Montag, 2. September 2024

Andy Warhol: Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück (1975)

Der Titel ist natürlich mit einem Augenzwinkern zu verstehen. Eine Philosophie im eigentlichen Sinn ist bei der Popart-Ikone nicht zu erwarten. Vielmehr versammelt das auf dem Höhepunkt seiner Karriere entstandene Buch - 1962 gründete Warhol seine Factory und er kreierte seine berühmte Siebdruck-Serie der Campell's Soup Cans - eine Fülle von Ansichten und Lebensweisheiten aus der New Yorker Party- und Glamour-Szene über Schönheit, Sex, Geld, Kleider, Kunst, Ruhm, Erfolg und was die High Society sonst noch so beschäftigt. Wie auch in seinen Kunstwerken so orientiert sich Warhol auch in seinen Maximen und Reflexionen an den gesellschaftlichen Oberflächenphänomenen, um sie subtil zu subvertieren. Dabei sind seine Ansichten zuweilen erhellend, zuweilen belanglos, immer aber unkonventionell, mitunter provokant.

Ein paar willkürlich ausgewählte Kostproben: "Der höchste Preis, den du für die Liebe zahlen musst, ist, dass du jemanden um dich hast und nicht für dich allein sein kannst, was selbstverständlich besser ist." "Ein biederes Erscheinungsbild finde ich am besten. Wenn ich nicht so 'schlecht' aussehen wollte, dann würde ich 'bieder' aussehen wollen. Das fände ich auch gut." "Bei mir geht's ran, wenn's abgeht, ab ins Bett und Schluss. Das ist der grosse Moment, auf den ich immer warte." "Ich mag Geld an der Wand. Nehmen wir an, du wolltest ein Bild für 200 000 Dollar kaufen. Ich meine, dass du das Geld an eine Schnur binden und an die Wand hängen solltest." "Ein Künstler ist jemand, der Sachen produziert, die keiner haben muss." "In deinem Schrank sollte alles mit einem Verfallsdatum versehen sein, so wie bei Milch und Butter und Illustrierten und Zeitungen, und wenn das Verfallsdatum überschritten ist, sollte man das Ding wegwerfen."

Die im Titel erwähnten Buchstaben A und B suggerieren keine enzyklopädische Ordnung, vielmehr stehen sie für die beiden Gesprächspartner A und B, wobei letzterer eine Art sokratische Hebammenfigur darstellt, die A (i.e. Andy) seine Alltagsphilosopheme entlockt. Es handelt sich also um eine platonischer Dialog im Popart-Gewand, der zuweilen Nonsens-Dialoge vorwegnimmt, wie man sie später aus Tarantino-Filmen kennt, wenn sich zwei Figuren in Nebensächlichkeiten verbeissen, wie hier etwa anhand der Frage nach der Körpergrösse von Ursula Andress: Wo A behauptet sie sei ein Zwerg, bestreitet das B vehement, wobei diverse spitzfindige Argumente aus dem Köcher gezogen werden (z.B. die mutmassliche Höhe der Absätze unter den Schlaghosen), die jedem antiken Sophisten Freude gemacht hätten.

Höhepunkt des 'philosophischen' Rundumschlags sind zweifellos die Beschreibung von Warhols Manie, alles Erdenkliche die Toilette hinunterzuspülen bei gleichzeitiger Angstlust, dass es die Toilette verstopfen und wieder zum Vorschein kommen könne, sowie das Bekenntnis seines Unterhosen-Fetisch. Der Unterhosenkauf besitzt für Warhol eine nachgerade existenzielle Komponente: "Ich meine, ich würde lieber zusehen, wie einer seine Unterhosen kauft, als dass ich ein Buch lesen wollte, das er geschrieben hat." Seine Menschenkenntnis leitet Warhol auch hier vom Konsumgut ab, wobei es sich bei der Unterhose paradoxerweise um Intimwäsche und Warenartikel zugleich handelt, das Innere und Äussere also quasi dialektisch vermittelt.

Als wahrhaft philosophisch erweisen sich Warhols Reflexionen schliesslich dort, wo er ein Alltags-Mysterium thematisiert, das bis heute wohl alle auch regelmässig beschäftigt, auf das er aber ebenso wenig eine befriedigende Antwort finden: Weshalb verschwinden beim Waschen ständig Socken in der Maschine? Und wohin verschwinden sie? "Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger kann ich an die abnehmende Zahl glauben. Das ist einfach nicht zu glauben!" Theoretisch zu ergründen offenbar auch nicht. Es bleibt ein Stück unbewältigte Metaphysik.

Dienstag, 27. August 2024

John Hawkes: Travestie (1976)

Ein Buch, das einen von der ersten Seite an fraglos und unmittelbar fesselt. Und das obschon die gesamte Erzählanlage hochgradig unrealistisch ist. Handelt es sich doch um einen einzigen langen Monolog, in Echtzeit vorgetragen, und zwar am Steuer eines mit Hochgeschwindigkeit fahrenden Autos. Auf dem Nebensitz befindet sich ein renommierter Lyriker, der nicht nur ein Verhältnis mit der Frau des Autofahrers, sondern auch mit dessen Tochter einging, die sich hinten auf dem Rücksitz verkriecht und aus Todesangst irgendwann übergeben muss. Der Fahrer nimmt beide mit auf eine letale Amokfahrt durch die Nacht mit dem erklärten Ziel, den Wagen am Ende mit allen Insassen gegen die Mauer einer alten Scheune prallen zu lassen und damit seine "private Apokalypse" herbeizuführen. Ein acte gratuit, wie der Fahrer selber zugibt, absurd und sinnlos: "was jetzt geschieht, muss jedem, ausser vielleicht den Insassen des zerstörten Wagens, unsinnig erscheinen".

Das literarische Motiv ist durch den Futurismus vorgeprägt. Tommaso Marinetti schildert im ersten Futuristischen Manifest eine ebenso waghalsige Autofahrt, die letztlich auch im (schier tödlichen) Unfall mündet, aus dem der Fahrer, aber - gestählt durch seinen Wagemut - als neuer Mensch hervorgeht. Der Crash als schöpferischer Akt und als Wiedergeburt. Einen ähnlich (pro)kreativen Effekt verspricht sich der Fahrer von dem nächtlichen Todesritt, den er mit dem Liebhaber seiner Frau und Tochter unternimmt. Nicht Eifersucht sei sein psychologisches Motiv, wie er beteuert, auch nicht Rache oder Strafe. Aus der schier endlosen Suada, die der Monolog- und Autoführer von sich gibt, geht sein Motiv zwar nicht restlos hervor, dafür umso deutlicher seine Perversionen. Insbesondere lässt sie tief blicken, was seinen Hang zum Sadismus betrifft.

Gleich zu Beginn bekennt er, ihn habe als Jugendlicher nichts so sehr fasziniert, wie verstümmelte Leichenbilder und Pinups. Die Kombination von Gewalt und Erotik hat ihn schon früh geprägt. Ihren Höhepunkt erreicht sie in der Affäre mit Monique, die er eines Abends mutwillig übers Knie legt und verdrischt, aus Revanche dann von ihr ungleich brutaler mit dem Gürtel gezüchtigt wird, was ihn aber zur Erkenntnis führt, dass "im Sadismus Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung" liege. Im Vergleich zu diesem Flagellantismus stellt die Todesfahrt für ihn die ultimative Ekstase dar, nachdem er jahrelang die Affäre des Lyrikers mit seiner Frau und Tochter nicht nur toleriert, sondern auf seine perverse Art auch gefördert und mitverfolgt hat, nur um alle (auch sich selbst) im entscheidenden Augenblick auszulöschen.

Weshalb aber heisst der schmale, von Jürg Laederach bravourös ins Deutsche übertragene Roman "Travestie"? Als literarisches Verfahren versteht man darunter die komische Verfremdung eines klassischen Stoffes. In diesem Fall ist es das bürgerliche Eifersuchtsdrama, das hier karnevalesk verkehrt wird. Keine heimlichen Liebschaften, kein offenes Duell unter Ehrenmännern, sondern eine perverse (und das heisst auf lateinisch wörtlich: verkehrte, also travestierte) und von langer Hand orchestrierte menage à quatre, die ihre Erfüllung im Kollektivtod finden soll. Als Schlüsselerlebnis gibt der Fahrer ein "Vorkommnis in [s]einem frühen Mannesalter" an, als er blindwütig auf einen älteren Herrn mit einem Mädchen lossteuerte, und das er "eine Art Travestie, mit einem Wagen, mit einem alten Lyriker und mit einer jungen Frau" bezeichnet, also eine direkte Vorwegnahme dessen, was er im Begriff ist, gerade nochmals aus- und diesmal auch: zu Ende zu führen.

Der Roman endet tödlich, zumindest mit dem "Versprechen": "Es wird keine Überlebenden geben. Keine."


Montag, 19. August 2024

Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974)

Weshalb erschiesst eine unscheinbare unbescholtene junge Frau kaltblütig einen Journalisten? Heinrich Bölls Antwort ist einfach: Weil sie zuvor schon der Presse zur Verbrecherin gestempelt wurde. Der Mord der Katharina Blum ist wie Bölls Buch eine direkte Abrechnung mit den unlauteren und ehrverletzenden Methoden des Skandaljournalismus, konkret der ZEITUNG, wie sie stets in Grossbuchstaben genannt wird und dabei das Layout der sensationslüsternen Headlines imitiert, wie man sie aus Boulevardzeitungen wie BILD u.ä. kennt. Es ist auch mehr als offensichtlich, dass Böll mit seiner berichthaften Erzählung das Imperium des Medienmoguls Alex Springer anklagt, wenn es im Impressum in ironischer Abwandlung üblicher Fiktionalitäts-Disclaimer heisst: "Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit Praktiken der ‘Bild’-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtig noch zufällig, sondern unvermeidlich." Der arme Axel! Hatte Daniel de Roulet zwei Jahre zuvor sein Chalet in Gstaad abgefackelt, sah er sich nun verbal von einem Nobelpreisträger attackiert und verunglimpft. Springer, darüber nicht erfreut, hatte seine Zeitungsredaktoren nach Erscheinen des Buchs angewiesen, die Bestsellerlisten temporär nicht mehr abzudrucken, weil Böll dort ganz oben figurierte.

Die Geschichte folgt dem Prinzip des analytischen Dramas: Eine gewisse Katharina Blum zeigt sich bei der Polizei wegen des Mordes an einem Journalisten an. Vor kurzer Zeit war sie bereits einmal auf dem Posten, weil sie Kontakt zu einem gesuchten Straftäter  hatte. Die Polizei glaubte an ein von langer Hand geplantes Komplott, doch Katharina kannte ihn vorher nicht, sondern hat sich an nur einem Abend Hals über Kopf in ihn verliebt. Um den Mann ihres Lebens zu schützen, verhilft sie ihm zur Flucht und lässt ihn im Landhaus ihres zudringlichen "Herrenbesuchs" – ein vermögender Freund ihres Chefs und Vermieters macht ihr regelmässig Avancen – untertauchen. Aus all diesen zufälligen Einzelheiten konstruiert die Polizei, vor allem aber die Presse falsche Kausalzusammenhänge, die Katharina Blum in immer schlechterem Licht dastehen lassen. Erst recht da der "Herrenbesuch", ein öffentlich bekannter Industrieller, um seinen guten Ruf fürchtet und seinen Einfluss in den Chefetagen der Redaktion spielen lässt. Die Journalisten schnüffeln in Blums Vergangenheit herum, befragen Bekannte und frühere Kollegen, drehen diesen das Wort im Munde herum, stets natürlich zu Ungunsten der Blum, die schliesslich als gemeingefährliche Terroristenbraut dasteht.

Dann folgt der letzte Twist der Erzählung: Nun denken natürlich alle, Katharina Blum habe sich am Journalisten für seine üblen Verleumdungen rächen wollen und ihn deshalb erschossen. Es wird auch nicht in Abrede gestellt, dass sie mit diesem Gedanken gespielt habe. Jedenfalls nahm sie eine geladene Pistole mit an den vorgetäuschten Interviewtermin, den sie arrangierte, um der Person, die ihr Leben ruinierte, von Angesicht zu Angesicht in die Augen zu sehen. Auslöser für den Schuss war dann aber keine direkte Vergeltungsmassnahme. Der Grund war, weil der Journalist die Interviewsituation ausnutzen und sich an Katharina Blum vergehen (wie es im Original so schön heisst: an ihre "Kledage" gehen) wollte. Es handelte sich, das suggeriert diese finale Episode, offenbar um ein ganz mieses Exemplar der Journaille. Er glaubt, die verzweifelte Lage, in die er Blum durch seine tendenziösen Artikel gebracht habe, auch noch schamlos ausnutzen zu können. Wie man im Laufe des Buches erfährt, ist die zwar gut aussehende, aber etwas prüde Katharina Blum immer mal wieder zum unfreiwilligen Opfer solcher Übergriffe geworden.

Das Ganze ist im nüchternen Protokollstil erzählt, stets durchsetzt mit einer Prise Süffisanz und Sarkasmus, etwa wenn der Begriff "Quelle" (für Informationsquellen wie sie im Journalismus, aber auch bei der Polizeiarbeit zentral sind) beim Wort genommen und daraus das leitende ‘Pfützengleichnis’ vom Zusammenführen verschiedener Rinnsale gebildet wird. Auffällig ist auch, dass der Name des gesuchten Verbrechers Göttens fast die anagrammatische vertauschte Namensform des ermordeten Journalisten Tötgens ist und zugleich ein telling name: Tötgens wird tatsächlich von Blum getötet, während Göttens von ihr vergöttert wird. Dieses Beispiel belegt den stark schematischen Aufbau der Geschichte, die trotz einer höchst unplausiblen Handlung doch oft holzschnitzartig in der Figurenzeichnung und den verwendeten Stereotypen ist – und sich damit von der plakativen Art eines Boulevardblatts kaum unterscheidet, nur dass hier natürlich gegen die Revolverpresse Stimmung gemacht wird. Die Absicht ist dem Text von Anbeginn deutlich eingeschrieben, worunter nicht nur die Differenziertheit leidet, sondern auch die literarische Qualität. Die eingestreute Behauptung, dass "hier nicht ge-, sondern nur berichtet werden soll", ist genau so zweifelhaft wie in vielen Zeitungsberichten. Ein Stück Tendenzliteratur. 

Mittwoch, 7. August 2024

Haruki Murakami: Kafka am Strand (2002)

Kafka ist hoch im Kurs wegen seinem 100. Todestag. Das Lesefrüchtchen nimmt dies zum Anlass, um - nein, nicht Kafka selbst zu lesen, den kennt es schon zu Genüge, sondern um sich auf bislang unbekanntes Terrain zu wagen. Angelockt vom Titel, liest es seinen ersten Murakami: Kafka am Strand. Um den historischen Franz Kafka geht es dabei jedoch nur am Rande, nur einmal wird der Schriftsteller und seine bekanntesten Bücher kurz erwähnt. Mit Kafka ist stattdessen der 15jährige Kafka Tamura gemeint, der an einer Stelle so charakterisiert wird: "Cool wie eine Gurke, geheimnisvoll wie Kafka." Echt jetzt? Er wählte diesen Übernamen, um sich als Ausreisser von zuhause "ein neues Ich" zu schaffen. Dieses neue Ich artikuliert sich als innere Stimme eines Jungen namens Krähe, weil - jahaha! -Kafka auf tschechisch Krähe bedeutet, worauf der Roman auch nicht versäumt hinzuweisen. Kafka-Fans wissen das natürlich längst. Das Familienwappen von Franz Kafka ziert eine rabenschwarze Krähe. 

Dieses Krähen-Über-Ich begleitet den jungen Kafka auf seinem Weg ins Erwachsenwerden, das jedoch rasch phantastische Züge annimmt und ziemlich verworren wird. Kafka schlittert in einer Art Traum- oder Parallelwelt, in der sich die unheilvolle ödipale Prophezeiung seines Vaters zu erfüllen scheint: Er (oder vielmehr stellvertretend für ihn der Katzenflüsterer Nakata) bringt ihn um und begeht Inzest mit seiner Mutter und seiner Schwester - ob real oder nur in seiner Vorstellung ist ebenso unklar wie ob es sich tatsächlich Mutter und Schwester handelt, die er seit dem vierten Lebensjahr nie mehr gesehen hat. Jedenfalls glaubt er in einer Tramperin seine Schwester und seine Mutter in der mysteriösen Bibliothekarin Saeki-San, die früher eine kurze Karriere als Sängerin und einen grossen Erfolg mit dem Lied Kafka am Strand hatte. Nun hängt ein Gemälde mit dem selben Titel in der Bibliothek, das offenbar Seaki-Sans früheren Geliebten zeigt, der um tragische Weise ums Leben kam, weshalb sie schliesslich die Gesangskarriere aufgab.

Der Songtext handelt von einem Moment, bei dem Fische vom Himmel fallen und ein Stein den Eingang in eine andere Welt öffnet, die von Soldaten bewacht wird. Genau das, was die Lyrics prophezeien, ereignet sich dann, wobei das Schicksal von Tamura Kafka auf unerklärliche Weise mit demjenigen von Nakata gekoppelt ist. Bei einem paranormalen Vorfall in der Kindheit wurde Nakata schwachsinnig, glaubt seither aber Katzen sprechen zu hören und verdient seinen Lebensunterhalt damit, herumstreunende Tiere wieder ihren Besitzern zurückzubringen, bis er auf Johnny Walker stösst oder vielmehr auf eine Art Dämon, der sich in Gestalt des Whiskey-Brands manifestiert. Er zwingt Nakata auf perfide Weise - indem er vor seinen Augen reihum die geliebten Katzen abschlachtet - dazu, ihn selbst zu ermorden. Doch wie sich am nächsten Morgen herausstellt, handelt es sich bei der Leiche um den Vater von Kafka, der nach der Mordnacht ebenfalls mit blutverschmiertem Shirt aufwacht. Höhere Mächte kitten fortan beide aneinander, ohne dass sie gegenseitig von ihrer Existenz wissen. Nakata schafft es mit Hilfe eines Truckers, den Eingang zur Parallelwelt zu öffnen und ermöglicht es dadurch Kafka, in sie einzutreten. Während Nakata mit dem Leben dafür bezahlt, kehrt Kafka als gereifter Jüngling vom "Rande der Welt" zurück. Am Ende weiss man nicht, was Realität, was blosse Einbildung und Traum war. Fest steht nur, dass der Junge namens Krähe seinen Adoleszenzprozess abgeschlossen hat.

Kafka am Strand ist Mysterythriller, antike Tragödie (Ödipus-Motiv), Coming-of-Age-Geschichte, Fantasyroman, japanische Gespenstersage und zu zwei Dritteln ein veritabler Pageturner, der all die aufgebaute Spannung am Ende aber nicht auflöst.. Vor allem aber ist der Roman, was man heutzutage Midcult nennt: eine seichte Lektüre, die einen gehobenen Anspruch erwecken will, ohne ihn wirklich einzulösen. Bestes Beispiel dafür ist der Titel, der Kafka zwar zitiert, was für den Roman aber insgesamt keine Rolle spielt. Der Protagonist könnte genauso gut Konrad heissen, das würde keinen Unterschied machen und der Geschichte auch nichts fehlen. Zum Midcult gehört auch das zwar raffiniert, aber letztlich doch bedeutungslos eingestreute Bildungsgut, das mit der Handlung in keinem anderen Bezug steht, als dass eine Figur gerade ein Buch liest oder bestimmte Musik hört, ansonsten aber keinen übergeordneten Symbolwert besitzt, lediglich äusserlich aufgesetzt ist. So referiert ein Café-Besitzer lang und breit über Beethovens Erzherzog-Trio, der geneigten Leserin wird also en passant kanonisiertes Bildungswissen serviert, dabei ist dieses Stück für den Text selbst nicht mehr als nur eine weitere Requisite, ohne die er ebenso bruchlos funktionieren würde.

Damit ist ein zentrales Merkmal von Murakamis Schreibstil angesprochen: Er operiert stark mit Versatzstücken nicht nur inhaltlicher, auch rein sprachlicher Natur. Auffällig etwa dort, wo banale Handlungsabläufe wie Aufstehen, Essen, Waschen, Zu-Bett-Gehen in allen irrelevanten Einzelheiten und repetitiv geschildert werden. Das bringt die Erzählung voran, ohne dass wirklich etwas geschieht, und dient wohl der lesenden Erholung. Man liest, ohne sich übermässig konzentrieren und Informationen aufnehmen zu müssen. Die Leserin kann sich vom Text berieseln lassen wie von einer Telenovela und hat trotzdem das Gefühl, an der gehobenen Literatur teilzuhaben. Damit soll dieses Leseerlebnis nicht geschmälert werden. Schliesslich tut es hin und wieder einfach gut, einen dickleibigen Roman in einem Schnurz durchzulesen. Ärgerlich ist am Ende dann nur, dass man - wie nach einem Besuch in einer Fastfood-Kette - mit einem falschen Gefühl der Sättigung zurückgelassen wird. Alles, was sich als so bedeutungsschwanger ankündigte, verflüchtigt sich als heisse Luft.

Samstag, 3. August 2024

Bret Easton Ellis: American Psycho (1991)

Und nun nach all den leichtfüssigen, um nicht zu sagen schwachbrüstigen, Ferienlektüren zum mit Abstand besten Buch, das sich das Lesefrüchtchen in dieser Zeit vorgeknöpft hat, weil das Buch viel riskiert und nur gewinnt: American Psycho von Bret Easton Ellis, mittlerweile natürlich fast schon ein zeitgenössischer Klassiker. Das Lesefrüchtchen hat bislang aber weder das Buch gelesen noch die Verfilmung gesehen. In zweierlei Hinsicht ist der Roman total radikal: Einerseits im Warenfetischismus, der pausenlos betrieben wird, andererseits in den explizit geschilderten Gewaltausbrüchen.

Etwa die Hälfte des Buches besteht ausschliesslich in der abundanten Aufzählung von Kleider- und Markennamen. Jede auftretende Figur wird detailliert mit ihren Kleidungsstil mit allen Labels, Stoffen und Accessoires beschrieben - und das wird auch bis zum Ende des Romans knallhart ad nauseam durchgezogen. Und geschätzt auf jeder zweiten Seite taucht wieder eine Hardbody-Kellnerin auf. Darin zeigt sich die Oberflächlichkeit der mondänen Scheinwelt, in der sich die Yuppies bewegen, die lediglich aus Status, Geld, teuren Klamotten und einem durchtrainierten Körper besteht, hinter der sich dann aber die wahren Abgründe auftun. Diese Beschreibungswut erinnert in ihrer Exzessivität an die enzyklopädischen Aufzählungen von Parfüms und Düften, Stoffen und Farben in Huysmans Décadence-Roman A rebours. Stand dort mit Des Esseintes ein überreizter, gefühlskalter Dandy im Zentrum, haben wir es hier mit einem hochnarzisstischen Snob zu tun.

Patrick 'Pat' Bateman, ein Wall Street Banker, aus dessen Perspektive simultan alles geschildert wird, fokussiert sich manisch auf alle äusserlichen Etiketten und versucht sich in seiner Peergroup zu behaupten. Er will, wie er freimütig bekennt, einfach auch dazugehören. Nicht immer erfolgreich, wie einige satirische Episoden demonstrieren: etwa beim Visitenkarten-Vergleich oder beim vergeblichen Versuch um angesagten Szenerestaurant Dorsia einen Tisch zu reservieren. Die Schmach, vom Dorsia abgelehnt zu werden, während andere, wie sein Bruder dort fast Hausrecht geniessen, zieht sich als running gag durch den gesamten Roman. Besonders amüsant dort, wo Bateman seine Sekretärin pseudogenerös zum Essen auffordert und ihr die Wahl des Lokals überlässt. Natürlich nennt sie just das Dorsia und Bateman versucht dann verzweifelt, doch vergeblich einen Tisch zu ergattern, nachdem er sich unter falschem Namen einschmuggeln wollte. Vielleicht ist es diese subtile gesellschaftliche Zurückweisung oder bloss der Ennui einer sinnleeren Designexistenz, die Bateman dazu bringt, grausame Morde in Serie zu verüben. Bettler, denen ohnehin seine Verachtung gibt, schlachtet er ebenso ab, wie ihm verhasste Schwuchteln, bevorzugt aber hübsche junge Frauen und Prostituierte, an denen er vorher noch seine sexuellen Perversionen auslebt.

Hier zeigt sich die andere Radikalität des Romans: Was hier an gewaltpornographischen Phantasien ausgebreitet wird, übersteigt sogar das kranke Gehirn eines Marquis de Sade. Kulminationspunkt ist sicher der Fellatio mit einem abgetrennten Kopf, den Bateman an seinem erigierten Penis durch den Raum trägt. Das sind Bilder, die nicht mehr aus dem Kopf gehen, so gerne man sie auch verbannen würde. Sie setzen aber den notwendigen Kontrapunkt zu den Perversionen und den nicht minder kranken Exzessen der Yuppie-Gesellschaft. In einem Moment der Selbsterkenntnis fasst es Bateman so zusammen: Alles, was er gelernt habe, alle Prinzipien, alle Moral, Bildung etc. habe sich als falsch erwiesen. Worauf alles hinausläuft sei lediglich: friss oder stirbt. Und Bateman nimmt diese Redewendung wortwörtlich, wenn er beginnt, seine Opfer nicht nur zu malträtieren, sondern auch zu verspeisen. Bateman erkennt auch unumwunden seine "Entmenschlichung" an, er versucht sich weder zu rechtfertigen noch empfindet er Reue. Vielmehr ist er der Überzeugung, dass er der Wirklichkeit nur den Spiegel vorhalte: auf übertriebene Weise das Friss und Stirb des Alltags lediglich imitiere. In einer grandiosen Szene wird diese Erkenntnis ad absurdum getrieben. Bateman, der Live-Konzerte verabscheut, wird an ein Konzert der irischen Band U2 geschleppt, wo er eine Art Epiphanie erlebt. Plötzlich schwinden alle Umweltsinne und Bateman sieht Bono von der Bühne auf ihn zukommen und ihm zuflüstern: Ich bin wie du, auch ich bin der Teufel ... Ausgerechnet der selbsternannte Gutmensch Bono verbrüdert sich mit dem Serienkiller. Was für eine brillante, ja maliziöse Pointe! Eine weitere, aus heutiger Sicht nachgerade beängstigende Pointe besteht darin, dass Bateman ein grosser Fan von Donald Trump ist.

Der Roman lässt offen, ob Bateman alle Greueltaten tatsächlich begeht oder ob sich alles nur in seiner Phantasie abspielt, ob es sich um Rachephantasien an einer Gesellschaft handelt, der er zwar gerne angehören möchte, die ihn zugleich aber auch abstösst. In einer signifikanten Stelle des Romans stellt sich Bateman vor, wie er durch den Riss in der Wand einer Toilette verschwinden würde und niemand würde davon Kenntnis nehmen. Der Protagonist leidet unter mangelnder Aufmerksamkeit, die er sich auch durch seine Morde, ob nur behauptet oder tatsächlich verübt, nicht erringen kann. Mehrfach betont er in Gesprächen mit seiner Freundin und seinen Kollegen die Gewalttaten gibt sich sogar als Mörder zu erkennen, doch niemand nimmt ihn ernst. Die Meisten hören gar nicht zu, sondern ignorieren ihn einfach und sprechen über ihre Heirats- oder Ferienpläne. So liest sich der Roman, der in Echtzeit aus der Ich-Perspektive geschrieben ist, was diegetisch eine Unmöglichkeit darstellt, technisch aber überzeugend gut funktioniert, wie ein ausgedehnten Geständnis oder wie eine ungeheure Provokation, um wenigsten von der Leserschaft die Aufmerksamkeit zu bekommen, die ihm im gesellschaftlich verwehrt wird.

In den Roman eingestreut sind auch drei scheinbar unmotivierte Kapitel mit Plattenbesprechungen von Genesis, Withney Houston und noch eine Gruppe, die ich jetzt vergessen habe. Bateman, der eine grosse CD-Sammlung besitzt - CDs waren in den 1980ern der letzte Schrei, weshalb ein Yuppie selbstverständlich auf dieses Medium setzte (heute wäre das anders) - erweist sich darin als feinfühliger und verständiger Liebhaber von Musik. Sie stehen im Kontrast zur ansonsten demonstrativen Orientierung an Oberflächlichkeiten. In solchen Passagen entfaltet sich die wahre Grösse des Romans, der eben nicht nur mit Schockmomenten arbeitet, das wäre zu billig, sondern auch genügend Irritationsmomente einstreut und somit eine Ambivalenz schafft, die mehr zur Auslotung psychischer Untiefen beiträgt, als ein moralisch übergestülptes Schwarz-Weiss-Schema.

Mittwoch, 17. Juli 2024

Ferienlektüre

Das Lesefrüchtchen macht, was denn sonst, Leseferien. Anstelle von Strandliteratur und aktuellen Bestsellern deckt es sich mit einem Koffer voller Bücher ein, die schon lange herumstehen, Wandschränke und Regale verstopfen, um sie endlich los zu werden. Jetzt oder nie. Die Devise ist, alle Bücher in den Ferien wenigstens an- und wenn sie etwas taugen sogar auszulesen. Auf alle Fälle werden sie am Urlaubsort zurückgelassen für andere Lesefreudige oder die nächste Putzequipe, die sie ins Altpapier befördert. Denn um Altpapier handelt es sich bei den in die Jahre gekommen, stark abgenutzten, zerfledderten, irgendwo auf einem Flohmarkt oder bei einem Billighändler erworbenen Schmöker durchaus. Klassisches Lesefutter also, das rasch konsumiert und noch schneller vergessen und entsorgt werden kann. Ein paar kleine Reminiszenzen seien hier gleichwohl festgehalten:

Jack London, der "amerikanische Balzac", ein Vielschreiber und früher bei vielen Jugendlichen bekannt für seine Abenteuerromane. Er setzte sich ein Pensum von mindestens 1500 Wörtern pro Tag und schuf innerhalb von 16 Jahren mehrere hundert Erzählungen und über 40 Bücher. Bevor Adam kam ist die Geschichte eines Mannes mit gespaltenem Bewusstsein. Am Tag lebt er als moderner Mensch, nachts kehrt er im Traum in das prähistorische Dasein seiner tierischen Urahnen zurück. Diese "Traumpersönlichkeit" entwickelte der Ich-Erzähler schon früh als Kind, als er von wilden Tieren träumte, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Erklärt wird diese "Halb-Bewusstseins-Spaltung" durch eine "Anomalie". Der Protagonist präsentiert sich als "Wesen mit abnormen Erbgut", das heisst, seine "rassischen Erinnerungen" an die Urzeit sind bei ihm viel ausgeprägter als bei anderen Menschen. So durchlebt er im Traum nochmals die Abenteuer seines früheren Affen-Ichs namens Langzahn, zusammen mit seinem Freund Schlapport und der Flinken, mit der er später den Nachwuchs zeugen wird. Sie zählen zu einer schon etwas weiterentwickelten Spezies im Unterschied zum furchteinflössenden "Rotauge", ein wilder Uraffe, der als reiner "Atavismus" geschildert wird. Auf der anderen Seite existieren bereits Feuermenschen, die ihnen technisch überlegen sind.

Eine Zeitreise nicht im Traum, sondern mit einer Maschine erzählt H.G. Wells in seinem SF-Klassiker Die Zeitmaschine. Die Reise führt auch nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Ein namenloser Zeitreisender schildert einer Abendgesellschaft, nachdem er ein Modell seiner Zeitmaschine demonstrierte, seine Erlebnisse in der Zukunft. Und die sind alles andere als ermutigend. Er gelangt zwar in ein goldenes Zeitalter, in dem alle sozialen Probleme beseitigt sind und keine Gefahren mehr drohen und alle Menschen in Glückseligkeit leben - die allerdings um den Preis vollkommener Antriebslosigkeit. Die Eloi, das Volk, das er antrifft, befindet sich bereit auf einer degenerierten Stufe der Menschheit. Die ätherischen Wesen, die stets fröhlich, aber unbedarft sind, besitzen keine Kultur und keine Individualität; die herdenartige Schar von Menschen vegetiert mehr oder weniger nur vor sich hin. Daneben gibt es die bedrohlichen Morlocken, glitsche molchartige Wesen mit Glupschaugen, die unter der Erde leben. Zunächst vermutet der Zeitreisende, es handle sich um Untermenschen, die von den Eloi versklavt im Untergrund arbeiten müssen. Doch wie er bald feststellen muss, ist gerade das Gegenteil der Fall: Die Morlocken halten sich die naiven Eloi quasi als menschliches Mastvieh, das sie in regelmässigen Origen genüsslich verspeisen. Keine besonders verlockende Zukunftsvision. Doch es kommt noch schlimmer. Nachdem sich der Zeitreisende aus den Fängen der Morlocken befreien und auch die von ihnen beschlagnahmte Maschine zurückerobern kann, reist er weiter in die Zukunft, wo ein Schreckensszenario, das nächste ablöst: zunächst ist die Welt nur noch mit Monsterkrebsen bevölkert, danach folgt eine Eiszeit und schliesslich herrscht nur noch eine beklemmende Stille, weil alles Leben ausgelöscht ist. 

Und noch eine Zeitreise: Das Fenster zum Sommer von Hannelore Valencak, 1967 ursprünglich unter dem Titel Zuflucht hinter der Zeit erschienen. Der Titel, so dachte das Lesefrüchtchen, sei ideal für die eine Sommerferienlektüre. Doch weit gefehlt, denn es verhält sich gerade anders. Die icherzählende Protagonistin, die eigentlich mit ihrem jungvermählten Mann in die Sommerferien nach Camargue fahren will, wider Erwarten aber nicht an einem Julimorgen in seinen Armen aufwacht, sondern ein knappes halbes Jahr früher, mitten im Winter, in der Wohnung ihrer Tanta Priska, die sie seit dem siebten Lebensjahr grossgezogen hatte, weil die leibliche Mutter nach ihrer Scheidung nach Kanada auszog und ihr Kind zurückliess. Seither befand sich Ursula, so heisst die Protagonistin, in einem Interimszustand, in einer Warteposition, die sie am richtigen Leben hindert: "sehr selten hatte ich den Mut zu fühlen: Ich bin da. Ich bind auf der Welt. Viel öfter sagte ich mir: Das ist jemand anderer, der das erlebt. Meine Stunde ist noch nicht da. Ich muss warten lernen. Und manchmal erschrak ich, wenn etwas in mir sagte: Da kannst du lange warten. Deine Zeit kommt nie." Doch dann geschieht das (Un-)Erwartete und ihr Leben, springt "in ein neues Geleise". Die Metapher ist gut gewählt, denn der Moment ereignet sich in der Strassenbahn, als sie mit einem Mann (Joachim) zusammenstösst. Sie verlieben sich Hals über Kopf, heiraten rasch, kaufen sich gleich darauf ein Haus und sind glücklich. Doch dann wird Ursula nolens volens in die Vergangenheit zurückkatapultiert und auf eine harte Probe gestellt. Vorbei der schöne Traum. Sie ist wieder Single. Natürlich will sie den "Rückweg zu Joachim" finden, der zeitlich besehen eher ein Vorwärtsweg ist, weil die Begegnung mit ihm noch in der Zukunft liegt. Sie begibt sich in seine Nähe und macht sich bemerkbar, um ihn wieder für sich zu gewinnen. Doch sie entdeckt ihn bloss mit seiner bildhübschen Verlobten. Als Zeitreisende in die eigene Vergangenheit lernt Ursula ihr Umfeld mit anderen Augen zu betrachten. Vor allem realisiert sie, dass sie nicht in die Vergangenheit nicht beeinflussen darf, wenn sie die wieder gewünschte (alte) Zukunft münden soll. Sie lässt deshalb von ihren Manipulationsversuchen ab und wartet nur noch auf den Augenblick, in dem sich der zukünftige Zusammenstoss mit Joachim nochmals einstellen wird. Sie durchlebt alles zweimal und sie präkognitiv auch voraus, was jeweils geschehen wird, was sich aber als grosse Schwierigkeit herausstellt. Denn wie Joachim einmal zu ihr sagte: "Wir kennen vielleicht unsere Zukunft nicht, damit wir sie uns nicht selber verderben können." Buchstäblich in einem Wettlauf gegen die Zeit versucht Ursula die ihr bekannte Zukunft doch noch zu erreichen, doch die Strassenbahn, in dem sich der Zusammenstoss mit Joachim ereignen sollte, fährt ihr vor der Nase davon. Sie kann ihrem neuen Leben nur noch hinterhersehen und ihr altes wieder aufnehmen. Einige Zeit später erfährt sie allerdings, dass Joachim in der Nacht, als sie in die Vergangenheit zurückfiel, an einem Herzinfarkt gestorben ist. Ihr Sommer mit ihm, so folgert sie, "war irrtümlich in der Welt. Er war nichts als eine Möglichkeit unter vielen tausend anderen Möglichkeiten gewesen, und Joachim hat nie gewusst, dass er sie versäumt hat." Ursula erscheint nun das Schnippchen, das ihr die Zeit geschlagen hat, als Gnadenakt, da es ihr erlaubte, den Verlust von Joachim im Vorfeld zu verarbeiten, so dass sein Tod schliesslich keine Katastrophe mehr darstellt. Mehr noch lernte sie in dieser Zeit, als ihr die Zukunft quasi vorbestimmt schien, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Die Paradoxie von freiem Willen und Determination speilt der Roman so anschaulich durch. Wie H.G. Wells so versucht auch die Autorin, die eine studierte Physikerin ist, im Nachwort die Zeitreise mit Theorien über die vierte Dimension zu plausibilisieren.

Es ist Sonntag und Zeit für einen Krimi: Wie die Tiere von Wolf Haas, der mit seinem Ermittler Brenner ein Garant für gute und gewitzte Unterhaltung ist. Und interessant: der Roman beginnt just auch mit der Frage nach der Reversibilität der Zeit: "der Mensch kann nichts ungeschehen machen, das ist von seiner ganzen philosophischen dings her nicht möglich". Diesmal ist Brenner einem Hundemörder auf der der Spur, der im Wiener Augarten mit Nadeln versehene Hundekekse ausstreut. Beauftragt hat ihn der Zuhälter Schmalzel vom "White Dog", in dessen Etablissement Brenner auch residieren darf, in einer Wohnung, die er sich mit einer spanischen Prostituierten wie ein altes Ehepärchen teilt. Da Schamlzel beruflich umsatteln und sich ein neues Image zulegen will, engagiert er sich mit der Kampagne "Tierfamilie" fürs Gemeindewohl. Als dann ausgerechnet die attraktive Mitarbeiterin, die beim Unterschriftenfang jedem Mann den Kopf verdreht, von einem Argentino totgebissen wird, nimmt der Fall so richtig Fahrt auf. Brenner fürchtet jedoch, es könne ein "Frauenfall" werden, die "immer wahnsinnig kompliziert" sind im Vergleich zu Männerfällen. Dort gibt es schlicht "einen schönen Mord", jemand "drückt einmal ab und aus, und dann musst als Detektiv den Burschen eben finden". Und tatsächlich muss sich Brenner dann hauptsächlich mit Frauen und einer wildgewordenen Meute von "Kampfmüttern" herumschlagen, weil er sich unvorsichtig über den Wert von Ohrfeigen geäussert hat. Am Ende ist dann aber doch ein Mann der Bösewicht und es kommt zu einem spektakulären Showdown auf dem alten Flakturm im Augarten. Dem Täter wird vom Rotorblatt eines Helikopters der Kopf abgesäbelt und vom Föhn-Wind über die Dächer der Stadt getragen, bis er in einem Kinderbecken landet. Die ganze Groteske wird im typischen Brenner-Stil erzählt, was wesentlich zur Sprachkomik beiträgt, eine zugleich altkluge, wie jargonlastige Diktion im Secondo-Stil. Und musst du wissen: Es gibt den wohl längsten Cliffhänger der Krimigeschichte. Ein Witz relativ zu Beginn wird erst ganz am Ende aufgelöst.

Brenner wohnt im Rotlicht und auch der Roman Im Stein von Clemens Meyer spielt in diesem Milieu. Er bietet ein Panorama (oder vielmehr ein Purgatorium) der Prostitution in Ostdeutschland nach der Wende, multiperspektivisch erzählt aus der Sicht verschiedener Personen: Sexarbeiterinnen, Zuhälter, Polizisten etc. Von der Harz IV-Empfängerin über die junge Studentin bis zu schmierigen Paschas, die Zonen-Gabys ebenso wie die Ruhrpott-Uschis - alle wollen sie mit Sex das grosse Geld verdienen. Es gibt den Alten vom Berg, Arnold Kraushaar (als Jugendlicher mit "Schamhaar" verspottet), der Wohnungen für käuflichen Sex vermietet, und sein Konkurrent, genannt der "Graf" oder der "Bielefelder", obschon er gar nicht aus Bielefeld stammt, der in der "Burg" ein Edelpuff betreibt. Ein beeindruckend opulenter Roman, technisch gekonnt, doch leider mit dem kapitalen Fehler der Handlungsarmut. Der Roman will nicht so richtig in die Gänge kommen. Zwar passiert ein grausiger Mord: jemand wird mit abgesäbeltem Bein im Moor versenkt, doch insgesamt zerläuft sich der Roman in seiner Gedächtnisstrom-Architektur. Was im ersten Kapitel noch ambitioniert wirkt, ist auf die Länge nur noch redundant und ermüdet rasch. Als narratives Experiment ist die Gedankenflut zwar interessant, verspricht sie doch eine Innensicht ins deutsche Bewusstsein mit seiner Doppelmoral und eine zuweilen grelle Ausleuchtung von Tabuzonen. Literarisch bleibt es aber enttäuschend. Eine richtige Sozialreportage wäre wohl ergiebiger gewesen, ein echter Szenekrimi wiederum packender. An einer Stelle denkt sich ein Polizist, der für die Tatort-Serie im Fernsehen als Berater angefragt wurde, um die Filme realistischer zu gestalten: "Dann lieber die Dramen, die dramatischen Seifenopern, Schimmis Faust, Cognac und Zigaretten für Haferkamp." Diese Einsicht lässt sich mühelos auf den Roman selbst anwenden, der zu viel wollte und daran gescheitert ist. Ein Szeneapplaus gebührt dem Autor indes für das Kapitel über den Radiomoderator Ecki Edelkirsch, der von Sex-Kalauern nur so strotzt. Die beiden besten gehen aufs Konto von Goethe: "Wanderers Nach-Glied" und "der ewige alte Reinstecke Fuchs". Auch gut: "it's blowtime!". In eine ähnliche Richtung geht folgender Dialog: "Weisst du eigentlich, woher der Begriff Rotlicht kommt?" "Nein." "Im Mittelalter mussten die Frauen als Zeichen dieser Zunft rote Kappen tragen." "Rotkäppchen war also eine Hure?" - Deshalb wird im Roman symbolischer Weise auch pausenlos Rotkäppchen-Sekt getrunken.

Ein Buch, das das Lesefrüchtchen eher auch enttäuscht hat, obschon es den Autor besonders schätzt, ist Blaubarts letzte Liebe aus dem Nachlass von Hans Natonek. Manchmal erweist man Schriftstellern mit postumen Editionen einen Bärendienst. So auch hier. Der gebürtige Prager Autor flüchtete mit Hilfe von Varian Fry über Portugal ins Exil in den U.S.A. Auch Thomas Mann, den Natonek zusammen mit Walter Mehring und Ernst Weiss von Paris per Telegramm anschrieb, unterstützte die Einreise nach Amerika. Im Gepäck auf dem Flüchtlingsdampfer 'Manhattan' hatte Natonek eine alte Aktentasche dabei mit dem kaum mehr entzifferbaren Manuskript des Romans. Obschon es ein historischer Stoff ist, der die Geschichte der Freiheitskämpferin Jeanne d'Arc und dem als Kindermörder verrufenen Gilles de Rais mit vielen poetischen Lizenzen erzählt, lässt er sich doch als Allegorie auf die Schrecken des Faschismus lesen. Jeanne und Gilles, beide als Ketzer verurteilt, erscheinen als Opfer eines repressiven Regimes. In zentralen Stellen des Romans wird das Wesen des Bösen als Grundlage für Machtausübung reflektiert. Vom Ansatz her interessant, in der Ausführung aber doch zu dünn und für einen historischen Roman zu wenig plastisch.

Im Ferienhäuschen lagen einige Schmöker herum, was das Lesefrüchtchen als willkommene Gelegenheit auffasste, sich wieder einmal einen internationalen Beststeller zu Gemüte zu führen, den alle Welt kennt, bloss das Lesefrüchtchen nicht, und zwar Der Schatten des Windes von Carlos Ruiz Zafón. Die Story beginnt wie eine Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges: eine labyrinthische Bibliothek, ein vergessenes Buch, ein mysteriöser verschollener Autor, eine blinde Leserin und ein gesichtsloser Mann, der auf Bücherjagd geht. Alle Ingredienzen für eine bibliophile Abenteuergeschichte sind beisammen, nur leider schlittert der Roman immer mehr in ein klebriges Liebesmelodram. Der junge Daniel Sempere macht sich auf die Suche nach den biographischen Spuren des Autors Julián Carax, dessen einzig überliefertes Exemplar von Der Schatten des Windes er in der Bibliothek der vergessenen Bücher aufgestöbert hat, in die ihn sein Vater geführt hat. Mit dem Besitz des Buches beginnen jedoch die Probleme: Ein unheimlicher Mann ohne Gesicht und mit verbrannter Lederhaut will das Buch vernichten. Er scheint direkt aus dem Buch selbst entstiegen zu sein, in dem mit der teuflischen Gestalt von Laín Coubert eine nahezu identische Figur vorkommt. Doch weshalb ist er so erpicht darauf, das Buch zu zerstören? Und weshalb zieht das Buch den jungen Daniel dermassen in den Bann, obschon es sich um einen Schundroman handelt? Es beginnt eine Schnitzeljagd, auf der - Hinweis um Hinweis - das Schicksal von Carax rekonstruiert wird, der aus zunächst unerfindlichen Gründen von Barcelona fort nach Paris ging und dort als Dachstubenpoet in einem Pariser Bordell hauste, wo er sich als Pianospieler über Wasser hielt. Das Buch operiert mit einer simplen Rätseltechnik: Man liest zwei Drittel mit allerlei offenen Fragen und losen Enden, begegnet einer Vielzahl von Figuren aus der Vergangenheit des Dichters, um dann im letzten Drittel auf dem Serviertablett die nicht mehr allzu überraschen Auflösung zu erhalten - die vollständige Lebensgeschichte des ominösen Autors Julian Carax, die natürlich mit einer tragischen Liebesgeschichte verknüpft ist. Nach Jahren im Pariser Exil muss Carax erfahren, dass seine ewige Geliebte, auf die er stets sehnsüchtig gewartet hat, nicht nur tot ist, sondern auch ihr gemeinsames Kind, das bei der Geburt gestorben war und kurz darauf auch sie, weil der Vater, der gegen diese Verbindung war, sie verbluten liess. (Was Julián nie erfährt, nur die Leser: Er ist ein uneheliches Kind, aus einem Seitensprung des Vaters, und seine Geliebte eigentlich seine Stiefschwester.) Nach der schockartigen Erkenntnis vom Doppeltod von Frau und Kind will er nur noch seine Existenz auslöschen - und dazu gehören auch seine Bücher als Kinder des Geistes. Er brennt das Lager seines Verlags nieder, erleidet dabei Verbrennungen, die ihn für immer entstellen und verwandelt sich dabei in die Figur aus seinem Roman Der Schatten des Windes: in den diabolischen Laín Coubert. In dieser Gestalt vernichtet er weiterhin seine Bücher, stöbert sie auch in Privathaushalten und in Buchhandlungen auf und entwendet sie. Das letzte Exemplar bleibt jedoch im Besitz des jungen Daniel. Denn Carax erkennt in ihm sich selber wieder und will, dass Daniel jenes Leben mit einer glücklichen Liebe führen kann, das ihm versagt geblieben ist. Das Buch wartet also mit reichlich Pathos und einem sentimentalistischen Ende auf, das arg auf die Tränendüse drückt. Für reichlich Humor sorgt hingegen die skurrile Figur Fermín, ein Art Ritter von der hageren Gestalt, der Daniel bei seiner Spurensuche unterstützt und ihm zudem mit Liebesratschlägen zur Seite steht. Auch er besitzt eine düstere Vergangenheit als Geheimdienstmitarbeiter, der von den Franco-Schergen während des Spanischen Bürgerkriegs grausam gefoltert wurde. In Gestalt des korrupten Polizeiinspektors Fumero, der nicht nur Fermín, sondern auch Carax jagt und etliche Personen auf dem Gewissen hat, dringt diese Vergangenheit zuweilen mit äusserster Brutalität in das Geschehen der Gegenwart. Die Suche nach Carax bringt auch die Schrecken der Franco-Diktatur zum Vorschein. Dem Roman ist somit neben der Familientragödie und dem Liebesskanal auch eine politische Dimension eingeschrieben, die im Grunde aber etwas aufgesetzt wirkt, da der Roman auch ohne sie verlustfrei als Mystery-Thriller funktionieren würde.

Samstag, 29. Juni 2024

René Daumal: Der Analog (1952)

Analog - das meint ihr nicht das Gegenteil von Digital, sondern das Gegenteil von Logik: eine Art Anti-logik oder Un-logik bzw. eine der Rationalität gegenläufige Logik, die im Roman durch den Wissenschaftler Pierre Sogol vertreten wird, dessen Name bereits den logischen Gegensinn zum Ausdruck bringt: Rückwärts gelesen, bedeutet "Sogol" nichts anderes als "Logos". Auch der Untertitel verabschiedet sich von rationalen Gesetzen, wie sie Euklid für unsere Kultur festgelegt hat: "Ein nicht-euklidischer im symbolischen Verstand authentischer alpinistischer Abenteuerroman".

Wobei: Roman ist eigentlich zu viel gesagt; vielmehr handelt es sich um ein Romanfragment, das der bereits an Tuberkulose erkrankte Autor nicht mehr abschliessen konnte. Als er am 21. Mai 1944 mit 36 Jahren starb, lagen fünf fertige Kapitel sowie Skizzen zum weiteren Verlauf vor. Die Geschichte handelt von einer von Pierre Sogol angeleiteten Expedition zum Berg Analog, von dessen Existenz er überzeugt ist, obschon sie bislang niemand bemerkte, ja vom Erzähler als reines "Phantasieprodukt" bezeichnet wird.

Hier beginnt die komplexe a-logische Theoriebildung, die auch ausführlich ausgebreitet wird. Zu weiten Teilen handelt es sich um einen Diskursroman, der vollkommen phantastische Idee eines unsichtbaren Bergs auf pseudo-wissenschaftliche Weise belegen will. Der Berg Analog ist zwar das höchste und grösste Gebirge auf der Welt, der aufgrund der Raumkrümmung jedoch den Blicken verborgen sei. Sogols Vorhaben besteht deshalb darin, die "Krümmungsschale" zu durchbrechen und den Analog zu besteigen.

Zu diesem Zweck sticht er mit seinem Schiff, dass den sprechenden Namen "Impossible" trägt, in See und fährt mit seiner Truppe Richtung Süd-Pazifik, wo er den Analog auf einer bislang unbekannten Insel vermutet. Es gelingt ihnen tatsächlich den Berg ausfindig zu machen und dort an Land zu gehen. Sie freunden sich mit Bevölkerung an, doch bevor das Abenteuer des "analogischen Alpinismus" richtig beginnen kann, bricht der Roman ab. Es ist eine skurrile Mischung zwischen Jules Verne und kafkaesker Parabel, die eine Reise zu einem imaginären Berg immer realistischer werden lässt.

Mit Daumals surrealistischer Frühphase hat diese Erzählung, abgesehen von der Absage an den Logos, nur wenig zu tun, wichtiger dürfte die esoterische Lehre Gurdijeffs gewesen sein, mit der sich Daumal seit den 1930er Jahren beschäftigte. So wie Gurdijeff der Überzeugung war, dass die Menschheit ihr Potential bei Weitem noch nicht ausgeschöpft habe, und deshalb eine ganzheitliche Entwicklung anstrebte, die den Menschen aus seinem unterentwickelten Dasein führe, so erhofft oder vermutet auch Sogol auf dem Berg Analog den "Aufenthaltsort einer höheren Menschheit".

Montag, 17. Juni 2024

Thomas Love Peacock: Nightmare Abbey (1818)

Der Titel dieses Konversations-Romans führt auf eine falsche Fährte. Wer zurecht einen Schauerroman vermutet, fühlt sich mit Sicherheit enttäuscht, auch wenn der Autor - allerdings auf höchst ironische Weise - mit schauerromantischen Elementen spielt oder mehr noch eine veritable Parodie der englischen Gothic Novel mit all ihren Versatzstücken vornimmt. Peacock, zeitlebens ein Gentleman-Writer, der sein Einkommen nicht mit der Schriftstellerei, sondern in leitender Anstellung bei der East Indian Company verdiente, konnte es sich als literarischer Aussenseiter leisten, seiner Feder freien Lauf zu lassen. Dabei gelingt ihm das Kunststück, das grosse Literatur auszeichnet: Das Werk sprüht nur so von intertextuellen und lebensweltlichen Anspielungen. Peacock amalgamiert gekonnt seine weitreichende Belesenheit mit der Begabung, sein Umfeld mit humoristischem Einfühlungsvermögen abzukonterfeien.

Fast das gesamte Romanpersonal lässt sich mit dem Kreis um den englischen Schriftsteller Percy Bysshe Shelley identifizieren, mit dem auch Peacock verkehrte, und zwar just in jener Phase als der bereits verheiratete Shelley eine Beziehung zur 18jährigen Mary Wollstonecraft Godwin einging, die später seine zweite Frau wurde und am Genfersee, damals noch bei einem heimlichen Treffen mit ihrem liierten Geliebten, mit Frankenstein die Mutter aller Gothic Novels verfasste. Der Roman erschien übrigens zeitgleich mit Peacocks Schlüsselroman rund um den Shelley-Kreis und hat auch just den Zwiespalt des Protagonisten zum Thema, der zwischen zwei Frauen hin- und hergerissen ist. Shelleys Konflikt spiegelt sich unverkennbar in der Romanhandlung, zugleich dient Goethes Drama Stella als intertextuelle Folie.

Der Roman selbst ist mit seinen typographisch abgesetzten Dialogpartien streckenweise wie ein Theaterstück strukturiert, ganz abgesehen davon, dass die Haupthandlung direkt aus einem zweitklassigen Dorfschwank stammen könnte. Scythrop, ein schwermütiger Jüngling, dem die Transzendentalphilosophie den Kopf verdrehte, soll verheiratet werden. Sein Vater Mr. Glowry sieht dafür die Tochter Celinda seines Freundes Mr. Flosky vor, doch weder er noch sie wollen die Partie eingehen. Sie entflieht spurlos aus ihrem Elternhaus und Scythrop umschwärmt stattdessen seine Cousine Marionetta, die ein kokettes Liebesspiel mit ihm treibt. Durch einen Zufall gelangt die geflüchtete Celinda jedoch in die Obhut von Scythrop, der sie allerdings, da er sie nie zuvor gesehen, erkennt, sondern für eine geflüchtete Illuminatin hält, was seiner obskurantistischen Vorliebe nur entgegenkommt, weshalb er sich auch in sie verliebt und sich am Ende nicht zwischen beiden Geliebten entscheiden kann. Aus Not will er à la Werther zur Pistole greifen, entscheidet sich kurzerhand dann aber doch für eine Flasch Madeira.

Das alles spielt sich im Anwesen von Mr. Glowry ab, in der titelgebenden 'Alptraum-Abtei', im Kreise skurriler und höchst exzentrischer Personen, die sich die Zeit mit müssigen ästhetischen und weltanschaulichen Diskussionen vertreiben. Alles diese Typen sind mit ihren Idiosynkrasien treffend geschildert wie Peacock überhaupt über ausreichend Menschenkenntnis und Esprit verfügt. Besonders gut kommt das zum Ausdruck, als alle zusammen ein Glas Wein trinken, was jeder einzelne in seiner eigenen Manier kommentiert. Der verliebte Scythrop nennt den Wein das "einzige blutstillende Mittel für ein blutendes Herz", der abgeschlaffte Hedonist Mr. Listless nennt ihn die "einzige Mühe, welche es sich wirklich lohnt zu machen", der fatalistische Mr. Toobad spricht vom "einzigen Antidoton gegen den grossen Zorn des Teufels", der pessimistische Mr. Larynx hält ihn für das "einzige Stück akademischen Wissens, welches der ausgebildete Studiosus behält" usw.

Der Roman ist zu verspielt und leichtfüssig, als dass er in den literarischen Kanon hätte aufsteigen können. Er ist unverkennbar das Produkt einer Freizeitbeschäftigung, die Ausgeburt eines sprühenden Geistes, der seine Einfälle nicht der Ernsthaftigkeit einer komplexen Konzeption unterordnen will oder kann. Wenn der Roman gleichwohl literaturhistorische Relevanz besitzt, dann vor allem deshalb, weil er gut 150 Jahre später ein opus magnum angeregt hat: Arnos Schmidts Zettels Traum, der die Idee zu seinem Roman einer Stelle entnommen hat, die Coleridges angebliche Inspiration im Opiumschlaf parodiert: "Ich verfasste fünfhundert Zeilen im Schlaf, so dass ich jetzt, nachdem ich einen Traum von einer Ballade gehabt habe, als meine eigener Peter Squenz fungiere und eine Ballade aus meinem Traum mache, uns sie soll 'Zettels Traum' heissen, weil sie so seltsam angezettelt ist."

Mittwoch, 12. Juni 2024

Andreas Niedermann: Sauser (1987)

Fred Sauser ist ein cooler Hund und sein Autor Andreas Niedermann wird es wohl auch sein. Eine derart abgeklärte, träfe und schmissige Prosa liest man in der deutschsprachigen Literatur selten, im Schweizer Kontext erst recht nicht. Kein Wunder steht der Protagonist mit der Schweizer Literatur auf Kriegsfuss: "Wenn ich aber in den Büchern der Schweizer Autoren las, tat es mir auch nicht leid, keinen von ihnen zu kennen." Er sieht sich vielmehr als "Schüler von Maxim dem Bitteren, von Céline, von Miller und Cendrars". Verorten könnte man den Autor auch irgendwo zwischen Friedrich Glauser und Jörg Fauser, die zwar namentlich nicht genannt werden, der Titel "Sauser" aber so etwas wie eine verkappte Reverenz darstellt. Hinzu kommt, dass der Roman just im Todesjahr von Fauser erscheinen und unterdessen in einer überarbeiteten Neuauflage wieder greifbar ist.

"Sauser" ist aber auch ein telling name: Er steht für das rastlose, rauschhafte und prekäre Dasein des Protagonisten, der in Ich-Form von seinem "Leben am Rand der Existenz" berichtet. Einen wirklichen Handlungsbogen besitzt der episodenhafte Roman nicht: Er beginnt auf einem Campingplatz in Korsika und endet in einer Waldhäuschen, das Sauser aus Liebesfrust verwüstet zurücklässt. Dazwischen schlägt er sich mit diversen Gelegenheitsjobs als Bühnentechniker in Basel, als Zimmermann in Zürich, als Reporter mit Schreibaufträgen, als Taglöhner und Viehhirte in den Bündner Alpen und natürlich immer wieder spätnachts in Kneipen durch. Stets knapp bei Kasse, sturzbetrunken und einem flotten Spruch auf den Lippen. Selbst sein innigster Wunsch, Schriftsteller zu werden, verfolgt er nur halbherzig und lässt sich allzu rasch vom Lotterleben wieder einnehmen. Am Schluss gelingt es ihm dann doch, seine erste Kurzgeschichte in einer Zeitschrift unterzubringen. Der Roman schildert somit die Geburt des Autors aus der Gosse.

Die Sprache besticht oft mit originellen Formulierungen, einer zuweilen vulgären Direktheit und trockenem Humor, oft gibt sie sich auch betont lässig, was aber nie aufgesetzt wirkt. Dazu trägt der unbestechlich sarkastische Blick bei, mit dem Sauser Personen und Ereignisse schildert und mit nur wenigen Worten lakonisch decouvriert. Ein Beispiel: "An seiner Türe hing ein Spruch von Robert Walser: 'Ich bin überzeugt, dass wir viel zu wenig langsam sind.' So was gefiel ihm. Und es war bezeichnend für ihn, dass er sich im Angesicht dieser Worte, über die Langsamkeit seiner Sekretärin beschwerte." Schon ist der Typ verbal erledigt. Obwohl es Sauser meistens mies geht und er immer wieder in irgendwelchen Absteigen abwrackt, ist er nie aufs Maul gefallen. In der sprachlichen Selbstermächtigung, sogar über die schlimmsten Zustände hinweg, erweist er sich als wahrhaft souverän.

Niedermann entwirft mit "Sauser" eine Art Anti-Odyssee. Während Homers Held unfreiwillig umherirrt und eigentlich nur "nach Hause, zu Frau und Sohn" will, geht es Sauser diametral anders: "Ich nahm einfach das, was gerade vor meine Füsse gespült wurde". Er treibt sich wahllos herum, geht dort einen Deal und dort wieder eine Liebschaft ein, doch nichts ist von Dauer. Oft bleiben ihm dabei nur "zwei Möglichkeiten: Gosse oder Galeere", wie Sauser die Lohnarbeit nennt, wenn er wieder mal, um eine andere seiner Redewendung anzuführen, "den Weg ins Geschirr" nehmen muss. Der 'Beruf' des Schriftsteller kommt ihm daher sehr gelegen, zumindest nach seiner eigenwilligen Auffassung davon: "Aus irgendeinem Grund hatte sich in meinen Gehirn der Gedanke festgesetzt, dass man mit Geld in der Tasche kein Schriftsteller werden konnte. Also musste ich nichts weiter tun, als alles verschwenden. Der Rest würde sich ergeben." Insofern ist es nur konsequent, wenn Sauser die eigene Gammelei literarisch verarbeitet. 

Sonntag, 9. Juni 2024

William Gibson: Neuromancer (1984)

Das Thema der künstlichen Intelligenz bewegt heutzutage wieder einmal die Gemüter; neben allen ersichtlichen Vorteilen besteht die Befürchtung, dass die Maschinen eines Tages ein eigenes Bewusstsein entwickeln und dann nicht mehr menschlichen Befehlen gehorchen, sondern autonome Entscheidungen treffen. Genau dieses Szenario spielt sich in William Gibsons Cyberpunk-Klassiker ab, der schon vor vierzig Jahren ein dystopisches Zukunftsbild zeichnete, an dem wir jedoch (noch) nicht ganz angelangt sind. Wie visionär der Autor dennoch die technische Entwicklung vorwegnahm, zeigt sich u.a. darin, dass heute selbstverständliche Begriffe wie "Cyberspace" und "Matrix" von ihm geprägt wurden. Wie so oft in der Science Fiction geht die Fiktion der Wirklichkeit voraus, ja mehr noch, bereitet ihr den Weg. Man attestiert Gibsons Roman deshalb auch, er hätte die Entwicklung des Internet wesentlich beeinflusst.

Im Zentrum der Geschichte steht Case, ein abgewrackter, ehemaliger Konsolen-Cowboy (vulgo: "Hacker"), der sich in den Slums von Chiba als Kleinkrimineller und Junkie durchschlägt. Im Cyberspace führte er früher sogenannte "Runs" aus, er hackte mit anderen Worten auftragsmässig Computersysteme. Da er einen Teil des Gewinns für sich abzweigte, liess sein Auftraggeber das Nervensystem von Case schädigen, so dass es ihm fortan unmöglich war, in den Cyberspace einzusteigen, was jeweils so geschah, dass er seinen Körper mit sogenannten "Troden" verkabelte und sein "entkörpertes Bewusstsein in die Konsens-Halluzinationen der Matrix proijzierte". Doch mit diesen "körperlosen Freuden des Cyberspace" war es nunmehr vorbei, es blieb ihm nur noch sein Körper und der "Körper war nur Fleisch": Case ist fortan "ein Gefangener des Fleisches".

Case steht kurz davor, sich mit sogenannten "Derms" - das sind: auf die Haut aufgelegte Drogenpflaster - selbst zu ruinieren, als Hilfe von unerwarteter Seite kommt. Molly, eine gefährliche Schönheit mit Skalpellfingern, stöbert ihn in der Gosse auf und schleppt ihn zu einer dubiosen Figur namens Armitage, der von sich behauptet ein Cyberkriegsveteran der gescheiterten Operation "Screaming Fist" zu sein. Er bietet Case eine teure Regenerierung seines Nervensystems an, unter der Bedingung, künftig für ihn zu arbeiten. Obwohl ihm das Angebot suspekt erscheint, schlägt Case ein. Er wird operiert und kann wieder in den Cyperspace eintauchen. Rekrutiert werden ausserdem der "Finne" und ein Psychopath namens Riviera. Ausserdem klaut Case eine Flatline, die mit dem Bewusstsein des legendären Computer-Hackers McCoy Pauley ausgestattet ist, der nun Case auf seinen "Runs" unterstützt und mit seinem schepperndem Maschinenlachen eine markante Nebenfigur darstellt.

Molly und Case beginnen Informationen über Armitage zu sammeln und finden heraus, dass er eigentlich Colonel Willis Corto heisst und alles darauf hindeutet, dass er von einer K.I. mit dem Codenamen "Wintermute" ferngesteuert wird, die plötzlich auch zu Case Kontakt aufnimmt. Sie gehört dem Familienunternehmen Tessier-Ashpool, eine uralte Orbitfamilie, deren Mitglieder sich wechselweise klonen, auf Eis legen und wieder auftauen, wenn es an der Zeit ist. In Gestalt verschiedener vertrauter Personen, u.a. auch als "Finne", begegnet Case der K.I. im Cyberspace, die ihn um Hilfe bittet, sich  mit seinem komplementärem Gegenstück, der K.I. "Neuromancer", die in Gestalt eines Jungen auftritt, zu einem autonomen Super-System zu verbinden. was die Turing-Polizei wiederum verhindern will, da es nicht vorgesehen ist, dass künstliche Intelligenzen sich der menschlichen Kontrolle entziehen. 

Der Showdown spielt sich in der Villa Straylight der Familie Tessier-Ashpool ab, die direkt aus einer Horrorstory von H.P. Lovecraft stammen könnte. Sie ist ein tief und endlos verschlungener, labyrinthischer Bau, ein "parasitäres Gebilde", wie es heisst, das an ein Wespennest erinnert. Auf gespenstische Weise schlummern hier die Familienmitglieder tiefgefroren in ihren Eissärgen. Straylight "ist verrückt, ein Wahnsinn", und zwar wie so oft auch bei Lovecraft, ein Wahnsinn, der die menschliche Auffassungsgabe übersteigt, ein Wahnsinn, der letztlich "unverständlich" bleibt. Gemeinsam mit Molly und Riviera, der sich immer mehr als grössenwahnsinniger Psychopath herausstellt, dringt Case in den Siliziumkern der Villa vor, wo in Gestalt eines riesigen Kopfes ein Computerterminal steht, das er schliesslich mit dem "wahren Namen" (es handelt sich um eine Tonfolge) knacken und so die Vereinigung von Wintermute und Neuromancer herbeiführen kann: "Ich bin die Matrix [...]. Ich bin die Gesamtheit des Systems, die ganze Show."

Der Roman hat - ganz im Gegensatz zum Film Johnny Mnemonic von 1995, der auf der gleichnamigen Erzählung Gibsons beruht, die wiederum als Vorlage für Neuromancer diente - nichts an Frische eingebüsst. Die ohne grossen Erklärungsaufwand hingestellte Zukunftswelt, in der Elektroschrott und Hightech, menschliches Prekariat und künstliche Intelligenzen koexistieren, wirkt eindrücklich und überzeugend. Die Handlung ist rasant und dicht mit immer neuen Einfällen und futuristischen Details gespickt. Sogar ohne Sex kommt die actiongeladene Story nicht aus, erstaunlicherweise aber kein Cybersex: Es wird noch ganz bodenständig ins ansonsten von den Cyberpunks verpönte "Fleisch" vor- resp. eingedrungen. Besonders bizarr mutet dabei der Einfall der "Fleischpuppen" an: Es handelt sich um eine futuristische Form der Prostitution, bei der den Frauen ein Serum verabreicht wird, damit sie nicht mitbekommen, was die Freier alles mit ihnen anstellen.

Freitag, 31. Mai 2024

Apollinaire: Der gemordete Dichter (1916)

Apollinaire, der Urvater künstlerischer Avantgarden, war ein Tausendsassa. In seinem kurzen Leben war er nicht nur ungeheuer produktiv, sondern vor allem innovativ, indem er auf ganz unterschiedlichen Gebieten wesentliche Impulse setzte, ganz abgesehen davon, dass überhaupt er es war, der den Begriff der Avantgarde aus dem Militärjargon auf die Künste übertrug und damit eine Epochenbezeichnung schuf. Er war mit Picasso befreundet und würdigte als erster den Kubismus, er kreierte mit seinem "Calligrammen" eine neue Ausdrucksform der visuellen Poesie, er beerbte die Tradition der Bestiarien unter modernen Vorzeichen, er schuf mit Les mamelles des Tirésias das erste surrealistische Drama, sein Gedichtband Alcools war bahnbrechend, daneben verfasste er zwei pornographische Grotesken und diverse Erzählungen.

Im Jahr 1916, als in Zürich der Dadaismus ausgerufen wurde, erschien der Erzählband Der gemordete Dichter, der unverkennbar dadaistische Züge trägt. Apollinaire stand bereits früh in Kontakt mit der neuen Bewegung. In der ersten Zürcher Publikation, dem von Hugo Ball redigierten Magazin Cabaret Voltaire, war er mit dem Gedicht Arbre vertreten wie auch sein Freund Pablo Picasso mit einer kubistischen Zeichnung und der ebenfalls mit ihm befreundete Blaise Cendrars mit dem Gedicht Crépitements. Die Erzählung Der gemordete Dichter nimmt den dadaistischen Nonsens in wesentlichen Momenten vorweg. Sie beschreibt die Lebensgeschichte des Dichters Croniamantal von der Wiege bis zu seiner - bereits im Titel angekündigten - Ermordung.

Die Erzählung ist Schriftsteller-Karikatur, Satire auf den Literaturbetrieb und biographischer Schlüsseltext in einem. Hinter der Entwicklung und den Begegnungen Croniamantals sind arg verfremdet, für Eingeweihte jedoch erkennbar, Apollinaires eigene Stationen und Bekanntschaften untergebracht. So soll Picasso als Vorbild für den Maler namens "Vogel der Langmütigen" gedient haben, auch wenn diese Anspielung nicht restlos zu entschlüsseln ist. Und in Croniamantals unglücklicher Liebschaft zur Tänzerin Tristouse Ballerinette spiegelt sich Apollinaires Beziehung zur Malerin Marcie Laurencin. Doch versteht sich von selbst, dass die bizarre Erzählung nicht 1:1 auf die Lebensgeschichte ihres Autors niederzubrechen ist.

Von Ferne klingt im eigentümlichen Namen 'Croniamantal' auch der Dichter Lautréamont an, wie sich Isidore Lucien Ducasse nannte, den die Surrealisten, insbesondere aufgrund seiner Chants de Maldoror, als wichtigen Vorläufer verehrten. Wenn es zu Beginn der Erzählung heisst, Croniamantal werde bei den Arabern rückwärts 'Latnamainorc' genannt, so ist die lautliche Namensnähe zu Lautréamont noch offensichtlicher. Doch auch in diesem Fall handelt es sich nur um eine von vielen Anspielungen, dieser an irrwitzigen Einfällen nicht armen Kurzromans. In der Rasanz, wie der die abenteuerliche Lebensgeschichte ausbreitet, erinnert er an Melchior Vischers Dada-Roman Sekunde durchs Hirn, der sich möglicherweise bei Apollinaire inspiriert hat. Nicht zuletzt zeichnet sich Vischers Protagonist wie Croniamantal durch eine grosse Potenz, zumindest ein grosses Gemächt aus (partes viriles exiguitatis).

Alle Episoden aus Croniamantals Leben hier nachzuerzählen, ergibt wenig Sinn. Hingegen darf das groteske Finale, das dem Roman nicht zuletzt den Titel verleiht, nicht ausser Acht gelesen werden. Apollinaire entwirft dort eine Satire auf den Literaturbetrieb, die heute wohl noch aktueller, als sie damals schon war. Pausenlos werden Literaturpreise verliehen und Dichter ausgezeichnet, was schliesslich darin gipfelt, dass an einem Tag 8019 Preise vergeben werden, die sich insgesamt auf eine Summe von über 50 Millionen Francs belaufen. Dieser Literatursubventionismus ist dem Agrarchemiker Horace Tograth ein Dorn im Auge, weshalb er öffentlich dazu aufruft, gegen diese "poetische Plage" vorzugehen, welche der werktätigen Bevölkerung das Geld aus der Tasche zieht, um es der "überprivilegierten Rasse der Dichter" zuzuschanzen, die lieber die hohle Hand machen als selber zu arbeiten.

Wie ein Strohfeuer verbreitete sich dieses Pamphlet gegen die Dichter und es kommt in verschiedenen Ländern zu öffentlichen Pogromen. Überall werden die Autoren verfolgt, verprügelt und hingerichtet. Was Roland Barthes 1968 unter dem Titel La mort de l'auteur theoretisch reflektieren wird, ist bei Apollinaire nichts anderes als eine beim Wort genommene blutige Wahrheit: "Tod dem Dichter" schreit die fanatische Menge und die Drohung richtet sich zuletzt auch gegen Croniamantal, der sich vor dem Volk noch stolz als "der grösste der lebenden Dichter" präsentiert. Dieser Hochmut wird ihm zum Verhängnis, denn die Meute beweist ihm das Gegenteil, indem sie ihn auf offener Strasse massakriert. Aus dem grössten lebenden Dichter wird - und das ist die finale Pointe - ein unsterblicher Dichter. Erst nach seinem Tod ist auch die Tänzerin Tristouse, die seine Liebe verschmähte und sich sogar an seiner Ermordung beteiligte, sein Genie anzuerkennen.

Mittwoch, 29. Mai 2024

Witold Gombrowicz: Ferdydurke (1938)

In seinem Tagebuch von 1953 notiert Gombrowicz ein Bonmot des polnischen Nobelpreisträgers für Literatur, Czeslaw Milosz: Der Unterschied zwischen einem westlichen und einem östlichen Intellektuellen bestehe darin, dass ersterer "nie richtig eins in die Fresse gekriegt hat". Ob der Ausspruch tatsächlich von Milosz stammt oder ihm von Gombrowicz lediglich in den Mund gelegt wurde, ist nebensächlich, da das In-die-Fresse-kriegen eine entscheidende Rolle in Gombrowicz' Poetik einnimmt. Es gibt wohl kaum einen Roman, in dem so viele Maulschellen und Backpfeifen erteilt werden wie in Ferdydurke.

Wie man aus Märchen wie Dornröschen weiss, können Ohrfeigen die Realität verändern oder Personen aus ihrem Wirklichkeitsbereich reissen. So geschieht das auch gleich zu Beginn von Gombrowicz' Roman, als der Protagonist Jozio ein urplötzlich aufgetauchter Doppelgänger seiner selbst wieder verscheucht, indem er ihm "mit voller Wucht ins Gesicht" schlägt. Der Doppelgänger verschwindet zwar, doch im selben Moment klingelt Professor Pimko, der "grosse Kleinmacher", an der Haustüre und drängt den dreissigjährigen Jozio (halb nolens halb volens) zurück in die Schule und erneut in in ein präpubertäres Alter hinein: in das Stadium der Unreife. 

Auf seiner Devolution zum "Rotzbengel" durchlebt der Anitheld Jozio drei Stationen: zunächst geht es in die Schule, wo er einer umfassenden "Popopädagogie" unterzogen wird, dann folgt der Aufenthalt im bürgerlichen Haushalt der Familie Jungmann, die wie der Name schon besagt die moderne Generation vertritt, mit ihrer - im Unterschied zu Jozio nicht un-, sondern eben frühreifen - Tochter, deren Waden nicht nur Jozio besonders Eindruck machen, und schliesslich, als dritte Station, auf einem Gutshof bei Landadeligen, wohin Jozio seinen Schulkameraden Mjentus begleitet, weil dieser unbedingt aufs Land will, in der Hoffnung, dort einen "Bauernbengel" zu finden, nach dem sich all sein Sinnen und Trachten richtet.

"Ferdydurke" ist ein erfundenes Wort. Es ist nicht einmal klar, ob es eine Sache oder eine Person bezeichnet. Semantisch stecken darin polnische Anklänge an den Ganoven, aber auch an den Trottel. Eine Art Kofferwort also, der als Sammelausdruck für die gesamte bengel- und flegelhafte Sphäre der Unreife steht, die im Roman ausgebreitet und gegen die modernistische Gesellschaft in Stellung gebracht wird. Auf inhaltlicher Ebene entspricht die Unreife dem Regredieren des Protagonisten, auf formaler Ebene korrespondiert sie mit der Antiform des Romans, über die in zwei längeren poetologischen Exkursen - die nicht unwesentlich zur Formlosigkeit betragen - eigens reflektiert wird.

Tatsächlich ist es schwierig, eine Art Struktur in dem Text zu erkennen. Einzig und ausgerechnet bei den beiden Exkursen zeigt er sich ironischerweise um Symmetrie bemüht, was den Vorsatz allerdings sogleich wieder ins Gegenteil verkehrt. Wie ohnehin alles aus den Fugen gerät. Der Roman verläuft entropisch einer zunehmenden "Entfesselung" entgegen, die schliesslich im letzten Kapitel in der "entfesselten Fressefreiheit" kulminiert, wo der ersehnte Bauernbengel so genussvoll verdroschen wird, wie es die Literaturgeschichte bis dato wohl in den derbsten Bauernschwänken nicht gesehen hat. Auch der Protagonist bekommt am Ende sein Fett weg, doch er frohlockt und fordert erst recht dazu auf, ihm die Fresse zu polieren.

"Seid gegrüsst, seid gegrüsst, ihr reizenden Bündel von Körperteilen", lauten seine letzten Worte, bevor er sich etwas brüsk aus dem Staub macht. Die Vorliebe, nein: die Obsession für einzelne Körperteile anstelle eines organischen Einheit durchzieht den gesamten Roman: Es wimmelt nur so von Popos, von Waden und natürlich von Fressen. Diese Bevorzugung des Teils vor dem Ganzen widerspiegelt auf inhaltlicher Ebene die Formlosigkeit des gesamten Textes: Nichts darin ist wirklich gegliedert, vielmehr scheinen die einzelnen Glieder ein unkontrollierbares Eigenleben zu führen. Entsprechend quecksilbrig liest sich der Roman und lässt sich kaum auf einen brauchbaren Nenner bringen. Es gibt vielleicht nur ein einziges Wort, mit dem der adäquat bezeichnet ist: Ferdydurke!


Sonntag, 26. Mai 2024

Alain Robbe-Grillet: Die Radiergummis (1953)

Wer erinnert sich nicht an den legendären Anfangs- und Schlusssatz in David Lynchs Meisterwerk, dem Film Lost Highway aus dem Jahr 1997: "Dick Laurent ist tot." Am Ende von Robbe-Grillets Roman heisst es dagegen durchs Telefon: "Daniel Dupont ist nicht tot." In Wahrheit ist er es in diesem Moment tatsächlich und umgebracht hat ihn der Ermittler, der eigentlich seinen Tod aufklären wollte. Robbe-Grillets Debut entwirft in seiner Erzählstruktur somit eine ähnlich verschlungene Möbiusschleife wie Lynchs epochaler Spielfilm. Was hat es dabei mit den titelgebenden Radiergummis auf sich? Das ist nicht das einzige Rätsel, das dieser Kriminalroman - oder müsste man besser sagen Anti-Kriminalroman - aufgibt.

Robbe-Grillet gilt als Begründer des Nouveau Roman, der auf klassische Handlungsführung und eine realistische Erzählweise zugunsten literarischer Darstellungstechniken weitgehend verzichtet und deshalb in erster Linie nicht als Abbild der Wirklichkeit, sondern als Sprachkonstrukt wahrgenommen werden will. Ausgerechnet mit dem wohl handlungsaffinsten und wirklichkeitsnahen Genre, dem Kriminalroman, wagt Robbe-Grillet den literarischen Einstieg. Aber schon bald wird klar, dass es sich um keinen konventionellen Kriminalroman handelt. Bereits im Prolog werden alle Hintergründe offengelegt; der restliche Verlauf schildert dann nur noch, wie der Ermittler im Dunkeln tappt, bis er schliesslich durch eine Verkettung von unglücklichen Umständen selbst zum Mörder wird.

Wallas - die Anspielung auf die moderne Krimi-Ikone Edgar Wallace ist offensichtlich - heisst der Ermittler, der keine besonders helle Platte zu sein scheint. Seine Stirnfläche beträgt nur 49 Quadratzentimeter, wobei doch mindestes 50 für einen Fahndungsbeamten notwendig wären. Dennoch bekommt er den Auftrag und wird auf eine anarchistische Gruppierung angesetzt, die seit Tagen ein Küstenstädtchen mit einer Mordserie in Atem hält: Jeden Abend um halb acht wird ein angesehenes Mitglied der höheren Kreise ausgeschaltet. Nur beim Professor Dupont gelingt es nicht: dieser überlebt und nutzt die Gelegenheit, um seinen Tod vorzutäuschen. Deshalb geht Wallas von Anbeginn von falschen Voraussetzungen aus, was schliesslich dazu führt, dass er sich genau 24 Stunden, nachdem sich das misslungene Attentat ereignet hat, im Haus des Professors einfindet, um den Mörder zu fassen, und dabei irrtümlich den totgeglaubten Professor niederschiesst.

Wallas befindet sich während dieser 24 Stunden, in denen sich die Ereignisse des Romans abspielen, in einer Art Zeitloch. Punkt halb acht am Vorabend ist seine Armbanduhr stehen geblieben und punkt halb acht läuft sie wieder, nachdem Wallas den fatalen Schuss abgegeben hat. Dazwischen steht - für ihn zumindest - die Zeit still, was mehrfach symbolisch konnotiert ist. Zum einen scheint in diesen 24 Stunden die Zeit tatsächlich wie angehalten, und Wallas vollendet unfreiwillig nur, was der Attentäter zuvor versäumte. Es ist, als wäre dieses Intervall nötig gewesen, um den Lauf der Dinge wieder ins richtige Lot zu rücken. Zum anderen begibt sich Wallas mit seinem Auftrag zurück in eine längst verdrängte Vergangenheit. Nur sporadisch blitzt in ihm die Erinnerung auf, dass er bereits als Kind mit seiner Mutter in diesem Städtchen mit dem markanten Kanal war, um seinen Vater zu besuchen.

Es gehört mit zum Verwirrspiel des Romans, dass eine der Hypothesen lautet, Dupont sei von seinem Sohn zur Strecke gebracht worden. Ist Wallas, ohne es zu wissen, der Sohn Duponts? Der Roman deutet eine solche Möglichkeit lediglich über die symbolische Ebene an, wie er auch sonst etliche bedeutungsschwangere Parallelhandlungen einbaut, welche zu jenem Gefühl der Verdoppelung beitragen, die sich schliesslich im wiederholten Tathergang tatsächlich erfüllt. Mit zu dieser Duplikationstechnik gehört auch, dass mehrere Passagen zeitversetzt wiederholt werden, sei es als echohafte Reprisen oder als Vorwegnahmen dessen, was erst geschieht. Dadurch verstärkt sich der Eindruck, als befinde man sich in einer Zeitschlaufe, in der sich das immer Gleiche ständig wiederholt. So trappt auch Wallas scheinbar ausweglos durch die labyrinthischen Gassen des Städtchens, verirrt sich immer wieder und geht oft unfreiwillig im Kreise.

Auch wird Wallas mehrfach im Verlauf des Tages verdächtigt, bevor er am Abend überhaupt die Tat begeht. Auch daran zeigt sich die raffinierte Erzählstruktur, die stets vorwegnimmt, was sich ereignen wird, und dadurch eine gewisse reversive Spannung erzeugt, ausserdem eine Zwangsläufigkeit, die bereits durch das Sophokles-Motto am Romananfang präludiert wird: "Und ob du dich gleich sträubest, hat die Zeit, die über allem wacht, es doch vollendet." Das Zitat stammt aus dem Drama Oedipus, auch der Roman ist mit Prolog, fünf Kapiteln (oder Akten) und eine Epilog nach dem Muster eines klassischen Dramas aufgebaut. Moment, was will uns Robbe-Grillet damit sagen? Handelt es sich am Ende also doch um einen - nicht vorsätzlich durchgeführten - Vatermord à la Ödipus? Hier setzten nun die im Titel erwähnten Radiergummis das Tüpfelchen aufs sprichwörtlich i. Vorgeblich gab es in Frankreich eine Radiergummimarke namens Oedipe - und genau diese versucht der Protagonist bei Robbe-Grillet vergeblich, denn das einzige woran er sich noch erinnern kann sind die "mittleren Buchstaben 'di'".

Der Radiergummi steht somit symbolisch sowohl für die ausgelöschte Erinnerung (an den Vater), aber auch für die Obsession des Protagonisten (Wallas will nur den einen bestimmten Radiergummi), die Vergeblichkeit seines Bemühens (nirgend findet er die gewünschte Marke) wie letztlich auch für Fiktionalität der gesamten Erzählung (Wallas gibt an einer Stelle zu es handle sich bei dem gesuchten Radiergummi nur um einen "fiktiven Gegenstand", um eine "mythische Marke", was insofern wieder stimmt, wenn die Marke Oedipe damit gemeint ist ...). Robbe-Grillets Roman gibt sich als kriminalistische Neuinterpretation des antiken Mythos zu erkennen und zugleich als kongeniales Formexperiment, das trotz seiner ausgeklügelten und auf mehreren Ebenen ineinander verschränkten Konstruktion in keiner Sekunde langweilig wirkt.

Donnerstag, 23. Mai 2024

Anne Garréta: Sphinx (1986)

Wäre das kein oulipistisches Werk, dann hätte das Lesefrüchtchen wohl die Finger davon gelassen, dermassen platt, trashig, kitschig, billig und trivial ist die dargebotene Handlung dieser tragischen Liebesgeschichte. Doch wenn man sie nacherzählen möchte, merkt man rasch, worin der Clou des Buchs besteht: Man muss nämlich selbst entscheiden, wer der Mann und wer die Frau in dieser Beziehung ist oder ob es sich um zwei Männer oder zwei Frauen handelt, denn an keiner Stelle wird, weder grammatikalisch noch inhaltlich, eine Aussage über das Geschlecht der beiden Hauptfiguren gemacht: des erzählenden Ichs und A***, die beide eine amour fou durchleben, bis A*** durch einen unheilvollen Sturz von der Bühne eines Dancing Clubs, wo A*** arbeitet, ums Leben kommt. 

Kennengelernt haben sich beide im Pariser Nachtleben. Das erzählende Ich hadert mit seinem Theologie-Studium und bekommt durch einen Zufall den Job als DJ in der Szenediskothek Apocryphe angeboten. Der Vorgänger starb an einer Überdosis Kokain und seine Leiche muss auf spektakuläre Weise weggeschafft werden. Rasch etabliert sich die Erzählfigur zum angesagten DJ. Das Studentenleben bleibt links liegen, die Nacht wird zum Tag. In dieser pulsierenden, teilweise auch anrüchigen Atmosphäre begegnet das erzählende Ich im Tanzclub Eden A*** und ist von Anhieb fasziniert von diesem Körper und dem "seltsamen Geschöpf", dem er angehört. Es entwickelt sich eine Liebesbeziehung, zuerst nur platonisch, dann auch sexuell, mit Höhen und Tiefen, Ekstasen und Eifersüchteleien.

Von A*** weiss man nur, dass es sich um eine schwarzhäutige, ursprünglich aus Harlem stammende Person handelt, die kürzlich ihr Kopfhaar kahl geschoren hat; das erzählende Ich ist zehn Jahre jünger (einmal wird das Alter genannt: 23) und kommt aus der weissen Mittelschicht. Rein äusserlich und auch von ihrer Sozialisation sind sie "ein ungleiches Paar". Während sich das intellektuelle Erzähl-Ich für Kunst und Kultur interessiert, wird A*** als rein körperliches Wesen geschildert, das wenn es nicht auf der Bühne zur Höchstform aufläuft, zuhause auf der Couch fernsieht und rumlungert. Ein Kontrast zu diesem Dandy-Leben in Paris bildet der Besuch bei der Mutter von A*** in Harlem, wo das erzählende Ich sich in der schwarzen Bevölkerung aufgehoben fühlt und zur Mutter eine enge Beziehung knüpft, die sich nach dem Tod von A*** noch verstärkt.

Der tragische Unfall entscheidet sich kurz nach einem Streit in der Garderobe des Eden. Es geht um die Beziehung und die Frage gegenseitiger Erwartungen und (falscher) Vorstellungen. Ohne die Antwort abzuwarten, verlässt A*** die Geraderobe in Richtung Bühne mit der Frage: "Wie siehst du mich eigentlich?" Allein gelassen grübelt das Erzähl-Ich über diese Frage nach, bis sich intuitiv die Antwort einstellt: "Ich sehe dich in einem Spiegel." Doch es gelingt nicht mehr, diese Erkenntnis mitzuteilen. A*** liegt bereits mit gebrochenem Halswirbel am Boden. Der leblose Körper wird in die Garderobe gebracht, wo sich die nicht mehr mitgeteilte Spiegel-Erkenntnis quasi von selbst einstellt: "in der Spiegelung verschmolz A***s Körper fahl mit meinem Gesicht an der Seite."

Hier verschmelzen die beiden Identitäten virtuell, die über den gesamten Roman in offener Schwebe bleiben, was ihre geschlechtliche Identität angeht. Allein aus dem Kontext ist man versucht, eine Zuweisung vorzunehmen. Handelt es sich bei dem jungen, weissen Studierenden der Theologie um einen Mann? Und muss eine Nachtclubtänzerin zwingend weiblich sein oder könnte es sich auch um eine Dragqueen handeln? Wie wahrscheinlich ist es, dass eine Frau kaltblütig eine Leiche verschwinden lässt? Und traut man einem Mann zu, eine derart emphatische Zuneigung zur Mutter seines Freundes oder seiner Freundin zu? Usw. Hier zeigt sich auch, weshalb der Roman teilweise arg klischiert wirkt und mit Stereotypen und Plattitüden arbeitet, die durch die unklare Geschlechterrollen aber aufgeraut und hinterfragt werden sollen.

Insofern ist die Zeile aus dem Song The Sphinx der ehemaligen Muse von Salvador Dalí und 70er-Jahre-Discoqueen Amanda Lear, zu dem A*** einen atemberaubenden katzenartigen Tanz aufführt, programmatisch: "A woman or a priest / it's all a point of view". Der Roman verdankt diesem Song seinen Titel. Entsprechend ist es vom Blickpunkt der Lesenden abhängig, mit welchem Geschlecht sie die Protagonisten versehen. Ein männlicher Leser neigt möglicherweise eher dazu, sich das erzählende Ich als Mann und A*** als eine vom male gaze verklärte Frau zu denken, während es für Antje Rávic Strubel, die das Nachwort zur deutschen Ausgabe verfasst hat, aufgrund des zeithistorischen Settings an der Rive Gauche in Paris zwangsläufig um ein lesbisches Liebespaar handeln muss. Der Roman selbst nimmt keine eindeutige Zuordnung vor, stattdessen setzt er solche kontextuellen Anreize, um die eingenommene Leserperspektive zu bestätigen oder auch wieder zu unterlaufen.

Der Roman verschaffte Anne Garréta als erste Frau die Aufnahme in den Autorenkreis Oulipo (frz. Akronym für Ouvroir de Littérature potentielle), zu dem u.a. Raymond Queneau, Georges Perec, Harry Matthews oder Oskar Pastior gehörten. Ein Ziel der Gruppe besteht darin, literarische Texte nach vorbestimmten Regeln zu verfassen, um durch solche Formzwänge (frz. contraintes) neue poetische Ausdrucksformen zu generieren. Der Zwang, den sich Garréta auferlegte, war nun eben, auf ein sprachliches Genus zu verzichten und die Hauptfiguren mit einem offenen Geschlecht ohne spezifische Geschlechtsmerkmale zu versehen. Es dürfte kein Zufall sein, dass das erzählende Ich ausgerechnet an einer Studie über die Negative Theologie arbeitet. So wie dort vermieden wird, Gott bestimmte Attribute zuzuschreiben, weil er mit menschlichen Kategorien nicht zu fassen sei, so sollen auch hier die Geschlechterrollen nicht von aussen festgeschrieben werden. 

Montag, 29. April 2024

Melchior Vischer: Sekunde durchs Hirn (1920)

Die Dadaisten haben nur wenige Romane geschrieben, Ausnahmen bilden etwa Hugo Balls Tenderenda, der Phantast, der zu Lebzeiten jedoch nie erschienen ist, oder Richard Hueslenbecks Dr. Billig am Ende, der indes noch stark expressionistisch angehaucht ist. Den vielleicht einzig wirklichen Dada-Roman hat der später mit dem Kleistpreis ausgezeichnete böhmische Schriftsteller Melchior Vischer verfasst. 1920 erschien Sekunde durchs Hirn in der renommierten Reihe der Silbergäule im Verlag Paul Steegmann mit der Umschlaggestaltung von Kurt Schwitters, der das Label "dada" quer über die Titelseite zieht. Auf selbstreferentielle Weise preist sich auch der Text als Dada-Produkt an: "Wo doch Melchior Vischers dada-Spiele die Wohlfeilsten sind, was wir derzeit haben." Der Roman endet entsprechend mit einer Apotheose Dadas: "Wir trümmern, trümmern, und da da vom Grund auf, zuerst also kröch lackierte Sprache, daß nur übrig bleibt das einzige große DADA. - Huelsenbeck, Baader und Schwitters seid gegrüßt." 

Der Satz verrät bereits etwas von der besonderen Sprachstruktur des "unheimlich schnell rotierenden Romans", der alle Konventionen des Erzählens aus den Angeln hebt und bewusst grammatikalische Regelverstösse in Kauf nimmt, so dass mitunter ganz neue Satzstellungen und schiefe Sprachbilder entstehen: "Über Italien schnellzugte Jörg nach Südtirol", "Früh nahm ihn D-Zug in seine Arme, fächelte ihn in Budapest auf den Boulevard. Ernst antrat Jörg die Beamtin, boste ihm auf Madjarisch zu" usw. Das sind nur wenige Kostproben, um die originelle, dabei stets souverän gehandhabte Sprachverdrehung zu illustrieren, die dem Text eine eigene, gedrängte Rhythmik und Dynamik verleihen, die sich auch auf der Handlungsebene spiegelt, welche kaum zur Ruhe kommt, weil sich die Ereignisse Knall auf Fall überstürzen. Das 'Sturzhafte' ist sowohl ästhetisches Programm wie auch zentrales Motiv.

Der Roman beschreibt nichts anderes als einen Sturz. Den Sturz von Jörg Schuh vom Baugerüst herunter, weil er einer Frau mit üppigem Ausschnitt nachgesehen hat, und während dem Sturz jene "Sekunde", die ihm dabei "durchs Hirn" schiesst. Es ist eine "in die Ewigkeit" gedehnte Sekunde, als im freien Fall das Leben an Jörg Schuh vorbeirauscht. Bevor er unten auf dem Asphalt aufschlägt, durchfahren ihn nochmals alle Episoden seines "abenteuerlichen Daseins", um einen Ausdruck von Alexander Moritz Frey zu wählen, dessen Buch mit diesem Titel in der Rasanz und Absurdität, wie die Welt durchschritten wird, eine gewisse Gemeinsamkeit mit Vischers Roman aufweist.

Geschildert werden die Erlebnisse besagten Jörg Schuhs, eines "Schalksnarren" und einer Schelmenfigur mit ungeheurer Potenz. Geboren als Kind eines (wie man damals unverfangen sagte) "Negers" und einer Hafenhure ist er ein Mulatte mit einem weissen und einem schwarzen Ohr. Auf dem weissen ist er taub, auf dem schwarzen jedoch "hört er alles Vergangenes und Zukünftiges". Das ist nur eines von vielen absurden (oder bei längerem Nachdenken vielleicht auch bedeutsamen) Details des Romans, der in Windeseile alle Erdteile durchläuft und den Protagonisten von seinen gossenhaften Anfängen über den St. Gotthard nach Lissabon, dann Amerika, zu den Eskimos, den Kannibalen und wieder durch ganz Europa bis nach Japan, rasch auf den Mond und schliesslich wieder auf die Erde führt, in eine rast- und ruhelosen Pilgrimage als hätte er Siebenmeilenstiefel angeschnürt.

Dichtgedrängt und rhapsodisch wird dergestalt eine epische Weltreise zum minimen Zeitintervall jener Sturzsekunde komprimiert, die der Protagonist im freien Fall durchzuckt. Dass der als exotischer Mischling geborene und weltläufige Abenteurer, mehrfach gekürter Präsident und Häuptling, schliesslich als biederer Bauarbeiter endet und auf dem Boden aufschlägt, markiert nur eine der vielen gezielt einkalkulierten Ungereimtheiten, mit denen der Text fortlaufend aufwartet. Eine Nachbemerkung versucht die sich überbordende Handlung durch einen Schluss zu mildern, der wieder mehr "nach dispositionaler Erzählung stinke", um - wie es heisst - die "Kinoseelen" zufrieden zu stellen. Mit dem Kino wird das damals bahnbrechende mediale Paradigma aufgerufen, das Vischers Miniroman offensichtlich konkurrieren will, wenn er weitaus mehr als die üblichen 24 Bilder pro Sekunde vor dem geistigen Auge seiner Leserschaft vorbeiziehen lässt. Vischer, der wie viele Dadaisten ein Verehrer von Chaplin war, versucht als einer der Ersten, die neue cineastische Ästhetik auch für die Literatur fruchtbar zu machen, ja mehr noch: sie literarisch sogar zu überbieten.

 

Sonntag, 28. April 2024

Joachim Ringelnatz. Nervosipopel (1924)

Joachim Ringelnatz war, bevor er Kabarettist und Schriftsteller wurde, ein Seemann. Als Leichtmatrose heuerte er zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf allen Weltmeeren an. Und ein Matrose erzählt natürlich Seemannsgarn. Nirgendwo tut er das schöner als in dem Erzählband Nervosipopel der 1924, also vor genau hundert Jahren, erschienen ist, damals aber kaum Beachtung fand. Und auch heute dürften es die "11 Angelegenheiten", wie es im Untertitel heisst, schwer haben, obschon oder gerade weil sie in bester Nonsens- und Dada-Tradition stehen.

Ein Rezensent sah darin "blühenden Blödsinn", ein anderer nannte sie "Grotesken", Ringelnatz selbst bezeichnete seine Texte als "Märchen". Tatsächlich tauchen darin Feen, Riesen, sprechende Tiere auf, es gibt auch eine Reverenz an den Meister des romantischen Kunstmärchens, E.T.A. Hoffmann, und Bechsteins Märchen spielen eine Rolle. Doch verweigern sie sich einer nachvollziehbaren Märchenhandlung, wobei man allerdings sagen muss, dass es in der Sammlung der Brüder Grimm durchaus auch Märchen gibt, die ans Unsinnige grenzen, wenn man bspw. an Der süsse Brei oder Die Wassernixe denkt.

Nach ähnlichem Muster sind auch die Märchen bei Ringelnatz gebaut: Sie entwickeln ihre Handlung scheinbar unmotiviert und zusammenhangslos, warten praktisch in jedem Satz mit einer absurden Wendung auf, verlieren sich in phantastische Kapriolen und enden oft gänzlich abrupt und pointenlos. Das allerletzte Wort des Buches lautet: "entschwinden". Im Grunde handelt es sich, wenn man einen gemeinsamen Nenner unter diesen kunterbunten Fabulationen finden möchte, um Geschichten des Entschwindens. Stehts entfliehen, entsteigen, verschallen, sterben, oder verflüchtigen sich die jeweiligen Figuren am Ende einer Geschichte.

Das Märchen vom Armen Pilmartine nimmt darauf poetologisch Bezug: Ein Staatsanwalt fordert den Angeklagten auf: "Das ist recht, so erzählen Sie vernünftig. Fahren Sie fort!", worauf der Angeklagte ein Fahrrad nimmt und mit den Worten "Dann fahre ich fort" wortwörtlich davonfährt. Das Fortfahren im Sinne des Entschwindens markiert hier das Gegenteil des vernünftigen Erzählens, dem sich auch Ringelnatz' Geschichten pausenlos entziehen. So kommt es auch auf der Bedeutungsebene der Texte zu einem ständigen Sinnentzug. Mit der Vernunft jedenfalls sind die Erzählungen kaum zu fassen, sie entgleiten jedem Versuch, ihnen einen erkennbaren Sinn abzugewinnen.

Dazu sind sie viel zu sprunghaft und, wie man mit Blick auf den Titel sagen könnte: zu nervös. Als "ein rechter Nervosipopel" wird in der ersten Geschichte die Fee bezeichnet. Ein Ausdruck so rätselhaft wie die meisten Erzählungen. Doch man kann es sich zusammenreimen: Ein Popel meint eine Puppe, es wird also ein Ausdruck für ein energisches, flatterhaftes kleines Wesen sein, das einem leicht auf die Nerven gehen kann. Weshalb aber steht der Ausdruck titelgebend gleichsam als allegorische Figur auf dem Buchumschlag? Gehen auch Ringelnatz' nervöse Geschichten auf die Nerven? Die Rede vom Märchen Ärgerlich deutet zumindest darauf hin, dass es auch eine Absicht dieser Nonsens-Märchen ist, die Leserin zu ärgern.

(Im Übrigen ist just der Beginn von Das halbe Märchen Ärgerlich ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie ein Text sich selbst in pure Sinnlosigkeit auflöst: "Aber es geschah nicht, obwohl von gar keiner bestimmten Zeit die Rede, auch kein eigentlicher Ort dabei eine Rolle spielt. Nur entzog sich der Kenntnis was - ohne in Existenz zu verharren - auch nicht annähernd von jemand erdacht werden konnte." usw.)



Montag, 22. April 2024

Dany Lafferière: Die Kunst, einen Schwarzen zu lieben ohne zu ermüden (1985)

Was macht einen Kultroman aus? Zwei schräge Typen und irrwitzige Diskurse? (So wie die Nonsens-Debatte von John Travolta und Samuel L. Jackson um den "Royal mit Käse" in Pulp Fiction.) In diesem Fall handelt es sich beim Debutroman von Dany Lafferière garantiert um einen Kultroman, der auch rasch überall grosse Erfolge feierte. Bloss die deutschsprachige Übersetzung liess dreissig Jahre auf sich warten.

Im Zentrum steht der mit dem Autor weitgehend identische Ich-Erzähler und sein Kumpel Bouba, zwei schwarze Migranten, die sich in der Wohnung Nr. 3670 an der Rue Saint-Denis in Montreal einquartieren. Ihre Tage verbringen sie mehrheitlich mit Nichtstun. Sie machen praktisch nichts anderes ausser Jazz hören, aus dem Koran zitieren und Wasp-Studentinnen abschleppen, denen sie sprechende Übernamen wie "Miz Literatur", "Miz Suizid" oder "Miz Sophisticated" geben. Und natürlich überhöhen sie, wie es sich für Kultcharaktere gebührt, ihr verbummeltes Dasein metaphysisch: Bouba wird als "der einzige noch lebende Heilige in Montreal" stilisiert, der, während er sich auf der Couch fläzt, "in Wahrheit das Universum reinigt", derweil der Ich-Erzähler auf seiner Remington 22 ihre Erlebnisse in einen Roman verpackt, der selbst James Baldwin in den Schatten - oder wie es im Text heisst: "unter die Dusche" - stellen soll. Es wird eben jener Roman sein, den wir schliesslich lesen.

Dany Lafferière stammt ursprünglich aus Haiti, war dort ohne Vater aufgewachsen, weil dieser vom berüchtigten Diktator Papa Doc (eigentlich: François Duvalier) ins Exil gedrängt wurde. 1976 wanderte Lafferière aufgrund des anhaltend repressiven politischen Klimas selbst nach Montréal aus, lehnte die Etikettierung als "Exil-Schriftsteller" jedoch ab. Daher wohl auch die im Roman vollzogenen Abgrenzung zu Baldwin und seiner, wie er sie nannte, "Selbstexilierung" nach Frankreich. Auch sonst scheint Lafferière so etwas wie die Antithese zu Baldwin darzustellen. Zwar handelt es sich auch bei ihm um eine Migrantengeschichte und die Frage der Blackness sowie die Motive des Rassismus und des Kolonialismus bestimmten den Hintergrund der Erzählung. Indes geht Lafarrière diese Thematik deutlich provokativer und politisch unkorrekter an als die moralistische Prosa Baldwins.

Ja, es steigert sich letztlich zur Groteske. Der Erzähler begibt sich auf einen "Sex-Kreuzzug", um sich an den westlichen Kolonisten zu rächen, indem er ihre Töchter reihenweise mit seiner verlockend dunkeln Exotik ins Bett bringt: "Ich bin hier, um die Tochter der hochmütigen Diplomaten zu vögeln, die uns einst mit ihrem Kricketstock eins übergezogen haben." In dieser saloppen, oft auch derben und zotenhaften Sprache vollzieht sich die schmale Gratwanderung des Romans zwischen chauvinistischer Sex-Posse à la American Pie und sozialkritischer Satire, ohne sich selbst auf einen moralischen Standpunkt zu stellen. Vielmehr wendet Laferrière das rassistische Klischee des gut bestückten, sexhungrigen Schwarzen in ein antirassisches Kampfmittel gegen die weisse Elite, um tief ins westliche Bewusstsein einzudringen und quasi einen koitalen Mentalitätswandel herbeizuführen: "Ich möchte ihr Unbewusstes vögeln."

Das ist mal komisch, mal subversiv und häufig sehr obszön. Vor allem täuscht es oberflächlich besehen über die tiefere Intelligenz des Buchs hinweg. Was sich auf weiten Strecken als reine Klamotte präsentiert, stellt nicht weniger als den Versuch dar, auf explizite, überzeichnete und oft auch bewusst plakative Weise gesellschaftlich tief verankerte Tabus und Problembereiche anzusprechen, ohne dabei in eine ideologisch verhärtete Position zu verfallen. Vielmehr zeigt Lafarrière, wie man schamlos und selbstironisch einen kritischen Diskurs über politisch heikle Themen führen kann - und dabei zu den selben Einsichten gelangt wie eine Critical Race Theory, die von der Rasse als sozialem Konstrukt ausgeht. Das letzte, ultrakurze Kapitel trägt, quasi als Fazit, die programmatische Überschrift: "Man ist nicht als Schwarzer geboren, man wird dazu gemacht".

 




Donnerstag, 4. April 2024

Umberto Eco: Der Friedhof in Prag (2010)

Umberto Eco schrieb dicke historische Wälzer bevorzugt zu Themen, mit denen sich der 2016 verstorbene Semiotiker und Philosophieprofessor aus Bologna auch wissenschaftlich auseinandersetzte. In einem seinem letzten umfangreichen Roman sind dies die notorischen «Protokolle der Weisen von Zion», ein aus verschiedenen literarischen Vorlagen zusammengeschustertes antisemitisches Machwerk, das um 1900 zu Propagandazwecken entstanden ist, aber bis heute als vermeintlich glaubwürdiges Dokument einer jüdischen Weltverschwörung zirkuliert, obschon es bereits seit 1922 erwiesenermassen als Fälschung entlarvt wurde. Auch Eco hat zu den Protokollen geforscht und ihre betrügerische Machart offengelegt und ist dabei auf vorher unbeachtete Quellen aus dem französischen Roman feuilleton des 19. Jahrhunderts gestossen, die indirekt in die Protokolle eingeflossen sind. Zum einen eine Szene aus Eugène Sues Roman Le juif errant, der in den Jahren 1844 bis 1845 in der linksgerichteten Zeitung Le Constitutionnel erschienen ist, sowie eine Verschwörungsszene aus Alexandre Dumas’ Cagliostro-Roman Joseph Balsamo von 1849. Die dort geschilderte Geheimversammlung auf dem Donnerberg im Vorfeld der französischen Revolution übernimmt der deutsche Schriftsteller Hermann Gödsche relativ unverstellt für seinen Historienschinken Biarritz, der 1868 unter dem Pseudonym Sir John Ratcliffe erscheint. Der einzige Unterschied: Der Treffpunkt der Verschwörung wird in den Friedhof nach Prag beim Grab von Rabbi Löw verlagert und die Gruppe der Konspiranten konstituiert sich nunmehr durch die zwölf Stämme Israels. Diese Schilderung wiederum bildete die Steilvorlage für die Protokolle, welche die fiktionale Darstellung als real vorgeben.

Und dieselbe Friedhofs-Szene gibt schliesslich nicht nur Ecos Roman den Titel, sondern figuriert dort auch als Schlüsselstelle, die in beliebiger Variation Verwendung für ein konspiratives Rahmennarrativ finden kann. Sie ist quasi die Mutter aller Verschwörungstheorien. In epischer Breite erzählt Eco die Entstehungsgeschichte der «Protokolle der Weisen von Zion», wobei die meisten Ereignisse den historischen Tatsachen entsprechen und auch die auftretenden Figuren hauptsächlich auf realen Vorbildern beruhen. Es ist ein Stelldichein einschlägiger Namen aus Politik, Literatur und Religion des 19. Jahrhunderts. Neben den schon erwähnten Alexandre Dumas und Hermann Gödsche treten weitere Figuren auf wie der Pamphletist Maurice Joly, der Kriminalist Eugène François Vidocq, dem Fake-Journalisten Leo Taxil, der einem Komplott zum Opfer gefallenen Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus, der britische Staatsmann Benjamin Disraeli, der italienische Freiheitskämpfer Guiseppe Garibaldi und nicht zuletzt ein gewisser, kokainabhängiger Dr. Froïde, hinter dem unschwer Sigmund Freud erkennbar ist. In einem Punkt jedoch weicht Ecos historisch fundierter und detailreich ausgemalter Roman eklatant von der geschichtlichen Ebene ab: die Hauptfigur, Simon Simonini, ist komplett erfunden. Mit ihr installiert Eco gewissermassen eine Universalcharakter aller Fälscher und Intriganten – und die Pointe ist tatsächlich, dass Simonini bei allen nennenswerten Rankünen im Europa des 19. Jahrhunderts seine Finger mit im Spiel hatte und nicht zuletzt auch auf die Entstehung der «Protokolle» seinen entscheidenden Einfluss ausübte. Simonini dient Eco als literarischer Erklärungsversuch, wie sich eine unheilvolle Idee in verschiedenen Kontexten ausbreiten und sich schliesslich als vermeintliche Wahrheit in den Köpfen festsetzen konnte.

Dieser Simonini ist eine besonders ruch- und skrupel- und darüber hinaus auch empathielose Figur, die sich durch Betrug und Verrat seinen Wohlstand erwirtschaftet hat. Ein Opportunist, der für seinen Vorteil über Leichen geht. Seine Enthaltsamkeit in venerischen Freuden kompensiert er durch lukullische Genüsse – immer wieder sind entlang des Romans verlockende Rezeptbeschreibung eingestreut. Eine einzige Frau entzückte ihn in seinem Leben, allerdings nur in der Phantasie, aber immerhin so sehr, dass sie er ihr nacheifern wollte: In jungen Jahren hörte er von Babette von Interlaken*, eine mit allen Wassern gewaschene kommunistische Agentin, die vor keiner Schandtat zurückschreckte. Sie erschein ihm sodann «als Modell zur Nachahmung» in seinen Träumen. Als Kind wuchs Simonini hauptsächlich bei seinem Grossvater auf, der sich mit seinem abgrundtiefen Antisemitismus nicht hinter dem Berg hält. Im Gegenteil machte dieser die Juden bereits für all das verantwortlich, was ihnen später auch in den «Protokollen» angelastet wird. Aus einem anonymen Brief, den sein Vater einem Abbé Barruel schreibt, um ihn vor den «perfiden Plänen des jüdischen Volkes» zu warnen, die er angeblich im Turner Ghetto «mit eigenen Ohren gehört habe», und den Kolportageromanen seiner Jugendlektüre entnimmt Simonini später die Versatzstücke für sein konspiratives Paradenarrativ auf dem Prager Friedhof, das er je nach Bedarf auf unterschiedliche Bereiche und Personen anwenden kann, wie es gerade in die politische Agenda passt. Und auf diese Erfindung ist er mächtig stolz, so dass er es am Ende es fast bedauert, sie an die Russen verkauft zu haben: «Seit meiner Jugend habe ich mir gleichsam Stein für Stein meinen Prager Friedhof aufgebaut, und nun ist es, als hätte Golowinsky ihn mir geraubt. Wer weiß, was die in Moskau daraus machen.» Heute wissen wir es: Die Protokolle der Weisen von Zion.

Eco hat hier zweifellos einen Stoff literarisch umgesetzt, der nicht arm an Faszinationskraft ist: Verschwörungen, politische Intrigen und Morde, Fälscher, Geheimgesellschaften und schwarze Messen. Und hier liegt vielleicht das Problem des Romans: Die Geschichte an sich wäre spannend genug, so dass eine Literarisierung reichlich aufgesetzt wirkt und man sich in der Tat einige langatmige Passagen, die die Ereignisse mit narrativem Firlefanz ausstatten, gerne sparen würde. Vor allem aber überzeugt die Rahmenhandlung am wenigsten: Eco kleidet seinen Roman in eine Art Dr. Jeckyll und Mister Hyde-Setting. Simonini, der sich zeitlebens gerne verkleidete und in fremde Rollen schlüpfte, leidet an einer akuten schizoiden Spaltung, hervorgerufen durch einen Doppelmord, den sein Bewusstsein zu verdrängen sucht. Nach dem Modell von Freuds talking cure versucht er sich einer Art writing cure, um mittels Tagebuchschreiben den im Gedächtnis verschütteten Ereignissen und seiner Identität wieder auf die Spur zu kommen. Wechselweise greifen Simonini und sein Alter Ego, der mysteriöse Abbé Dalla Piccola, ohne voneinander zu wissen zur Feder. Von Anbeginn ist jedoch absehbar, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Die Rahmenfiktion trägt also nicht wesentlich zur Spannung bei, ganz abgesehen davon wirkt sie auch reichlich konstruiert und kaum plausibel. Solche Mätzchen hätte der Roman auch gar nicht nötig, der vielmehr durch die episch breite Schilderung der dunkeln Seite des 19. Jahrhunderts besticht, das besonders geprägt war durch Obskurantismus und Okkultismus – man denke nur an Joris-Karl Huysman, Madame Blavatsky oder Eliphas Lévi, die allesamt auch Erwähnung finden. Erst ganz zum Schluss des Romans blitzt durch die Nennung von Marcel Proust und Eduard Monet kurz der Horizont der Moderne auf, der von Simonini freilich noch nicht als solcher erkannt wird, wenn er Proust schlicht als «fünfundzwanzigjährigen Päderasten» und Monet als «Farbenkleckser» herabwürdigt.


* Wie Simonini selbst ist auch diese Babette eine Erfindung, jedoch keine von Eco, sondern von Antonio Brescani, aus dessen heute zurecht vergessenem Roman Der Jude von Verona (1863) er sie entlehnteMehr noch übernimmt Eco die Beschreibung quasi im Wortlaut vom Original und führt damit performativ die eklektisch-plagiatorischen Techniken der Dokumentenfälscher vor, die sich schamlos bei der Trivialliteratur bedienen, um vermeintlich historische Tatsachen zu belegen. In der deutschen Übersetzung lautet die Stelle, die sich fast identisch bei Eco wiederfindet:
„Es war die berüchtigte Babette von Interlaken, die würdige Urenkelin von Weißhaupt, welche der Pfarrer Weyermann die große Jungfrau des schweizerischen Communismus nannte. Man wußte nicht, woher sie stammte, und von Kindheit an diente sie bei den Freicorps als Kellnerin einer Marketenderin; sie hatte stets Trunkenheit, Diebstahl und Ausschweifung vor Augen, wuchs in dieser Gesellschaft auf und lernte Gott nur durch die Flüche kennen, welche sie fortwährend hörte. In den Scharmützeln bei Luzern, wenn die Freischaaren irgend einen Katholiken aus den Urkantonen getödtet hatten, ließen sie ihm Babette das Herz oder die Augen oder die Eingeweide ausreißen, und im Triumphe dahertragen, wofür sie dann einen Batzen und ein Glas Kirschwascher [sic] bekam.
Nach dem 28. August 1846 aber, wo Ochsenbein, Funk, Stockmar und Consorten zu Magistraten des Cantons Bern gewählt wurden, ward Babette der treueste Herold zwischen ihnen und die geheimen Gesellschaften, der Agathodämon aller Ränke, Schliche und Umtriebe der geheimnisvollen Clubs; sie erschien unversehens überall, und verschwand ebenso rasch, gleich einem Kobold; sie kannte undurchdringliche Geheimnisse, stahl diplomatische Depeschen ohne die Siegel zu verletzen, drang wie eine Natter in das Innerste der Cabinette von Wien, Berlin und selbst von Petersburg. Sie machte Wechsel nach, fälschte Pässe und schon als Mädchen, wo sie in die Schule ging, kannte sie die Kunst der Gifte und wußte sie zu mischen, je nachdem der Geheimbund es anordnete; sie fluchte wie ein Radicaler, trank wie ein Aargauer, rauchte wie ein Türke, handhabte die Büchse wie ein Schütze und den Dolch wie ein Fechtmeister; es war als wäre sie vom Teufel besessen, so stark waren ihre Fibern und so kräftig ihr Arm, ihr Blick hatte etwas zauberartig Fesselndes und in ihren Zügen lag, wenn sie zornig wurde oder Einem drohte, Kühnheit, Verwegenheit und Stolz.“ (Der Jude von Verona. Historischer Roman aus den Jahren 1846 bis 1849. 2. verb. Aufl. Schaffhausen: Hurter’sche Buchhandlung 1957, Bd. 1, S, 171 f.)