täuschen liess, ehe er entdeckte, dass sie bloss Mittel zum Zweck und keineswegs ernst gemeint waren. Dass ihn seine Frau betrügt, mag der dulden; dass er jedoch an der Nase herumgeführt und für dumm verkauft wird, reizt seinen Zorn bis aufs Blut. Er lässt den Legionär mitsamt der Frau kreuzigen, näht ihnen den Mund zu damit sie nicht schreien können und setzt die Gekreuzigten auf einem Floss im krokodilreichen Roten Fluss aus - und lässt das ganze "Drama von Fort Valmy" überdies in einem Spielkasten für die Ewigkeit nachbilden.

Die vierte Geschichte handelt vom Grafen Vincenz d'Ault-Onival und seiner unverständlich tragischen Liebe zu Stanislawa d'Asp, einer heruntergekommen, total verruchten Hure, die ihn keines Blickes würdigt, ja ihn vielmehr verspottet und beleidigt und jede seiner hehren Liebesbezeugungen auf entehrende Weise in den Schmutz zieht. Erst als die Dirne aufgrund ihres lasterhaften Lebenswandels an Schwindsucht zu sterben droht, willigt sie in die Beziehung zum Grafen ein, der sie auf diverse Kuraufenthalte mitnimmt und somit nicht nur für ihre Genesung, sondern auch für ein besseres Leben sorgt. Während der Graf in der Beziehung seine Erfüllung findet, stellt sie für Stanislawa nurmehr eine willkommene, eigennützige Gelegenheit dar: "Und als sie dann anfing zu lieben - und als sie liebt - - liebte sie doch nicht ihn, sondern nur seine grosse Liebe." Mit anderen Worten: Sie nutzt des Grafen Gefühle nach Strich und Faden aus, quält ihn weiterhin seelisch und hintergeht in sogar mit einem seiner Freunde. Doch nichts vermag die grosse Liebe des Grafen zu erschüttern, weshalb Stanislawa eine letzte Perfidie ersinnt. Kurz vor ihrem Tod lässt sich zur Katholiken taufen, um dem streng gläubigen Grafen das Gelübde abzunehmen, ihr letzter Wille wortgetreu zu erfüllen, der darin besteht, dass ihre Gebeine drei Jahre nach dem Tod in einer Urne der Familienkapelle beigesetzt werden. Da dieser Wunsch nicht aussergewöhnlich ist, weil er der Tradition entspricht, wundert sich der Graf, weshalb sie ihn darauf beim Glauben schwören liess. Erst als er nach drei Jahren das Grab ausheben lässt, erkennt er schlagartig den Grund: Stanislawa hat ihren toten Körper konservieren lassen, so dass er auch nach drei Jahren keineswegs verweste, sondern in strahlender Schönheit vor ihm liegt. Um ihren letzten Willen zu erfüllen, sieht sich der Graf also gezwungen, den bezaubernden Leichnam eigenhändig zu zerstückeln, damit er in die Urne passt. Mit wahnsinnigem, übergeschnapptem Gelächter macht er sich ans grausame Werk, an die letzte Demütigung, die ihm Stanislawa post mortem zugedacht hat. Und auch sie lacht ihn noch vom Grab heraus aus. 

Mittwoch, 30. Oktober 2024

Michelle Steinbeck: Favorita (2024)

Wie reagiert man, wenn man vom Tod der eigenen Mutter erfährt? Mersault bei Albert Camus vergiesst keine Träne, vielmehr nimmt er mit grosser Gleichgültigkeit an der Beerdigung teil. Auch die Ich-Erzählerin von Michelle Steinbecks neuem Roman nickt zuerst emotionlos, als ihr ein anonymer Anruf aus einem italienischen Spital mitteilt, ihre Mutter sei nicht nur verstorben, sondern ermordet worden. "Nun bin ich sie endgültig losgeworden", lautet der erste lapidare Gedanke der Tochter. Schon bald aber begibt sie sich, leidend an ihrer Herkunftslosigkeit, auf die Spuren der Mutter Magdalena, die für sie, da zu Lebzeiten ständig abwesend, nicht mehr als ein Phantom war, und damit auch auf in eine unbekannte Vergangenheit. Während der Reise nach Rom, erfahren wir in verschiedenen Rückblenden, wer Magdalena war und weshalb es zur Entfremdung zwischen ihr und ihrer Tochter Filippa gekommen ist, die hauptsächlich bei der Grossmutter aufgewachsen ist, nachdem der alkoholkranken Mutter das Sorgerecht entzogen wurde.

Wie sich herausstellt war Magdalena nicht nur eine notorische Trinkerin, sondern auch eine Prostituierte, bekannt unter ihrem, wenn man so will, 'Künstlernamen' Favorita. Nachdem Filippa die Ich-Erzählerin, die Asche ihrer Mutter im Spital abgeholt hat, stösst sie in der "Strasse der Frauen" per Zufall zu einer Gruppe von Prostituierten, der früher auch Favorita angehörte. Sie haben sich in einer stillgelegten Salamifabrik einquartiert , um dort als moderne Hexen eine Bastion gegen das Patriachat einzurichten, von dem sie ausgebeutet und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Sorella, eine von ihnen, hat in einem als Diorama umfunktionierten Teleskop ein "Archiv der getöteten Frauen" angelegt, das alle Fälle von Femizid registriert. Der weibliche Körper ist nicht nur Projektionsfläche männlicher Lust, sondern oft auch Zielscheibe der Gewalt. Wie Filippa erfahren muss, wurde auch ihre Mutter offenbar von einem Kerl namens "Coach" ermordet. Sie schliesst sich dem revolutionären Aufbau der prostituierten Widerstandskämpferinnen an, verliert aber bei einer Räumungsaktion der Polizei das Bewusstsein - und wacht im Auto eines gewissen Lorenzo, der sich als Zögling eben jenes "Coach" erweist. 

Hier am Kulminationspunkt des Spannungsbogens schiebt sich als grosse Binnenerzählung die "Geschichte der schönen Sisna" dazwischen: in Form einer Kriminal- und Geistergeschichte. Filippa gelangt mit Lorenzo zu einem Landhaus am Rande eines Bauerndorfes, wo sie zusammen mit ihm alles für die Gesellschaft des Coach vorbereiten soll, eine Gruppe von Faschisten, die in ein paar Tagen erwartet wird. Sie schürt Rachephantasien und plant, am Coach für den Tod ihrer Mutter Vergeltung zu üben, deren sterbliche Überreste sie in der Urne auf Schritt und Tritt begleiten. Zugleich erfährt sie, dass es im Haus spuken soll und sie entdeckt ein Heft mit Zeitungsartikeln über den spektakulären Prozess um Sisina, ein Mädchen, das am Tag vor ihrer Heirat im Wald ermordet, der Täter jedoch nie erfasst wurde. Die Tote erscheint der Ich-Erzählerin mehrfach als Geist, hält mit ihr Zwiesprache und gemeinsam schieden sie ein Rachekomplott. Im Schicksal Sisinas erkennt die Erzählerin etliche Parallelen zum Fall ihrer Mutter und beschliesst, nicht nur ihren Tod, sondern auch den Sisinas zu sühnen. In einem überbordenden Showdown kommen auch die prostituierten Rebellinnen zu Hilfe und sprengen die faschistische Versammlung auseinander. Danach eilen sie mit allen Geistern auf den Friedhof, wo ein frisches Grab für Favorita ausgehoben ist. Als die Urne beigelegt werden soll, erschüttert eine Explosion die Atmosphäre und die Asche verstreut sich in die Lüfte.

Der Roman ist durchgängig aus der Ichperspektive im Präsens erzählt, wovon in epischen Texten häufig abgeraten wird, weil es erzähllogisch kaum aufgeht, hier aber gerade die Grauzone zwischen Erlebtem und Geträumten, zwischen Wirklichkeit und Vision auf besonders eindringliche Weise ausloten kann. Der Roman trägt eindeutig phantastische Züge, zugleich behandelt er auf erfrischend unverkrampfte Weise aktuelle Zeitfragen zur toxischen Männlichkeit, zu neofaschistischen Strömungen, zum komplexen Verhältnis zwischen Begehren, Macht und Gewalt. Gerade in der Figur der als moderne Hexen auftretenden Prostituierten manifestiert sich die Spirale zwischen sexueller Dominanz und sexueller Ausbeutung der Frauen. Semantisch hervorgehoben wird dieser Zusammenhang im Begriff des "fegare", der ursprünglich "fegen" bedeutete, heute im Italienischen aber nur noch im Sinne von "ficken" Verwendung findet, was im Roman zu einem komischen Missverständnis führt, das dann symbolisch potenziert wird. In dieser Vokabel kulminiert die Grundproblematik des Romans: das Kausalverhältnis zwischen Domestizierung zur Hausfrau, Degradierung zum Lustobjekt und Femizid, also der Verachtung und Beseitigung ('Säuberung') der Frau, sobald sie sich gegen den Rollenzwang auflehnt.

Der Autorin ist ein gewaltiger Wurf gelungen, der man ihr nach dem surreal versponnenen Debut in dieser erzählerischen Wucht und dieser epischen Breite auf Anhieb nicht zugetraut hätte. Eine fulminante, handlungsstarke, zuweilen auch - wenn man etwa daran denkt, dass die Protagonisten ständig mit der Urne ihrer Mutter unterwegs ist - absurd komische Abenteuer- und Rache-Geschichte mit gehörig narrativem Drive, der sich ganz in den Dienst der Geschichte stellt, aber nie schablonenhaft oder abgedroschen wirkt - im Gegenteil: eine souveräne Erzählstimme installiert, die zuweilen sogar mit originellen Sprachschöpfungen aufwartet, z. B. "Mein Herz spechtet" (könnte auch von Arno Schmidt stammen), "So karachen wir kiesspritzend zur Villa" oder "Er lächelt, aber seine Augen sind Brunnenlöcher", wobei die Brunnenlöcher nicht nur das Leere und gleichsam Abgründige symbolisieren, sondern faktisch auch den Tatort widerspiegeln. Eine Metapher als äussert verdichtetes Zentrum. Für das Lesefrüchtchen ist Favorita klar die Favoritin für den diesjährigen Schweizer Buchpreis. Der Roman steht auf der Shortlist.

Donnerstag, 24. Oktober 2024

Mara Genschel: Midlife-Prosa. Performative Erzählungen (2024)

"Performativ" - das war einmal ein Lieblingsausdruck der Literaturwissenschaften. Wann immer ein Text genau das vollzog, wovon er auch handelte, dann nannte man das "performativ", und vor allem in der Postmoderne erfreuten sich alle an performativen Texten. Das Lesefrüchtchen mag sich noch an ein Seminar über Thomas Bernhard erinnern, wo die Dozentin in heller Entzückung darauf hingewiesen hat, dass die Passage in der Erzählung Gehen, in der unzählige Male der Ausdruck "schüttere Stelle" wiederholt wird, selbst zur schütteren Stelle des Textes wird. Voilà, performativ, quod erat demonstrandum. Ach ja, auch an sog. "performativen Widersprüchen" hatten alle ihre helle Freude, was genau das Umgekehrte meint, wenn der Text das Gegenteil dessen vollzieht, was er aussagt.

Mara Genschel wäre nicht Mara Genschel - ja, die mit dem Schnauzer -, wenn sie diese Performativität in ihrer "Midlife-Prosa" (allein schon der grossartige Titel!) selbst wieder performativ unterläuft bzw. überbietet, indem sie sie allzu wörtlich nimmt. Der Untertitel "performative Erzählung" muss also auch mit ironischem Vorzeichen gelesen werden. Alle versammelten Erzählungen drehen sich nämlich bloss um sich selbst. Performativ eben. Und selbst das reflektieren sie noch performativ in Bezug auf die Autorin: "Manches Mal schien es mir jedenfalls, als sei ihre schiere, potentielle Beobachtbarkeit der einzige Inhalt ihres schriftstellerischen Tuns." Die Erzählungen haben nichts anderes als sich selbst zum Inhalt. Besonders deutlich zeigt sich das im ersten Text, der - und das ist nach so vielen Prosatexten aus der Perspektive von Tieren oder Gegenständen nun doch ein genialer Einfall - von ihm selbst verfasst ist. Gab es das schon einmal? Ich glaube nicht.

Der Text erzählt sich sozusagen selbst, respektive äussert er sich vielmehr ziemlich mokant über seine Autorin, über ihr Aussehen, ihr Parfüm, ihre literarischen Ambitionen, da sie zum Prokrastinieren neigt und eher alles andere macht, als sich ans Werk zu setzen, und ihn, den Text, endlich zu schreiben. Worauf sie letztlich aber verzichtet und der Text so "sein schaurig offenes Ende" findet. Ähnliche gescheiterte Schreibprozesse führen - performativ, was sonst - auch die anderen Texte vor: Umständliche Vorbereitungen zu sieben Lesungen, die dann aber nicht gehalten werden; der erfolglose Neuansatz für das Verfassen eines Drehbuchs; Skizzen zu einer grossen Rede; ein sich selbstzersetzendes Anagramm usw. Und am Schluss die performative Volte schlechthin: die Kapitulation der Autorin bei der Niederschrift des eben gelesenen Buchs in Form eines Emailwechsels mit ihren Verlegern Urs und Christian.

Das klingt nun vielleicht wahnsinnig anstrengend, verschwurbelt und dekonstruktiv, bietet aber fast durchwegs eine höchst amüsante Lektüre, weil die Autorin ihr Handwerk souverän beherrscht und offenbar grossen Spass beim Schreiben hatte, der sich auf die Lesenden überträgt. Alle diese Anti-Erzählungen sind ungemein schlau, witzig, schräg, und in keiner Sekunde langweilig, obwohl die performativen Texte von eigentlich nichts anderem als von sich selbst und ihrem (Nicht-)Geschriebensein handeln. Doch versteht es die Autorin gekonnt verschiedene Register zu ziehen und gleichsam auch zu parodieren, egal ob es sich um neomodischen Jargon, die Unwägbarkeiten der SMS-Kommunikation oder die hochtrabenden Diktion von Ansprachen handelt. Die Freude am spielerischen Umgang mit den Worten ist den Texten ebenso anzumerken wie die hohe Stilsicherheit in allen Belangen. 

"Midlife-Prosa" ist Literatur auf der Höhe ihrer Möglichkeiten, weil es nicht um Weltbeschreibung geht, nicht darum 'etwas in Worte zu fassen', sondern aus der Sprache heraus etwas entstehen zu lassen. Und das gelingt der Autorin mit fast traumwandlerischer Sicherheit, egal wie scheinbar banal oder abstrus der Inhalt auch sein oder anmuten mag. Zum Vergleich die im letzten Post besprochene "Hasenprosa" von Maren Kames, deren Unbeholfenheit nun noch stärker hervortritt. Im Prinzip handelt es sich in beiden Fällen um sogenannt 'experimentelle' Texte; und gemeinsam ist ihnen überdies, dass es sich um Metatexte handelt, die den Schreibprozess und dessen Krisen mitreflektieren. Während sich aber die "Hasenprosa" in ihrer mäandernden Geschwätzigkeit verliert und irgendwie doch noch einen (biographischen) Plot einzuholen versucht, bietet die "Midlife-Prosa" konzis gearbeitete Miniaturen, die trotz ihrer Unberechenbarkeit an keiner Stelle beliebig wirken. Ganz abgesehen davon, dass ein Titel wie "Midlife-Prosa" für ein Buch über Schreibkrisen um einiges pfiffiger ist.

Warum stehen solche Bücher nie auf irgendeiner Shortlist? 

Samstag, 12. Oktober 2024

Maren Kames: Hasenprosa (2024)

Das Lesefrüchtchen tummelt sich mit Vorliebe in der literarischen Vergangenheit. Doch anlässlich der Vergabe diesjähriger Buchpreise ist es an der Zeit, sich sporadisch wieder einmal in der Gegenwartsliteratur umzusehen. Aus der Shortlist des Deutschen Buchpreises, der am kommenden Montag vergeben wird, hat es sich die "Hasenprosa" von Maren Kames ausgesucht. Was lässt der auffällige Titel wohl erwarten? Der Hase ist bekannt für seine Haken, die er schlägt. Ist diese Prosa ähnlich sprunghaft? Im 18. Jahrhundert hat Jean Paul - unter seinem Pseudonym "Hasus" - bereits einmal die "Hasensprünge" als Metapher für seinen Ideenkombinatorik und den daraus resultierenden witzig-assoziativen Schreibstil verwendet. Mit dieser Referenz auf Jean Paul liegt das Lesefrüchtchen nicht ganz unrichtig, denn tatsächlich handelt es sich bei der "Hasenprosa" um pure "Assoziationsprosa", allerdings um eine ganz anderes gelagerte als bei Jean Paul: Wo sich bei ihm das Assoziationsmaterial in neuem Witz und Sinn entzünden, bleiben hier die assoziierten Versatzstücke disparat.

Die andere literarische Referenz, die sich aufdrängt, ist Alice im Wunderland. Die Ich-Erzählerin fällt zwar nicht durch einen langen Tunnel ins Erdinnere, dafür durch ein Dach auf ein Feld, wo ihr ein Hase begegnet, der sie fortan als eine Art Totemtier oder Power Animal auf eine imaginäre Reise in die Tiefe ihres Herzens, die eigene Vergangenheit und noch weiter in eine vorsintflutliche Urzeit und hinaus ins All mitnimmt. Das Buch beginnt damit eigentlich vielversprechend mit einem fast surreal anmutenden Auftakt und einer temporeichen Sprache, die einem Feingefühl für klangliche Assonanzen verrät, die - bei einem Hasenroman wohl nicht zufällig - häufig um den Vokal a kreisen: "es bangte und knackte schon lang, dann barst es, ich krachte". Hier fügt sich noch alles zu einer zwingend dichten Prosa, die sich dann aber, je länger der Schreibstrom anwächst, ins Unbestimmte verliert. Da hilft es auch nichts, wenn die Rat- und Orientierungslosigkeit mitunter metathematisch wird, etwa wenn der Hase sich zum "Dirigenten deiner Unbrauchbarkeiten und Leidenschaften" erklärt. Auf die Dauer erschöpft sich auch die demonstrativ in Szene gesetzte Sprachvirtuosität, deren Manierismen zuweilen ähnlich aufgesetzt wirken wie die Geschichte mit dem allwissenden Hasen, der die Autorin auf ihrer Sinnsuche begleitet. Sie findet ihn, so viel sei verraten, aber ebenso wenig wie die geneigte Leserin ...

Das Problem des Buchs - als "Roman" kann man es schwerlich bezeichnen - ist seine Beliebigkeit. Die Sprunghaftigkeit ist Programm, denn es wird kaum erzählt, stattdessen mehrheitlich aufgezählt. Eine solche Enumeratio hat seit Homers berühmtem Schiffskatalog selbstredend literarische Tradition, allein hier fehlt der epische Bezug. Es werden reihenweise originelle Formulierungen, Gedanken, Kindheitserinnerungen, Beobachtungen, wikipedisches Fachwissen und Kommentare zum "frei drehenden Ereignisrad der Ultragegenwart" aufgetischt, viel und ausgiebig Literatur und Songtexte anzitiert und jede Menge Namedropping betrieben ohne ersichtlichen inneren Zusammenhang. Was den kunterbunten Mix als Gravitationszentrum einzig verbindet, ist das Ich der Autorin, die in diesem Text offenbar auch eine Art Schreib- oder gar Lebenskrise verarbeitet. Dabei breitet sie Bilder, Lieder, Texte, die ihr offenbar etwas bedeuten, vor der Leserschaft aus, ohne ihnen aber selbst Bedeutung zu verleihen. Für einen solchen Sinngebungsprozess reicht es einfach nicht aus, wenn sich Sätze wie Songs auf einer Playlist aneinanderreihen. Insofern ist eine Liedzeile der als Motto vorangestellten Band International Music durchaus zutreffend: "Für alles kennst du Wörter, die beschreiben, was du siehst | Für alles andere fehlt das Repertoire."

Die Autorin als DJane? Das Buch als Playlist? Was eigentlich eine innovative Idee sein könnte, fällt enttäuschend aus. Aus dem selben Grund: Auch die Verknüpfung von Text, Bild und Musik gelangt nicht über Willkür hinaus. Willkür wohlverstanden für die Lesenden, für die Autorin mögen die ausgewählten Songs, Bilder und Privatfotos vermutlich sogar eine emotionale oder existentielle Bedeutung und sie beim Schreiben beeinflusst haben, nur entzieht sich dieses Moment der Lektüre. Das versammelte Sprach-, Ton- und Bildmaterial transformiert sich an keiner Stelle in Literatur. Es bleibt, was es ist: Vorzeigematerial. Es geht der Autorin gar nicht ums Mit-Teilen, lediglich ums Teilen. Sie zeigt her, was ihr gehört oder gefällt - und auch was sie sprachlich alles kann. Das ist schön und recht, aber braucht es dafür einen Roman? Wenn die Literatur nicht mehr vermag, als sich über eine Ansammlung von Posts und Likes zu definieren, dann macht sie sich selbst überflüssig. Oder ist wenigstens symptomatisch für ihr Zeitalter. Es lohnt sich deshalb eher, die zitierten Songs direkt anzuhören. Als Playlist funktioniert die "Hasenprosa" bestens - und die Autorin beweist über verschiedene Stile hinweg einen sicheren Musikgeschmack. Grandios ist auch ihre Beschreibung von Princes Live-Auftritt 1985 in Syrakus. Doch weshalb steht das nochmals im Buch? Ähm ...

Eine andere tolle Stelle im Buch soll schliesslich auch noch hervorgehoben werden, weniger aus literarischer Hinsicht, sondern weil es sich um ein korrektes Statement handelt. Es ist jene, in der sich die Autorin über den Irrsinn von Lesereisen und Literaturevents beklagt, nachdem der Hase zurecht danach gefragt hat: "Wieso liest man dann nicht einfach still vor sich hin und alle bleiben zuhause?" Das ist fürwahr eine absolut berechtigte Hasenfrage, die als entferntes Echo auch an Blaise Pascals berühmten Ausspruch erinnert: "Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen." Den ganzen Literaturzirkus kann man sich tatsächlich schenken, wenn alle zufrieden zuhause lesen würden. Sollte Maren Kames den Buchpreis erhalten, dürfte das rasch unangenehm für sie werden, denn dann wird sie unweigerlich vom Räderwerk der literarischen Eventitis erfasst. Es ist der Autorin deshalb nicht zu wünschen.

Sonntag, 6. Oktober 2024

Vladimir Nabokov: Verzweiflung (1934)

Normalerweise würde das Leserfrüchtchen nicht unbedingt zu einem Buch mit dem Titel "Verzweiflung" greifen, es sei denn, es stammt wie in diesem Fall vom Meister Nabokov. In der russischen Originalsprache besitzt der Titel, wie der Autor selbst betont, auch ein "weit klangvolleres Heulen": Ottschajanije. Es handelt sich um ein - noch relativ verspieltes - Frühwerk, das 1934 zuerst als Fortsetzungsroman in der russischen Zeitschrift Sovremennye zapiski erschienen ist und vom Autor drei Jahre später auch auf Englisch übersetzt wurde. Der Roman selbst aber ist weder in Russland noch England angesiedelt, sondern in Berlin, wo sich Nabokov zur Zeit der Niederschrift auch aufhielt. Im Kern greift der Roman das insbesondere auch in der russischen Literatur verbreitete Doppelgänger-Motiv auf (man denke nur an Gogol oder Dostojewski) und strikt daraus eine listige metafiktionale Geschichte, die im Kern offenbar auf einer wahren Begebenheit beruht: ein versuchter Versicherungsbetrug, der damals in Berlin gerade für Schlagzeilen sorgte.

Am 2. Mai 1931 wird ein gewisser Kurt Erich Tetzner zur Todesstrafe verurteilt und mit der Guillotine hingerichtet, weil er zuvor mit äusserstes Brutalität einen Wanderburschen umbrachte, die Leiche zerstückelte und in seinem Auto verbrannte, um seinen eigenen Tod vorzutäuschen, den seine Komplizin und Frau unter (allerdings geheuchelten) Tränen auch bestätigte, als sie den falschen Leichnam identifizierte in der Hoffnung, eine tüchtige Witwenrente einzustreichen. Doch der Plan ging nicht auf. Nur wenige Tage nach dem Mord beginnt die Polizei zu ermitteln und verhaftet, nach der Obduktion der Leiche, Tetzner und seine Frau. Dass Nabokov der Fall bekannt war, geht aus dem Roman deutlich hervor, als er seinen Protagonisten sagen lässt: "Da war zum Beispiel ein Kerl, der seinen Wagen mit der Leiche seines Opfers darin verbrannte, nachdem er ihm vorsorglich ein Stück von den Füssen abgesägt hatte, da der Leichnam offenbar eine grössere Schuhnummer aufwies als der Autobesitzer."

Der das sagt, heisst Hermann Karlowitsch und hat ein ganz ähnliches Verbrechen begangen: Als er auf den Vagabunden Felix trifft, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten erscheint, plant auch er an seinem Doppelgänger einen vorgetäuschten Selbstmord, um die Versicherung zu betrügen. Nach erfolgter Tat, zieht er sich nach Pignan in ein Hotel zurück, um dort die Ankunft seiner Frau abzuwarten und seinen Triumph auszukosten, ein perfektes Verbrechen ausgeführt zu haben. Täglich wartet er darauf den Nachricht seiner Ermordung in der Zeitung zu lesen. Doch bald muss er erfahren, dass er als Täter entlarvt ist, nur die Identität der Leiche sei noch ungeklärt, was Karlowitsch in eine grosse Wut und Raserei bringt, weil mit keinem Wort die verblüffende Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Toten erwähnt wird. Ausgerechnet jener Aspekt, auf den er sich am meisten einbildet, bleibt vollkommen unerkannt, weshalb er beschliesst, ein Buch zu schreiben, das sein Genie und sein "Meisterstück" vor Augen führen soll.

Es handelt sich um das Buch, das wir lesen, und das alle Ereignisse aus der unzuverlässigen Sicht - denn sein Gedächtnis folgt "eigenen Launen und Regeln" - von Karlowitsch schildert, bis zum Entschluss, dieses Buch zu verfassen. Lange bleibt für den Leser nämlich unklar, dass er das Geständnis eines Mörders liest und den Vorbereitungen zu einem perfiden Verbrechen beiwohnt. Karlowitsch redet zu Beginn um den heissen Brei herum, schweift ständig ab, verwirrt sich in Nebensachen, schreibt unkonzentriert, unterbricht seine Rede mehrmals und ist noch ganz aufgebracht über den Umstand, dass sein "Meisterstück" nicht als solches erkannt wurde: "Meine Hände zittern, ich möchte kreischen oder irgend etwas mit einem Knall zerschmettern ..." So steht es auf den ersten paar Seiten, ohne dass man dort schon um die Gründe weiss. Die Interjektion erfolgt vollkommen unvermittelt. Und erst allmählich, im Verlauf der Erzählung zeichnen sich die Beweggründe des Protagonisten ab, bis er schliesslich zur Tat schreitet.

Das Buch endet mit dem Moment als die Niederschrift mit dem zehnten Kapitel eigentlich beendet ist und Karlowitsch nach einem geeigneten Titel für sein Werk sucht, das er gewissermassen als Ersatzhandlung für sein nicht gewürdigtes Verbrechen verfasste, um wenigstens in der Literatur sein kriminelles Genie zu beweisen und zum verdienten Ruhm zu gelangen. Hier spielt sich nochmals seine Hybris auf, wenn er - mit Seitenhieb auf "den alten Dosto" (gemeint ist Dostojewski und sein Roman Schuld und Sühne) - schreibt: "Ein Künstler empfindet keine Gewissenbisse, selbst wenn sein Werk nicht verstanden, nicht anerkannt wird." Doch ein zweites Mal werden seine Illusionen herb enttäuscht, als er bei der Durchsicht seines Manuskripts bemerkt, dass ihm ein kapitaler Fehler unterlaufen ist, der sein "gesamtes Meisterwerk" zunichte macht: Er hat Felix' Stock mit seinem eingravierten Namen im Auto vergessen, so dass auch die Identität des Opfers keineswegs verborgen bleibt. Erschüttert über die eigene Stümperei schreibt Karlowitsch "mit einem stumpfen, vor Schmerz aufschreienden Bleistift" den Titel "Verzweiflung" auf sein Manuskript.

Der Roman beschreibt somit eine sukzessive Ent-Täuschung, die Karlowitsch durchläuft, nachdem er  lange Zeit in reiner Selbsttäuschung lebte: Weder ist er der geniale Mörder noch der grosse Literat, vielmehr entpuppt er sich als narzisstische Figur mit einem pathologischen Geltungsdrang, der ihn nicht nur über die eigene Unfähigkeit hinwegtäuscht, sondern offenbar auch eine gestörte Wirklichkeitswahrnehmung verursacht. (Angedeutet wird durch Karlowitsch' Vermögen zur "Spaltung" und "Dissoziation" sogar eine Form von Schizophrenie.) Zumindest geht aus dem Brief eines befreundeten Künstlers hervor, dass die physiognomische Ähnlichkeit mit Felix keine allzu auffällige oder am Ende überhaupt keine war. Selbst dieses entscheidende Detail im vermeintlich genialen Plan beruhte, so drängt der Text zur Annahme, auf purer Einbildung. 

Ganz zum Schluss wird die Pension, in der sich Karlowitsch verschanzte, von der Polizei umstellt. In einem letzten Anflug von Megalomanie imaginiert er sich, wie er als grosser Schauspieler vor die Türe tritt, der gerade eine Flucht inszeniere, und deshalb alle Schaulustigen überzeugen kann, die Polizei in Schach zu halten. - Man darf darauf wetten, dass auch dieses Szenario wie eine Seifenblase zerplatzen wird.

Freitag, 27. September 2024

Édouard Levé: Selbstmord (2008)

Das schmale Büchlein ist in der zweiten Person Singular in Form eines Abschiedsbriefs oder Nachrufs direkt an den Selbstmörder adressiert. Es handelt sich um eine Art Erinnerungsstrom, in dem Reminiszenzen an das Leben und den Charakter des Toten sich mit der Frage vermischen, weshalb er sich das Leben genommen hat. Der Autor findet eine klare Antwort ebenso wenig wie er eine systematische Rekonstruktion vornimmt. Was er bietet, sind einzelne Splitter, die oft ohne näheren Zusammenhang lose nacheinander folgen. Das sei die einzige Möglichkeit, dem toten Freund gerecht zu werden, wie es an einer Stelle heisst: "Dein Leben in einer zusammenhängenden Ordnung zu beschreiben, wäre absurd. Die Gelegenheit macht die Erinnerung an dich. Mein Hirn lässt dich so zufällig in Details auferstehen, wie man Murmeln aus einem Beutel fischt."

So entsteht das Porträt eines introvertierten, wortkargen, grüblerischen und zurückgezogenen Menschen, der aber doch - und es lässt sich vermuten: mehr nolens als volens - an dem gesellschaftlichen Leben teilnimmt, sich kreativ als Musiker betätigt, ein Wirtschaftsstudium beginnt, Tennis spielt, Freunde hat und sich sogar verheiratet, bevor er sich eines Tages entschliesst, einen Gewehrlauf in den Mund zu stecken und abzudrücken. Auf dem Küchentisch hinterliess er einen Comic, dessen aufgeschlagene Seite mutmasslich eine Abschiedsbotschaft enthielt. Doch seine Frau stösst das Heft aus Panik versehentlich um, als sie den Leichnam entdeckt. Seither versucht der Vater krampfhaft herauszufinden, was sein Sohn mitteilen wollte; er füllt Aktenordner mit Indizien und Hinweisen, natürlich vergeblich. Auf diesem Weg lässt sich keinen Sinn in eine Tat bringen, die radikal unbegreiflich ist.

Levé verzichtet deshalb darauf, die Sinnfrage explizit zu stellen. Zwischen den Zeilen jedoch deutet er an, was seinen Freund bewogen haben könnte, sich vorzeitig aus der Welt zu stehlen. So geht aus dem Text hervor, dass der Freund depressiv war und einen geringen Lebenswillen hatte. Für ihn bedeutete seine Existenz ein Rollenspiel, das er nur zum Schein aufrecht erhielt. Er kam mit einer offenen Zukunft schlecht zu recht, er träumte von einem bis zum letzten Tag durchgeplanten Terminkalender. Eindrücklich belegt diese mangelnde Lebensfähigkeit eine der stärksten Passagen des Essays: die Beschreibung seiner Inklination zu Obdachlosen. Hier sah der Freund ein Ideal erfüllt, dem er innerlich gerne gefolgt wäre: die Tendenz zur Verwahrlosung, die Befreiung von allen gesellschaftlichen Zwängen und Pflichten, sich von "allen Dingen, allen Menschen und von der Zeit" zu lösen. Ein Selbstmord "in Zeitlupe". Der Freund wählte schliesslich den rascheren Exitus.

Der Essay ist ohne Pathos und Klage verfasst, trotzdem lässt es nicht unberührt, wie hier Levé mit grossem Einfühlungsvermögen vorgeht und erst postum, als es längst zu spät ist, die Ausweglosigkeit seines Freundes erkennt. Die direkte Anrede an den Toten evoziert manchmal eine gewisse Rührseligkeit, die an manchen Stellen, wo der Text nicht über Plattitüden hinausgelangt, an Kitsch grenzen könnte, wenn da nicht ein Umstand wäre, der ihm eine existentielle Wucht verleiht. Levé hat kurz nach der Niederschrift des Textes mit 42 Jahren selbst Suizid verübt. Offenbar steckt in der Schilderung des Freundes viel vom Autor selbst und er hat ein Teil seiner eigenen Befindlichkeit auf ihn projiziert. Vielleicht deshalb besass er eine besondere Sensitivität für das Bewusstsein eines Selbstmörders, weil er sich selbst zu diesem Schritt prädestiniert fühlte. Somit hinterlässt Levé ein doppeltes Vermächtnis: dasjenige seines Freundes und sein eigenes.

Mittwoch, 25. September 2024

Jerzy Kosinski: Der bemalte Vogel (1965)

Ein Buch von unglaublicher Brutalität. Geschildert wird es aus der Perspektive eines kleinen polnischen Jungen, der bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von seinen Eltern in fremde Obhut gegeben wird, in der Hoffnung ihn dadurch vor dem Schlimmsten zu bewahren. Doch was der Knabe in den Dörfern, in denen er jeweils Unterschlupf findet, erlebt, steht den Schrecken und Grausamkeiten in den Konzentrationslagern in nichts nach. Aufgrund seiner schwarzen Haare rasch als "Teufel" bzw. "Zigeunervampir" verschrien und ausgegrenzt, zeigt sich die Bevölkerung wenig gewillt, ihn bei sich aufzunehmen, aus Angst vor Repressionen von der deutschen Besatzung, wenn sich herausstellen würde, dass sie einen "jüdischen Zigeunerjungen" beschützen. Er gelangt deshalb stets nur zu Aussenseitern und prekären Randgestalten in einer ohnehin rückständigen, abergläubischen und noch vollkommen verrohten Gesellschaft, in der Mord und Totschlag zur Tagesordnung gehört.

Zu Beginn ist der stets namenlose Ich-Erzähler sechs Jahre alt, und wir begleiten ihn von Station zu Station bis ans Ende des Krieges. Der Roman schreitet so episodenhaft voran. Jedes Kapitel ist einer anderen Unterkunft gewidmet, wo der Junge erneut entweder zum Zeugen oder gar selbst zum Opfer von Gewaltverbrechen wird, weshalb er sich genötigt sieht, seinen Standort rasch wieder zu wechseln, oft ein Bild der Verwüstung hinter sich lassend. Ein abergläubisches Weib gräbt ihn bis zum Kopf im Boden ein und lässt ihn über Tage dort stecken, während ihn schon die Raben belagern und piesacken, weil sie dadurch eine Seuche abzuwenden hofft. Später muss er zusehen, wie ein betrunkener Bauer seinem Knecht aus Eifersucht mit einem Löffel die Augäpfel aussticht und sie nachher ,zerquetscht. Auch üble Schändungen und Vergewaltigungen bis hin zu Tötungen spielen sich mehrfach in unmittelbarer Gegenwart des Kindes ab, so dass Gewaltsamkeit und Überlebenskampf zu seinen frühesten Prägungen gehören.

Der Junge lernt, dass menschliches Leben letztlich nichts bedeutet, keinen Stellenwert besitzt. Entsprechend emotionslos werden die brutalen Vorgänge oft geschildert und in allen entsetzlichen Details ausgemalt. Dabei wird die kindliche Perspektive nicht immer konsequent durchgehalten: Manchmal scheint sie allzu naiv, dann wieder ist der erwachsende Autor dahinter erkennbar. Zudem ist den Szenerien ein gewisser sadistischer Voyeurismus nicht abzusprechen. Der menschliche Körper scheint lediglich eine träge Masse zu sein, die nach Belieben zerhackt, zermalmt, zerquetscht, verstümmelt oder von Ratten zerfressen werden kann. Organisches Verschleissmaterial. Lediglich bei der Bauerntocher Ewka, die ihn in ihre Liebeskünste einführt, erlebt er kurze Zeit so etwas wie menschliche Nähe. Doch auch diese Illusion zerbricht, als er eines Abends entdeckt, wie sie es gezwungenermassen, aber leidenschaftlich mit einem Ziegenbock treibt. Den Kulminationspunkt erreicht der widerwärtige Reigen, als der Junge, nachdem er durch eine Ungeschicklichkeit das Hochamt in der Kirche aufstörte, von der wütenden Meute in die Fäkalgrube getaucht wird und dabei seine Stimme verliert.

Gegen Ende des Krieges kommt der Junge bei einer Truppe sowjetischer Soldaten unter und freundet sich insbesondere mit Gavrila an, der ihm Lesen und Schreiben beibringt und ihn mit kommunistischen Lehren indoktriniert, so dass auch der mittlerweile 12jährige Junge zu einem glühenden Verehrer Stalins wird. Hier sieht er einen rettenden Ausgang aus dem primitiven Volk, bezahlt die erhoffte Freiheit aber mit einer ideologischen Gefangenschaft. Wie der Erzähler einmal hellsichtig bemerkt, kennt auch der Kommunismus seine Ausgrenzungspolitik, wenngleich sie nicht von der Ethnie, sondern von der sozialen Klasse abhängt. Aus diesem Grund möchte der Junge nicht zurück zu seinen besser gestellten Eltern, als er nach dem Krieg ins Kinderheim gesteckt wird. Dort reproduziert sich die Brutalität der Kriegserfahrung unter den traumatisierten Kindern; auch sie verhalten sich nach dem Prinzip von homo homini lupus. Den einzigen Moment wahrer Freiheit erlebt der Junge lediglich bei einer Mutprobe, wenn er sich bei einem herannahenden Zug aufs Geleise legt, so dass die Bahnwagen über ihn hinwegdonnern können. In diesem Moment "zählte nichts ausser der einfachen Tatsache, am Leben zu sein". Ein elementares Erlebnis.

Der Titel leitet sich ab von einer Episode relativ zu Beginn des Romans. Lekh, ein Vogelfänger, macht sich einen Spass daraus, die von ihm eingefangenen Vögel farbig anzumalen und wieder in die Freiheit zu entlassen, wo sie zu ihren Artengenossen fliegen, von diesen aber nicht mehr erkannt und deshalb zu Tode gepickt werden, bis sie leblos vom Himmel fallen. Allegorisch spiegelt sich darin auch Schicksal des Jungen, der aufgrund seines fremden, zigeunerhaften Aussehens von seinen Mitmenschen nicht akzeptiert und mitunter sogar drangsaliert wird, so dass er ständig um sein Leben fürchten muss. Mehr noch lässt sich darin sinnbildlich die Katastrophe des Genozids schlechtweg erkennen, die eine ganze Bevölkerungsgruppe in den Tod führte, weil sie nicht als gleichwertig anerkannt worden ist.

Kosinskis Roman wurde rasch als Autobiographie missverstanden, wogegen der Autor in dem Nachwort der Wiederauflage von 1976 Stellung bezieht und betont, dass es sich nicht um reale Erlebnisse handelt, dass er vielmehr eine "erfundene Welt" erschaffen wollte, ein "mythisches Land", eine "anders-weltliche Bosch-hafte Landschaft", die aber sinnbildlich eine Ahnung von der schrecklichen Wirklichkeit vermitteln wolle. Der Vergleich zu den apokalyptischen Gemälden eines Hieronymus Bosch ist treffend, was die Drastik der Darstellung angeht, im Unterschied zum niederländischen Maler fehlen bei Kosinski jedoch die phantastischen Elemente. Die von ihm geschilderten Gräuel sind nicht dämonischer, sondern rein menschlicher Natur, wofür es von verschiedenen Seiten Kritik hagelte. Seine osteuropäischen Landsleute sahen in dem Buch eine üble Verunglimpfung und hetzten gegen den aus ihrer Sicht westlich degenerierten Autor, die amerikanischen Medien wiederum hielten ihm vor, die historische Kriegssituation für seine gewaltpornographischen Phantasien zu missbrauchen. 

Donnerstag, 12. September 2024

Carl Laszlo: Ferien am Waldsee (1955)

Carl Laszlo liess sich sein Schicksal nie anmerken. In Basel war der gebürtige Ungar eine markante Erscheinung. Psychoanalytiker, Kunsthändler mit hedonistischen Zügen, stets eine Zigarre im Mundwinkel, ein gutes Glas Wein in der Hand und auch anderen Exzessen nicht abhold. Mit dem ebenfalls in Basel wohnhaften Albert Hofmann, dem Entdecker der LSD-Substanz, war er gut befreundet. Ausserdem unterhielt er rege Kontakte zur amerikanischen Kunst- und Literaturszene, zu Beat-Poeten und Popart-Künstlern, die er in seinem Panderma-Verlag oder in seiner Zeitschrift Radar portierte. Dass er als junger Mann mehrere Konzentrationslager (Auschwitz, Sachsenhausen, Buchenwald) durch- und überlebte, weiss man nur, weil er darüber ein Buch geschrieben hat.

Ein Opfer des Holocaust wollte er nie sein. Er sah sich vielmehr als Sieger, weil er nicht nur die Schrecken des KZ überstanden hat, sondern sich davon auch nicht traumatisieren liess. Es erfüllt ihn sichtlich mit Stolz, dass er seinem Schicksal die Stirn geboten und dabei nicht eingenickt ist. In die allgemeine Opferhaltung will er deshalb nicht einstimmen, da er sich als Überlebender nicht als Leidtragender betrachtet. Trotzdem hat er ein Buch über seine Lagererfahrung geschrieben, das sich allerdings radikal von der üblichen Holocaust-Literatur unterscheidet. Das liegt vor allem an der schonungslosen Darstellung und dem Verzicht auf jegliche Form der Klage und Larmoyanz. Laszlo schildert den Gang in die Hölle mit der Unerschrockenheit eines Dante - mit dem einzigen Unterschied, das hier eine reale Hölle beschrieben wird.

Ein Beispiel für den lakonischen Ton, mit dem die Ungeheuerlichkeit in Worte gefasst wird, ist dieser Satz: "Die Mittagssonne strahlte, es gab einen französischen Häftling weniger und eine namenlose Leiche mehr." Das wirkt in seiner unbeteiligten, geradezu emotionslosen Verknappung heftiger als die grellste Ausmalung aller Gräuel. Laszlo verzichtet darauf, das Unbeschreibliche in eine drastische Sprache zu kleiden, auch Pathos ist ihm fremd. Stattdessen neigt er zu Ironie und Sarkasmus, zu harten Schnitten, die deutlich machen sollen, wie - nicht weshalb: die Sinnfrage erweist sich selbst als sinnlos - das Unmenschliche im Alltag stattfinden konnte: "alles war still, man hörte nur das Knistern von Stroh und das schwere Atmen einiger Sterbender. Eine friedliche Stimmung, wie in einem Friedhof, verbreitete sich".

Diese Schnitt-Technik erfährt im Kapitel "Romeo und Julia" ihren Kulminationspunkt. Shakespeare-Zitate werden bruchlos einer Massenvernichtungsszene gegenübergestellt. Das erzählende Ich sitzt mit seinem Buch am Boden des Lagerabortes und registriert, während es liest, wie Mitinsassen in die Gaskammern ge- und die Leichen schliesslich ins Krematorium überführt werden. Der rauchende Schlott des Krematoriums ragt permanent über dem Geschehen, er ragt quasi als Mahnmal auch aus dem Buch heraus. Auch da bleibt die Erzählstimme beim bitteren Sarkasmus. Über den Tod eines "Zigeunermädchens" heisst es: "Sie hat wie Millionen andere kein Grab, winzige Teilchen ihrer Asche atmen wir täglich mit der Luft ein."

Wie schon erwähnt: Laszlo meidet die Sinnfrage, weil sie seiner Ansicht nach falsch gestellt ist: "Es kann ja nicht alles sinnlos und umsonst sein, etwas muss es ja bedeuten können, was wir hier erleben, irgendeinen Sinn wird dieser grosse Untergang in sich bergen", reflektiert das erzählende Ich einmal, doch sein Alter Ego mit dem sprechenden Namen Alieno erwidert resigniert (oder eher abgeklärt?): "Wie schön wäre es, wenn es einen Sinn gäbe." Für Laszlo ist deshalb auch klar, dass kein Buch - und sei es noch so authentisch und präzise - die ganze Wahrheit über den Holocaust darstellen könnte, dazu entziehen sich die Vorgänge in den KZ zu sehr jeglicher Vorstellungskraft. Das objektiv "richtige" Buch, das darüber geschrieben werden könnte, wäre eben so sinnlos wie die erlebte Realität. Sein einziger Inhalt: "Leichen, Leichen, Leichen, Leichen ..."

Wie erklärt sich aber der Titel: Ferien am Waldsee? Man könnte das vorschnell für einen Zynismus des Autors halten, tatsächlich ist es ein, allerdings ganz anders gearteter, Zynismus der Nazis, wie Laszlo gleich einleitend erklärt: Angehörige erhielten gelegentlich vorgedruckte Postkarten mit einer knappen nichtssagenden Botschaft und eigenhändiger Unterschrift von deportierten Familienmitgliedern; als Aufenthaltsort wies der Stempel nicht das KZ aus, sondern - als perfides Täuschungsmanöver - den fingierten Ort: "am Waldsee".






Montag, 2. September 2024

Andy Warhol: Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück (1975)

Der Titel ist natürlich mit einem Augenzwinkern zu verstehen. Eine Philosophie im eigentlichen Sinn ist bei der Popart-Ikone nicht zu erwarten. Vielmehr versammelt das auf dem Höhepunkt seiner Karriere entstandene Buch - 1962 gründete Warhol seine Factory und er kreierte seine berühmte Siebdruck-Serie der Campell's Soup Cans - eine Fülle von Ansichten und Lebensweisheiten aus der New Yorker Party- und Glamour-Szene über Schönheit, Sex, Geld, Kleider, Kunst, Ruhm, Erfolg und was die High Society sonst noch so beschäftigt. Wie auch in seinen Kunstwerken so orientiert sich Warhol auch in seinen Maximen und Reflexionen an den gesellschaftlichen Oberflächenphänomenen, um sie subtil zu subvertieren. Dabei sind seine Ansichten zuweilen erhellend, zuweilen belanglos, immer aber unkonventionell, mitunter provokant.

Ein paar willkürlich ausgewählte Kostproben: "Der höchste Preis, den du für die Liebe zahlen musst, ist, dass du jemanden um dich hast und nicht für dich allein sein kannst, was selbstverständlich besser ist." "Ein biederes Erscheinungsbild finde ich am besten. Wenn ich nicht so 'schlecht' aussehen wollte, dann würde ich 'bieder' aussehen wollen. Das fände ich auch gut." "Bei mir geht's ran, wenn's abgeht, ab ins Bett und Schluss. Das ist der grosse Moment, auf den ich immer warte." "Ich mag Geld an der Wand. Nehmen wir an, du wolltest ein Bild für 200 000 Dollar kaufen. Ich meine, dass du das Geld an eine Schnur binden und an die Wand hängen solltest." "Ein Künstler ist jemand, der Sachen produziert, die keiner haben muss." "In deinem Schrank sollte alles mit einem Verfallsdatum versehen sein, so wie bei Milch und Butter und Illustrierten und Zeitungen, und wenn das Verfallsdatum überschritten ist, sollte man das Ding wegwerfen."

Die im Titel erwähnten Buchstaben A und B suggerieren keine enzyklopädische Ordnung, vielmehr stehen sie für die beiden Gesprächspartner A und B, wobei letzterer eine Art sokratische Hebammenfigur darstellt, die A (i.e. Andy) seine Alltagsphilosopheme entlockt. Es handelt sich also um eine platonischer Dialog im Popart-Gewand, der zuweilen Nonsens-Dialoge vorwegnimmt, wie man sie später aus Tarantino-Filmen kennt, wenn sich zwei Figuren in Nebensächlichkeiten verbeissen, wie hier etwa anhand der Frage nach der Körpergrösse von Ursula Andress: Wo A behauptet sie sei ein Zwerg, bestreitet das B vehement, wobei diverse spitzfindige Argumente aus dem Köcher gezogen werden (z.B. die mutmassliche Höhe der Absätze unter den Schlaghosen), die jedem antiken Sophisten Freude gemacht hätten.

Höhepunkt des 'philosophischen' Rundumschlags sind zweifellos die Beschreibung von Warhols Manie, alles Erdenkliche die Toilette hinunterzuspülen bei gleichzeitiger Angstlust, dass es die Toilette verstopfen und wieder zum Vorschein kommen könne, sowie das Bekenntnis seines Unterhosen-Fetisch. Der Unterhosenkauf besitzt für Warhol eine nachgerade existenzielle Komponente: "Ich meine, ich würde lieber zusehen, wie einer seine Unterhosen kauft, als dass ich ein Buch lesen wollte, das er geschrieben hat." Seine Menschenkenntnis leitet Warhol auch hier vom Konsumgut ab, wobei es sich bei der Unterhose paradoxerweise um Intimwäsche und Warenartikel zugleich handelt, das Innere und Äussere also quasi dialektisch vermittelt.

Als wahrhaft philosophisch erweisen sich Warhols Reflexionen schliesslich dort, wo er ein Alltags-Mysterium thematisiert, das bis heute wohl alle auch regelmässig beschäftigt, auf das er aber ebenso wenig eine befriedigende Antwort finden: Weshalb verschwinden beim Waschen ständig Socken in der Maschine? Und wohin verschwinden sie? "Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger kann ich an die abnehmende Zahl glauben. Das ist einfach nicht zu glauben!" Theoretisch zu ergründen offenbar auch nicht. Es bleibt ein Stück unbewältigte Metaphysik.

Dienstag, 27. August 2024

John Hawkes: Travestie (1976)

Ein Buch, das einen von der ersten Seite an fraglos und unmittelbar fesselt. Und das obschon die gesamte Erzählanlage hochgradig unrealistisch ist. Handelt es sich doch um einen einzigen langen Monolog, in Echtzeit vorgetragen, und zwar am Steuer eines mit Hochgeschwindigkeit fahrenden Autos. Auf dem Nebensitz befindet sich ein renommierter Lyriker, der nicht nur ein Verhältnis mit der Frau des Autofahrers, sondern auch mit dessen Tochter einging, die sich hinten auf dem Rücksitz verkriecht und aus Todesangst irgendwann übergeben muss. Der Fahrer nimmt beide mit auf eine letale Amokfahrt durch die Nacht mit dem erklärten Ziel, den Wagen am Ende mit allen Insassen gegen die Mauer einer alten Scheune prallen zu lassen und damit seine "private Apokalypse" herbeizuführen. Ein acte gratuit, wie der Fahrer selber zugibt, absurd und sinnlos: "was jetzt geschieht, muss jedem, ausser vielleicht den Insassen des zerstörten Wagens, unsinnig erscheinen".

Das literarische Motiv ist durch den Futurismus vorgeprägt. Tommaso Marinetti schildert im ersten Futuristischen Manifest eine ebenso waghalsige Autofahrt, die letztlich auch im (schier tödlichen) Unfall mündet, aus dem der Fahrer, aber - gestählt durch seinen Wagemut - als neuer Mensch hervorgeht. Der Crash als schöpferischer Akt und als Wiedergeburt. Einen ähnlich (pro)kreativen Effekt verspricht sich der Fahrer von dem nächtlichen Todesritt, den er mit dem Liebhaber seiner Frau und Tochter unternimmt. Nicht Eifersucht sei sein psychologisches Motiv, wie er beteuert, auch nicht Rache oder Strafe. Aus der schier endlosen Suada, die der Monolog- und Autoführer von sich gibt, geht sein Motiv zwar nicht restlos hervor, dafür umso deutlicher seine Perversionen. Insbesondere lässt sie tief blicken, was seinen Hang zum Sadismus betrifft.

Gleich zu Beginn bekennt er, ihn habe als Jugendlicher nichts so sehr fasziniert, wie verstümmelte Leichenbilder und Pinups. Die Kombination von Gewalt und Erotik hat ihn schon früh geprägt. Ihren Höhepunkt erreicht sie in der Affäre mit Monique, die er eines Abends mutwillig übers Knie legt und verdrischt, aus Revanche dann von ihr ungleich brutaler mit dem Gürtel gezüchtigt wird, was ihn aber zur Erkenntnis führt, dass "im Sadismus Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung" liege. Im Vergleich zu diesem Flagellantismus stellt die Todesfahrt für ihn die ultimative Ekstase dar, nachdem er jahrelang die Affäre des Lyrikers mit seiner Frau und Tochter nicht nur toleriert, sondern auf seine perverse Art auch gefördert und mitverfolgt hat, nur um alle (auch sich selbst) im entscheidenden Augenblick auszulöschen.

Weshalb aber heisst der schmale, von Jürg Laederach bravourös ins Deutsche übertragene Roman "Travestie"? Als literarisches Verfahren versteht man darunter die komische Verfremdung eines klassischen Stoffes. In diesem Fall ist es das bürgerliche Eifersuchtsdrama, das hier karnevalesk verkehrt wird. Keine heimlichen Liebschaften, kein offenes Duell unter Ehrenmännern, sondern eine perverse (und das heisst auf lateinisch wörtlich: verkehrte, also travestierte) und von langer Hand orchestrierte menage à quatre, die ihre Erfüllung im Kollektivtod finden soll. Als Schlüsselerlebnis gibt der Fahrer ein "Vorkommnis in [s]einem frühen Mannesalter" an, als er blindwütig auf einen älteren Herrn mit einem Mädchen lossteuerte, und das er "eine Art Travestie, mit einem Wagen, mit einem alten Lyriker und mit einer jungen Frau" bezeichnet, also eine direkte Vorwegnahme dessen, was er im Begriff ist, gerade nochmals aus- und diesmal auch: zu Ende zu führen.

Der Roman endet tödlich, zumindest mit dem "Versprechen": "Es wird keine Überlebenden geben. Keine."


Montag, 19. August 2024

Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974)

Weshalb erschiesst eine unscheinbare unbescholtene junge Frau kaltblütig einen Journalisten? Heinrich Bölls Antwort ist einfach: Weil sie zuvor schon der Presse zur Verbrecherin gestempelt wurde. Der Mord der Katharina Blum ist wie Bölls Buch eine direkte Abrechnung mit den unlauteren und ehrverletzenden Methoden des Skandaljournalismus, konkret der ZEITUNG, wie sie stets in Grossbuchstaben genannt wird und dabei das Layout der sensationslüsternen Headlines imitiert, wie man sie aus Boulevardzeitungen wie BILD u.ä. kennt. Es ist auch mehr als offensichtlich, dass Böll mit seiner berichthaften Erzählung das Imperium des Medienmoguls Alex Springer anklagt, wenn es im Impressum in ironischer Abwandlung üblicher Fiktionalitäts-Disclaimer heisst: "Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit Praktiken der ‘Bild’-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtig noch zufällig, sondern unvermeidlich." Der arme Axel! Hatte Daniel de Roulet zwei Jahre zuvor sein Chalet in Gstaad abgefackelt, sah er sich nun verbal von einem Nobelpreisträger attackiert und verunglimpft. Springer, darüber nicht erfreut, hatte seine Zeitungsredaktoren nach Erscheinen des Buchs angewiesen, die Bestsellerlisten temporär nicht mehr abzudrucken, weil Böll dort ganz oben figurierte.

Die Geschichte folgt dem Prinzip des analytischen Dramas: Eine gewisse Katharina Blum zeigt sich bei der Polizei wegen des Mordes an einem Journalisten an. Vor kurzer Zeit war sie bereits einmal auf dem Posten, weil sie Kontakt zu einem gesuchten Straftäter  hatte. Die Polizei glaubte an ein von langer Hand geplantes Komplott, doch Katharina kannte ihn vorher nicht, sondern hat sich an nur einem Abend Hals über Kopf in ihn verliebt. Um den Mann ihres Lebens zu schützen, verhilft sie ihm zur Flucht und lässt ihn im Landhaus ihres zudringlichen "Herrenbesuchs" – ein vermögender Freund ihres Chefs und Vermieters macht ihr regelmässig Avancen – untertauchen. Aus all diesen zufälligen Einzelheiten konstruiert die Polizei, vor allem aber die Presse falsche Kausalzusammenhänge, die Katharina Blum in immer schlechterem Licht dastehen lassen. Erst recht da der "Herrenbesuch", ein öffentlich bekannter Industrieller, um seinen guten Ruf fürchtet und seinen Einfluss in den Chefetagen der Redaktion spielen lässt. Die Journalisten schnüffeln in Blums Vergangenheit herum, befragen Bekannte und frühere Kollegen, drehen diesen das Wort im Munde herum, stets natürlich zu Ungunsten der Blum, die schliesslich als gemeingefährliche Terroristenbraut dasteht.

Dann folgt der letzte Twist der Erzählung: Nun denken natürlich alle, Katharina Blum habe sich am Journalisten für seine üblen Verleumdungen rächen wollen und ihn deshalb erschossen. Es wird auch nicht in Abrede gestellt, dass sie mit diesem Gedanken gespielt habe. Jedenfalls nahm sie eine geladene Pistole mit an den vorgetäuschten Interviewtermin, den sie arrangierte, um der Person, die ihr Leben ruinierte, von Angesicht zu Angesicht in die Augen zu sehen. Auslöser für den Schuss war dann aber keine direkte Vergeltungsmassnahme. Der Grund war, weil der Journalist die Interviewsituation ausnutzen und sich an Katharina Blum vergehen (wie es im Original so schön heisst: an ihre "Kledage" gehen) wollte. Es handelte sich, das suggeriert diese finale Episode, offenbar um ein ganz mieses Exemplar der Journaille. Er glaubt, die verzweifelte Lage, in die er Blum durch seine tendenziösen Artikel gebracht habe, auch noch schamlos ausnutzen zu können. Wie man im Laufe des Buches erfährt, ist die zwar gut aussehende, aber etwas prüde Katharina Blum immer mal wieder zum unfreiwilligen Opfer solcher Übergriffe geworden.

Das Ganze ist im nüchternen Protokollstil erzählt, stets durchsetzt mit einer Prise Süffisanz und Sarkasmus, etwa wenn der Begriff "Quelle" (für Informationsquellen wie sie im Journalismus, aber auch bei der Polizeiarbeit zentral sind) beim Wort genommen und daraus das leitende ‘Pfützengleichnis’ vom Zusammenführen verschiedener Rinnsale gebildet wird. Auffällig ist auch, dass der Name des gesuchten Verbrechers Göttens fast die anagrammatische vertauschte Namensform des ermordeten Journalisten Tötgens ist und zugleich ein telling name: Tötgens wird tatsächlich von Blum getötet, während Göttens von ihr vergöttert wird. Dieses Beispiel belegt den stark schematischen Aufbau der Geschichte, die trotz einer höchst unplausiblen Handlung doch oft holzschnitzartig in der Figurenzeichnung und den verwendeten Stereotypen ist – und sich damit von der plakativen Art eines Boulevardblatts kaum unterscheidet, nur dass hier natürlich gegen die Revolverpresse Stimmung gemacht wird. Die Absicht ist dem Text von Anbeginn deutlich eingeschrieben, worunter nicht nur die Differenziertheit leidet, sondern auch die literarische Qualität. Die eingestreute Behauptung, dass "hier nicht ge-, sondern nur berichtet werden soll", ist genau so zweifelhaft wie in vielen Zeitungsberichten. Ein Stück Tendenzliteratur. 

Mittwoch, 7. August 2024

Haruki Murakami: Kafka am Strand (2002)

Kafka ist hoch im Kurs wegen seinem 100. Todestag. Das Lesefrüchtchen nimmt dies zum Anlass, um - nein, nicht Kafka selbst zu lesen, den kennt es schon zu Genüge, sondern um sich auf bislang unbekanntes Terrain zu wagen. Angelockt vom Titel, liest es seinen ersten Murakami: Kafka am Strand. Um den historischen Franz Kafka geht es dabei jedoch nur am Rande, nur einmal wird der Schriftsteller und seine bekanntesten Bücher kurz erwähnt. Mit Kafka ist stattdessen der 15jährige Kafka Tamura gemeint, der an einer Stelle so charakterisiert wird: "Cool wie eine Gurke, geheimnisvoll wie Kafka." Echt jetzt? Er wählte diesen Übernamen, um sich als Ausreisser von zuhause "ein neues Ich" zu schaffen. Dieses neue Ich artikuliert sich als innere Stimme eines Jungen namens Krähe, weil - jahaha! -Kafka auf tschechisch Krähe bedeutet, worauf der Roman auch nicht versäumt hinzuweisen. Kafka-Fans wissen das natürlich längst. Das Familienwappen von Franz Kafka ziert eine rabenschwarze Krähe. 

Dieses Krähen-Über-Ich begleitet den jungen Kafka auf seinem Weg ins Erwachsenwerden, das jedoch rasch phantastische Züge annimmt und ziemlich verworren wird. Kafka schlittert in einer Art Traum- oder Parallelwelt, in der sich die unheilvolle ödipale Prophezeiung seines Vaters zu erfüllen scheint: Er (oder vielmehr stellvertretend für ihn der Katzenflüsterer Nakata) bringt ihn um und begeht Inzest mit seiner Mutter und seiner Schwester - ob real oder nur in seiner Vorstellung ist ebenso unklar wie ob es sich tatsächlich Mutter und Schwester handelt, die er seit dem vierten Lebensjahr nie mehr gesehen hat. Jedenfalls glaubt er in einer Tramperin seine Schwester und seine Mutter in der mysteriösen Bibliothekarin Saeki-San, die früher eine kurze Karriere als Sängerin und einen grossen Erfolg mit dem Lied Kafka am Strand hatte. Nun hängt ein Gemälde mit dem selben Titel in der Bibliothek, das offenbar Seaki-Sans früheren Geliebten zeigt, der um tragische Weise ums Leben kam, weshalb sie schliesslich die Gesangskarriere aufgab.

Der Songtext handelt von einem Moment, bei dem Fische vom Himmel fallen und ein Stein den Eingang in eine andere Welt öffnet, die von Soldaten bewacht wird. Genau das, was die Lyrics prophezeien, ereignet sich dann, wobei das Schicksal von Tamura Kafka auf unerklärliche Weise mit demjenigen von Nakata gekoppelt ist. Bei einem paranormalen Vorfall in der Kindheit wurde Nakata schwachsinnig, glaubt seither aber Katzen sprechen zu hören und verdient seinen Lebensunterhalt damit, herumstreunende Tiere wieder ihren Besitzern zurückzubringen, bis er auf Johnny Walker stösst oder vielmehr auf eine Art Dämon, der sich in Gestalt des Whiskey-Brands manifestiert. Er zwingt Nakata auf perfide Weise - indem er vor seinen Augen reihum die geliebten Katzen abschlachtet - dazu, ihn selbst zu ermorden. Doch wie sich am nächsten Morgen herausstellt, handelt es sich bei der Leiche um den Vater von Kafka, der nach der Mordnacht ebenfalls mit blutverschmiertem Shirt aufwacht. Höhere Mächte kitten fortan beide aneinander, ohne dass sie gegenseitig von ihrer Existenz wissen. Nakata schafft es mit Hilfe eines Truckers, den Eingang zur Parallelwelt zu öffnen und ermöglicht es dadurch Kafka, in sie einzutreten. Während Nakata mit dem Leben dafür bezahlt, kehrt Kafka als gereifter Jüngling vom "Rande der Welt" zurück. Am Ende weiss man nicht, was Realität, was blosse Einbildung und Traum war. Fest steht nur, dass der Junge namens Krähe seinen Adoleszenzprozess abgeschlossen hat.

Kafka am Strand ist Mysterythriller, antike Tragödie (Ödipus-Motiv), Coming-of-Age-Geschichte, Fantasyroman, japanische Gespenstersage und zu zwei Dritteln ein veritabler Pageturner, der all die aufgebaute Spannung am Ende aber nicht auflöst.. Vor allem aber ist der Roman, was man heutzutage Midcult nennt: eine seichte Lektüre, die einen gehobenen Anspruch erwecken will, ohne ihn wirklich einzulösen. Bestes Beispiel dafür ist der Titel, der Kafka zwar zitiert, was für den Roman aber insgesamt keine Rolle spielt. Der Protagonist könnte genauso gut Konrad heissen, das würde keinen Unterschied machen und der Geschichte auch nichts fehlen. Zum Midcult gehört auch das zwar raffiniert, aber letztlich doch bedeutungslos eingestreute Bildungsgut, das mit der Handlung in keinem anderen Bezug steht, als dass eine Figur gerade ein Buch liest oder bestimmte Musik hört, ansonsten aber keinen übergeordneten Symbolwert besitzt, lediglich äusserlich aufgesetzt ist. So referiert ein Café-Besitzer lang und breit über Beethovens Erzherzog-Trio, der geneigten Leserin wird also en passant kanonisiertes Bildungswissen serviert, dabei ist dieses Stück für den Text selbst nicht mehr als nur eine weitere Requisite, ohne die er ebenso bruchlos funktionieren würde.

Damit ist ein zentrales Merkmal von Murakamis Schreibstil angesprochen: Er operiert stark mit Versatzstücken nicht nur inhaltlicher, auch rein sprachlicher Natur. Auffällig etwa dort, wo banale Handlungsabläufe wie Aufstehen, Essen, Waschen, Zu-Bett-Gehen in allen irrelevanten Einzelheiten und repetitiv geschildert werden. Das bringt die Erzählung voran, ohne dass wirklich etwas geschieht, und dient wohl der lesenden Erholung. Man liest, ohne sich übermässig konzentrieren und Informationen aufnehmen zu müssen. Die Leserin kann sich vom Text berieseln lassen wie von einer Telenovela und hat trotzdem das Gefühl, an der gehobenen Literatur teilzuhaben. Damit soll dieses Leseerlebnis nicht geschmälert werden. Schliesslich tut es hin und wieder einfach gut, einen dickleibigen Roman in einem Schnurz durchzulesen. Ärgerlich ist am Ende dann nur, dass man - wie nach einem Besuch in einer Fastfood-Kette - mit einem falschen Gefühl der Sättigung zurückgelassen wird. Alles, was sich als so bedeutungsschwanger ankündigte, verflüchtigt sich als heisse Luft.

Samstag, 3. August 2024

Bret Easton Ellis: American Psycho (1991)

Und nun nach all den leichtfüssigen, um nicht zu sagen schwachbrüstigen, Ferienlektüren zum mit Abstand besten Buch, das sich das Lesefrüchtchen in dieser Zeit vorgeknöpft hat, weil das Buch viel riskiert und nur gewinnt: American Psycho von Bret Easton Ellis, mittlerweile natürlich fast schon ein zeitgenössischer Klassiker. Das Lesefrüchtchen hat bislang aber weder das Buch gelesen noch die Verfilmung gesehen. In zweierlei Hinsicht ist der Roman total radikal: Einerseits im Warenfetischismus, der pausenlos betrieben wird, andererseits in den explizit geschilderten Gewaltausbrüchen.

Etwa die Hälfte des Buches besteht ausschliesslich in der abundanten Aufzählung von Kleider- und Markennamen. Jede auftretende Figur wird detailliert mit ihren Kleidungsstil mit allen Labels, Stoffen und Accessoires beschrieben - und das wird auch bis zum Ende des Romans knallhart ad nauseam durchgezogen. Und geschätzt auf jeder zweiten Seite taucht wieder eine Hardbody-Kellnerin auf. Darin zeigt sich die Oberflächlichkeit der mondänen Scheinwelt, in der sich die Yuppies bewegen, die lediglich aus Status, Geld, teuren Klamotten und einem durchtrainierten Körper besteht, hinter der sich dann aber die wahren Abgründe auftun. Diese Beschreibungswut erinnert in ihrer Exzessivität an die enzyklopädischen Aufzählungen von Parfüms und Düften, Stoffen und Farben in Huysmans Décadence-Roman A rebours. Stand dort mit Des Esseintes ein überreizter, gefühlskalter Dandy im Zentrum, haben wir es hier mit einem hochnarzisstischen Snob zu tun.

Patrick 'Pat' Bateman, ein Wall Street Banker, aus dessen Perspektive simultan alles geschildert wird, fokussiert sich manisch auf alle äusserlichen Etiketten und versucht sich in seiner Peergroup zu behaupten. Er will, wie er freimütig bekennt, einfach auch dazugehören. Nicht immer erfolgreich, wie einige satirische Episoden demonstrieren: etwa beim Visitenkarten-Vergleich oder beim vergeblichen Versuch um angesagten Szenerestaurant Dorsia einen Tisch zu reservieren. Die Schmach, vom Dorsia abgelehnt zu werden, während andere, wie sein Bruder dort fast Hausrecht geniessen, zieht sich als running gag durch den gesamten Roman. Besonders amüsant dort, wo Bateman seine Sekretärin pseudogenerös zum Essen auffordert und ihr die Wahl des Lokals überlässt. Natürlich nennt sie just das Dorsia und Bateman versucht dann verzweifelt, doch vergeblich einen Tisch zu ergattern, nachdem er sich unter falschem Namen einschmuggeln wollte. Vielleicht ist es diese subtile gesellschaftliche Zurückweisung oder bloss der Ennui einer sinnleeren Designexistenz, die Bateman dazu bringt, grausame Morde in Serie zu verüben. Bettler, denen ohnehin seine Verachtung gibt, schlachtet er ebenso ab, wie ihm verhasste Schwuchteln, bevorzugt aber hübsche junge Frauen und Prostituierte, an denen er vorher noch seine sexuellen Perversionen auslebt.

Hier zeigt sich die andere Radikalität des Romans: Was hier an gewaltpornographischen Phantasien ausgebreitet wird, übersteigt sogar das kranke Gehirn eines Marquis de Sade. Kulminationspunkt ist sicher der Fellatio mit einem abgetrennten Kopf, den Bateman an seinem erigierten Penis durch den Raum trägt. Das sind Bilder, die nicht mehr aus dem Kopf gehen, so gerne man sie auch verbannen würde. Sie setzen aber den notwendigen Kontrapunkt zu den Perversionen und den nicht minder kranken Exzessen der Yuppie-Gesellschaft. In einem Moment der Selbsterkenntnis fasst es Bateman so zusammen: Alles, was er gelernt habe, alle Prinzipien, alle Moral, Bildung etc. habe sich als falsch erwiesen. Worauf alles hinausläuft sei lediglich: friss oder stirbt. Und Bateman nimmt diese Redewendung wortwörtlich, wenn er beginnt, seine Opfer nicht nur zu malträtieren, sondern auch zu verspeisen. Bateman erkennt auch unumwunden seine "Entmenschlichung" an, er versucht sich weder zu rechtfertigen noch empfindet er Reue. Vielmehr ist er der Überzeugung, dass er der Wirklichkeit nur den Spiegel vorhalte: auf übertriebene Weise das Friss und Stirb des Alltags lediglich imitiere. In einer grandiosen Szene wird diese Erkenntnis ad absurdum getrieben. Bateman, der Live-Konzerte verabscheut, wird an ein Konzert der irischen Band U2 geschleppt, wo er eine Art Epiphanie erlebt. Plötzlich schwinden alle Umweltsinne und Bateman sieht Bono von der Bühne auf ihn zukommen und ihm zuflüstern: Ich bin wie du, auch ich bin der Teufel ... Ausgerechnet der selbsternannte Gutmensch Bono verbrüdert sich mit dem Serienkiller. Was für eine brillante, ja maliziöse Pointe! Eine weitere, aus heutiger Sicht nachgerade beängstigende Pointe besteht darin, dass Bateman ein grosser Fan von Donald Trump ist.

Der Roman lässt offen, ob Bateman alle Greueltaten tatsächlich begeht oder ob sich alles nur in seiner Phantasie abspielt, ob es sich um Rachephantasien an einer Gesellschaft handelt, der er zwar gerne angehören möchte, die ihn zugleich aber auch abstösst. In einer signifikanten Stelle des Romans stellt sich Bateman vor, wie er durch den Riss in der Wand einer Toilette verschwinden würde und niemand würde davon Kenntnis nehmen. Der Protagonist leidet unter mangelnder Aufmerksamkeit, die er sich auch durch seine Morde, ob nur behauptet oder tatsächlich verübt, nicht erringen kann. Mehrfach betont er in Gesprächen mit seiner Freundin und seinen Kollegen die Gewalttaten gibt sich sogar als Mörder zu erkennen, doch niemand nimmt ihn ernst. Die Meisten hören gar nicht zu, sondern ignorieren ihn einfach und sprechen über ihre Heirats- oder Ferienpläne. So liest sich der Roman, der in Echtzeit aus der Ich-Perspektive geschrieben ist, was diegetisch eine Unmöglichkeit darstellt, technisch aber überzeugend gut funktioniert, wie ein ausgedehnten Geständnis oder wie eine ungeheure Provokation, um wenigsten von der Leserschaft die Aufmerksamkeit zu bekommen, die ihm im gesellschaftlich verwehrt wird.

In den Roman eingestreut sind auch drei scheinbar unmotivierte Kapitel mit Plattenbesprechungen von Genesis, Withney Houston und noch eine Gruppe, die ich jetzt vergessen habe. Bateman, der eine grosse CD-Sammlung besitzt - CDs waren in den 1980ern der letzte Schrei, weshalb ein Yuppie selbstverständlich auf dieses Medium setzte (heute wäre das anders) - erweist sich darin als feinfühliger und verständiger Liebhaber von Musik. Sie stehen im Kontrast zur ansonsten demonstrativen Orientierung an Oberflächlichkeiten. In solchen Passagen entfaltet sich die wahre Grösse des Romans, der eben nicht nur mit Schockmomenten arbeitet, das wäre zu billig, sondern auch genügend Irritationsmomente einstreut und somit eine Ambivalenz schafft, die mehr zur Auslotung psychischer Untiefen beiträgt, als ein moralisch übergestülptes Schwarz-Weiss-Schema.

Mittwoch, 17. Juli 2024

Ferienlektüre

Das Lesefrüchtchen macht, was denn sonst, Leseferien. Anstelle von Strandliteratur und aktuellen Bestsellern deckt es sich mit einem Koffer voller Bücher ein, die schon lange herumstehen, Wandschränke und Regale verstopfen, um sie endlich los zu werden. Jetzt oder nie. Die Devise ist, alle Bücher in den Ferien wenigstens an- und wenn sie etwas taugen sogar auszulesen. Auf alle Fälle werden sie am Urlaubsort zurückgelassen für andere Lesefreudige oder die nächste Putzequipe, die sie ins Altpapier befördert. Denn um Altpapier handelt es sich bei den in die Jahre gekommen, stark abgenutzten, zerfledderten, irgendwo auf einem Flohmarkt oder bei einem Billighändler erworbenen Schmöker durchaus. Klassisches Lesefutter also, das rasch konsumiert und noch schneller vergessen und entsorgt werden kann. Ein paar kleine Reminiszenzen seien hier gleichwohl festgehalten:

Jack London, der "amerikanische Balzac", ein Vielschreiber und früher bei vielen Jugendlichen bekannt für seine Abenteuerromane. Er setzte sich ein Pensum von mindestens 1500 Wörtern pro Tag und schuf innerhalb von 16 Jahren mehrere hundert Erzählungen und über 40 Bücher. Bevor Adam kam ist die Geschichte eines Mannes mit gespaltenem Bewusstsein. Am Tag lebt er als moderner Mensch, nachts kehrt er im Traum in das prähistorische Dasein seiner tierischen Urahnen zurück. Diese "Traumpersönlichkeit" entwickelte der Ich-Erzähler schon früh als Kind, als er von wilden Tieren träumte, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Erklärt wird diese "Halb-Bewusstseins-Spaltung" durch eine "Anomalie". Der Protagonist präsentiert sich als "Wesen mit abnormen Erbgut", das heisst, seine "rassischen Erinnerungen" an die Urzeit sind bei ihm viel ausgeprägter als bei anderen Menschen. So durchlebt er im Traum nochmals die Abenteuer seines früheren Affen-Ichs namens Langzahn, zusammen mit seinem Freund Schlapport und der Flinken, mit der er später den Nachwuchs zeugen wird. Sie zählen zu einer schon etwas weiterentwickelten Spezies im Unterschied zum furchteinflössenden "Rotauge", ein wilder Uraffe, der als reiner "Atavismus" geschildert wird. Auf der anderen Seite existieren bereits Feuermenschen, die ihnen technisch überlegen sind.

Eine Zeitreise nicht im Traum, sondern mit einer Maschine erzählt H.G. Wells in seinem SF-Klassiker Die Zeitmaschine. Die Reise führt auch nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Ein namenloser Zeitreisender schildert einer Abendgesellschaft, nachdem er ein Modell seiner Zeitmaschine demonstrierte, seine Erlebnisse in der Zukunft. Und die sind alles andere als ermutigend. Er gelangt zwar in ein goldenes Zeitalter, in dem alle sozialen Probleme beseitigt sind und keine Gefahren mehr drohen und alle Menschen in Glückseligkeit leben - die allerdings um den Preis vollkommener Antriebslosigkeit. Die Eloi, das Volk, das er antrifft, befindet sich bereit auf einer degenerierten Stufe der Menschheit. Die ätherischen Wesen, die stets fröhlich, aber unbedarft sind, besitzen keine Kultur und keine Individualität; die herdenartige Schar von Menschen vegetiert mehr oder weniger nur vor sich hin. Daneben gibt es die bedrohlichen Morlocken, glitsche molchartige Wesen mit Glupschaugen, die unter der Erde leben. Zunächst vermutet der Zeitreisende, es handle sich um Untermenschen, die von den Eloi versklavt im Untergrund arbeiten müssen. Doch wie er bald feststellen muss, ist gerade das Gegenteil der Fall: Die Morlocken halten sich die naiven Eloi quasi als menschliches Mastvieh, das sie in regelmässigen Origen genüsslich verspeisen. Keine besonders verlockende Zukunftsvision. Doch es kommt noch schlimmer. Nachdem sich der Zeitreisende aus den Fängen der Morlocken befreien und auch die von ihnen beschlagnahmte Maschine zurückerobern kann, reist er weiter in die Zukunft, wo ein Schreckensszenario, das nächste ablöst: zunächst ist die Welt nur noch mit Monsterkrebsen bevölkert, danach folgt eine Eiszeit und schliesslich herrscht nur noch eine beklemmende Stille, weil alles Leben ausgelöscht ist. 

Und noch eine Zeitreise: Das Fenster zum Sommer von Hannelore Valencak, 1967 ursprünglich unter dem Titel Zuflucht hinter der Zeit erschienen. Der Titel, so dachte das Lesefrüchtchen, sei ideal für die eine Sommerferienlektüre. Doch weit gefehlt, denn es verhält sich gerade anders. Die icherzählende Protagonistin, die eigentlich mit ihrem jungvermählten Mann in die Sommerferien nach Camargue fahren will, wider Erwarten aber nicht an einem Julimorgen in seinen Armen aufwacht, sondern ein knappes halbes Jahr früher, mitten im Winter, in der Wohnung ihrer Tanta Priska, die sie seit dem siebten Lebensjahr grossgezogen hatte, weil die leibliche Mutter nach ihrer Scheidung nach Kanada auszog und ihr Kind zurückliess. Seither befand sich Ursula, so heisst die Protagonistin, in einem Interimszustand, in einer Warteposition, die sie am richtigen Leben hindert: "sehr selten hatte ich den Mut zu fühlen: Ich bin da. Ich bind auf der Welt. Viel öfter sagte ich mir: Das ist jemand anderer, der das erlebt. Meine Stunde ist noch nicht da. Ich muss warten lernen. Und manchmal erschrak ich, wenn etwas in mir sagte: Da kannst du lange warten. Deine Zeit kommt nie." Doch dann geschieht das (Un-)Erwartete und ihr Leben, springt "in ein neues Geleise". Die Metapher ist gut gewählt, denn der Moment ereignet sich in der Strassenbahn, als sie mit einem Mann (Joachim) zusammenstösst. Sie verlieben sich Hals über Kopf, heiraten rasch, kaufen sich gleich darauf ein Haus und sind glücklich. Doch dann wird Ursula nolens volens in die Vergangenheit zurückkatapultiert und auf eine harte Probe gestellt. Vorbei der schöne Traum. Sie ist wieder Single. Natürlich will sie den "Rückweg zu Joachim" finden, der zeitlich besehen eher ein Vorwärtsweg ist, weil die Begegnung mit ihm noch in der Zukunft liegt. Sie begibt sich in seine Nähe und macht sich bemerkbar, um ihn wieder für sich zu gewinnen. Doch sie entdeckt ihn bloss mit seiner bildhübschen Verlobten. Als Zeitreisende in die eigene Vergangenheit lernt Ursula ihr Umfeld mit anderen Augen zu betrachten. Vor allem realisiert sie, dass sie nicht in die Vergangenheit nicht beeinflussen darf, wenn sie die wieder gewünschte (alte) Zukunft münden soll. Sie lässt deshalb von ihren Manipulationsversuchen ab und wartet nur noch auf den Augenblick, in dem sich der zukünftige Zusammenstoss mit Joachim nochmals einstellen wird. Sie durchlebt alles zweimal und sie präkognitiv auch voraus, was jeweils geschehen wird, was sich aber als grosse Schwierigkeit herausstellt. Denn wie Joachim einmal zu ihr sagte: "Wir kennen vielleicht unsere Zukunft nicht, damit wir sie uns nicht selber verderben können." Buchstäblich in einem Wettlauf gegen die Zeit versucht Ursula die ihr bekannte Zukunft doch noch zu erreichen, doch die Strassenbahn, in dem sich der Zusammenstoss mit Joachim ereignen sollte, fährt ihr vor der Nase davon. Sie kann ihrem neuen Leben nur noch hinterhersehen und ihr altes wieder aufnehmen. Einige Zeit später erfährt sie allerdings, dass Joachim in der Nacht, als sie in die Vergangenheit zurückfiel, an einem Herzinfarkt gestorben ist. Ihr Sommer mit ihm, so folgert sie, "war irrtümlich in der Welt. Er war nichts als eine Möglichkeit unter vielen tausend anderen Möglichkeiten gewesen, und Joachim hat nie gewusst, dass er sie versäumt hat." Ursula erscheint nun das Schnippchen, das ihr die Zeit geschlagen hat, als Gnadenakt, da es ihr erlaubte, den Verlust von Joachim im Vorfeld zu verarbeiten, so dass sein Tod schliesslich keine Katastrophe mehr darstellt. Mehr noch lernte sie in dieser Zeit, als ihr die Zukunft quasi vorbestimmt schien, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Die Paradoxie von freiem Willen und Determination speilt der Roman so anschaulich durch. Wie H.G. Wells so versucht auch die Autorin, die eine studierte Physikerin ist, im Nachwort die Zeitreise mit Theorien über die vierte Dimension zu plausibilisieren.

Es ist Sonntag und Zeit für einen Krimi: Wie die Tiere von Wolf Haas, der mit seinem Ermittler Brenner ein Garant für gute und gewitzte Unterhaltung ist. Und interessant: der Roman beginnt just auch mit der Frage nach der Reversibilität der Zeit: "der Mensch kann nichts ungeschehen machen, das ist von seiner ganzen philosophischen dings her nicht möglich". Diesmal ist Brenner einem Hundemörder auf der der Spur, der im Wiener Augarten mit Nadeln versehene Hundekekse ausstreut. Beauftragt hat ihn der Zuhälter Schmalzel vom "White Dog", in dessen Etablissement Brenner auch residieren darf, in einer Wohnung, die er sich mit einer spanischen Prostituierten wie ein altes Ehepärchen teilt. Da Schamlzel beruflich umsatteln und sich ein neues Image zulegen will, engagiert er sich mit der Kampagne "Tierfamilie" fürs Gemeindewohl. Als dann ausgerechnet die attraktive Mitarbeiterin, die beim Unterschriftenfang jedem Mann den Kopf verdreht, von einem Argentino totgebissen wird, nimmt der Fall so richtig Fahrt auf. Brenner fürchtet jedoch, es könne ein "Frauenfall" werden, die "immer wahnsinnig kompliziert" sind im Vergleich zu Männerfällen. Dort gibt es schlicht "einen schönen Mord", jemand "drückt einmal ab und aus, und dann musst als Detektiv den Burschen eben finden". Und tatsächlich muss sich Brenner dann hauptsächlich mit Frauen und einer wildgewordenen Meute von "Kampfmüttern" herumschlagen, weil er sich unvorsichtig über den Wert von Ohrfeigen geäussert hat. Am Ende ist dann aber doch ein Mann der Bösewicht und es kommt zu einem spektakulären Showdown auf dem alten Flakturm im Augarten. Dem Täter wird vom Rotorblatt eines Helikopters der Kopf abgesäbelt und vom Föhn-Wind über die Dächer der Stadt getragen, bis er in einem Kinderbecken landet. Die ganze Groteske wird im typischen Brenner-Stil erzählt, was wesentlich zur Sprachkomik beiträgt, eine zugleich altkluge, wie jargonlastige Diktion im Secondo-Stil. Und musst du wissen: Es gibt den wohl längsten Cliffhänger der Krimigeschichte. Ein Witz relativ zu Beginn wird erst ganz am Ende aufgelöst.

Brenner wohnt im Rotlicht und auch der Roman Im Stein von Clemens Meyer spielt in diesem Milieu. Er bietet ein Panorama (oder vielmehr ein Purgatorium) der Prostitution in Ostdeutschland nach der Wende, multiperspektivisch erzählt aus der Sicht verschiedener Personen: Sexarbeiterinnen, Zuhälter, Polizisten etc. Von der Harz IV-Empfängerin über die junge Studentin bis zu schmierigen Paschas, die Zonen-Gabys ebenso wie die Ruhrpott-Uschis - alle wollen sie mit Sex das grosse Geld verdienen. Es gibt den Alten vom Berg, Arnold Kraushaar (als Jugendlicher mit "Schamhaar" verspottet), der Wohnungen für käuflichen Sex vermietet, und sein Konkurrent, genannt der "Graf" oder der "Bielefelder", obschon er gar nicht aus Bielefeld stammt, der in der "Burg" ein Edelpuff betreibt. Ein beeindruckend opulenter Roman, technisch gekonnt, doch leider mit dem kapitalen Fehler der Handlungsarmut. Der Roman will nicht so richtig in die Gänge kommen. Zwar passiert ein grausiger Mord: jemand wird mit abgesäbeltem Bein im Moor versenkt, doch insgesamt zerläuft sich der Roman in seiner Gedächtnisstrom-Architektur. Was im ersten Kapitel noch ambitioniert wirkt, ist auf die Länge nur noch redundant und ermüdet rasch. Als narratives Experiment ist die Gedankenflut zwar interessant, verspricht sie doch eine Innensicht ins deutsche Bewusstsein mit seiner Doppelmoral und eine zuweilen grelle Ausleuchtung von Tabuzonen. Literarisch bleibt es aber enttäuschend. Eine richtige Sozialreportage wäre wohl ergiebiger gewesen, ein echter Szenekrimi wiederum packender. An einer Stelle denkt sich ein Polizist, der für die Tatort-Serie im Fernsehen als Berater angefragt wurde, um die Filme realistischer zu gestalten: "Dann lieber die Dramen, die dramatischen Seifenopern, Schimmis Faust, Cognac und Zigaretten für Haferkamp." Diese Einsicht lässt sich mühelos auf den Roman selbst anwenden, der zu viel wollte und daran gescheitert ist. Ein Szeneapplaus gebührt dem Autor indes für das Kapitel über den Radiomoderator Ecki Edelkirsch, der von Sex-Kalauern nur so strotzt. Die beiden besten gehen aufs Konto von Goethe: "Wanderers Nach-Glied" und "der ewige alte Reinstecke Fuchs". Auch gut: "it's blowtime!". In eine ähnliche Richtung geht folgender Dialog: "Weisst du eigentlich, woher der Begriff Rotlicht kommt?" "Nein." "Im Mittelalter mussten die Frauen als Zeichen dieser Zunft rote Kappen tragen." "Rotkäppchen war also eine Hure?" - Deshalb wird im Roman symbolischer Weise auch pausenlos Rotkäppchen-Sekt getrunken.

Ein Buch, das das Lesefrüchtchen eher auch enttäuscht hat, obschon es den Autor besonders schätzt, ist Blaubarts letzte Liebe aus dem Nachlass von Hans Natonek. Manchmal erweist man Schriftstellern mit postumen Editionen einen Bärendienst. So auch hier. Der gebürtige Prager Autor flüchtete mit Hilfe von Varian Fry über Portugal ins Exil in den U.S.A. Auch Thomas Mann, den Natonek zusammen mit Walter Mehring und Ernst Weiss von Paris per Telegramm anschrieb, unterstützte die Einreise nach Amerika. Im Gepäck auf dem Flüchtlingsdampfer 'Manhattan' hatte Natonek eine alte Aktentasche dabei mit dem kaum mehr entzifferbaren Manuskript des Romans. Obschon es ein historischer Stoff ist, der die Geschichte der Freiheitskämpferin Jeanne d'Arc und dem als Kindermörder verrufenen Gilles de Rais mit vielen poetischen Lizenzen erzählt, lässt er sich doch als Allegorie auf die Schrecken des Faschismus lesen. Jeanne und Gilles, beide als Ketzer verurteilt, erscheinen als Opfer eines repressiven Regimes. In zentralen Stellen des Romans wird das Wesen des Bösen als Grundlage für Machtausübung reflektiert. Vom Ansatz her interessant, in der Ausführung aber doch zu dünn und für einen historischen Roman zu wenig plastisch.

Im Ferienhäuschen lagen einige Schmöker herum, was das Lesefrüchtchen als willkommene Gelegenheit auffasste, sich wieder einmal einen internationalen Beststeller zu Gemüte zu führen, den alle Welt kennt, bloss das Lesefrüchtchen nicht, und zwar Der Schatten des Windes von Carlos Ruiz Zafón. Die Story beginnt wie eine Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges: eine labyrinthische Bibliothek, ein vergessenes Buch, ein mysteriöser verschollener Autor, eine blinde Leserin und ein gesichtsloser Mann, der auf Bücherjagd geht. Alle Ingredienzen für eine bibliophile Abenteuergeschichte sind beisammen, nur leider schlittert der Roman immer mehr in ein klebriges Liebesmelodram. Der junge Daniel Sempere macht sich auf die Suche nach den biographischen Spuren des Autors Julián Carax, dessen einzig überliefertes Exemplar von Der Schatten des Windes er in der Bibliothek der vergessenen Bücher aufgestöbert hat, in die ihn sein Vater geführt hat. Mit dem Besitz des Buches beginnen jedoch die Probleme: Ein unheimlicher Mann ohne Gesicht und mit verbrannter Lederhaut will das Buch vernichten. Er scheint direkt aus dem Buch selbst entstiegen zu sein, in dem mit der teuflischen Gestalt von Laín Coubert eine nahezu identische Figur vorkommt. Doch weshalb ist er so erpicht darauf, das Buch zu zerstören? Und weshalb zieht das Buch den jungen Daniel dermassen in den Bann, obschon es sich um einen Schundroman handelt? Es beginnt eine Schnitzeljagd, auf der - Hinweis um Hinweis - das Schicksal von Carax rekonstruiert wird, der aus zunächst unerfindlichen Gründen von Barcelona fort nach Paris ging und dort als Dachstubenpoet in einem Pariser Bordell hauste, wo er sich als Pianospieler über Wasser hielt. Das Buch operiert mit einer simplen Rätseltechnik: Man liest zwei Drittel mit allerlei offenen Fragen und losen Enden, begegnet einer Vielzahl von Figuren aus der Vergangenheit des Dichters, um dann im letzten Drittel auf dem Serviertablett die nicht mehr allzu überraschen Auflösung zu erhalten - die vollständige Lebensgeschichte des ominösen Autors Julian Carax, die natürlich mit einer tragischen Liebesgeschichte verknüpft ist. Nach Jahren im Pariser Exil muss Carax erfahren, dass seine ewige Geliebte, auf die er stets sehnsüchtig gewartet hat, nicht nur tot ist, sondern auch ihr gemeinsames Kind, das bei der Geburt gestorben war und kurz darauf auch sie, weil der Vater, der gegen diese Verbindung war, sie verbluten liess. (Was Julián nie erfährt, nur die Leser: Er ist ein uneheliches Kind, aus einem Seitensprung des Vaters, und seine Geliebte eigentlich seine Stiefschwester.) Nach der schockartigen Erkenntnis vom Doppeltod von Frau und Kind will er nur noch seine Existenz auslöschen - und dazu gehören auch seine Bücher als Kinder des Geistes. Er brennt das Lager seines Verlags nieder, erleidet dabei Verbrennungen, die ihn für immer entstellen und verwandelt sich dabei in die Figur aus seinem Roman Der Schatten des Windes: in den diabolischen Laín Coubert. In dieser Gestalt vernichtet er weiterhin seine Bücher, stöbert sie auch in Privathaushalten und in Buchhandlungen auf und entwendet sie. Das letzte Exemplar bleibt jedoch im Besitz des jungen Daniel. Denn Carax erkennt in ihm sich selber wieder und will, dass Daniel jenes Leben mit einer glücklichen Liebe führen kann, das ihm versagt geblieben ist. Das Buch wartet also mit reichlich Pathos und einem sentimentalistischen Ende auf, das arg auf die Tränendüse drückt. Für reichlich Humor sorgt hingegen die skurrile Figur Fermín, ein Art Ritter von der hageren Gestalt, der Daniel bei seiner Spurensuche unterstützt und ihm zudem mit Liebesratschlägen zur Seite steht. Auch er besitzt eine düstere Vergangenheit als Geheimdienstmitarbeiter, der von den Franco-Schergen während des Spanischen Bürgerkriegs grausam gefoltert wurde. In Gestalt des korrupten Polizeiinspektors Fumero, der nicht nur Fermín, sondern auch Carax jagt und etliche Personen auf dem Gewissen hat, dringt diese Vergangenheit zuweilen mit äusserster Brutalität in das Geschehen der Gegenwart. Die Suche nach Carax bringt auch die Schrecken der Franco-Diktatur zum Vorschein. Dem Roman ist somit neben der Familientragödie und dem Liebesskanal auch eine politische Dimension eingeschrieben, die im Grunde aber etwas aufgesetzt wirkt, da der Roman auch ohne sie verlustfrei als Mystery-Thriller funktionieren würde.