Samstag, 25. Februar 2017

Joseph Breitbach: Das blaue Bidet oder das eigentliche Leben (1978)

Dieser Roman ist ein so frischer und frivoler Altersroman, dass man es erst gar nicht glauben will, dass der Autor ihn im hohen Alter von 75 Jahren, das heißt unterdessen vor gut 40 Jahren, geschrieben hat. Keine einzige Zeile klingt verstaubt. Auch heute nicht. Vielmehr zeichnet sich der Text durch eine narrative Vitalität und erzählerische Verve aus, die seinesgleichen sucht. Der Roman besticht nicht durch hohen Stil, sondern durch eine klare, flüssige Erzählweise, die keine Experimente wagt, sondern von solider Könnerschaft zeugt. Kein Satz ist missglückt, auch wenn nicht jeder Satz zwingend notwendig erscheint. Das einzige, was man dem Buch vorwerfen könne, sind gewisse Längen und Dehnungen.

Zum Inhalt: Jean Barbe, ein 60jähriger Unternehmer und Produzent von Qualitätsknöpfen, beschließt vor der befürchteten Sozialisierung des Arbeitsmarktes seine Firma zu verkaufen und endlich das ›eigentliche‹ Leben zu führen: »Ich will endlich einmal zu mir selbst kommen! [...] Das Eigentliche, danach dürstet mich. Das uneigentliche Dasein, mein bisheriges, lohnt sich nicht mehr, seitdem Produktivität Schinderei der Arbeitnehmer, Besitz Diebstahl, kurz: seitdem der Inhalt meiner Existenz, nach einem bereits allgemein geteilten Urteil, Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist.«

Auf seinem Gang in das neue freie Leben begegnet er aber just dem jungen Marxisten Ferdinand Malis, einem Studenten, den er als Fahrer für seine Reise in den Süden anheuern will. Obwohl Malis von Barbe nachhaltig irritiert, ja sogar abgestoßen ist, geht er den Deal ein, weil es für ihn erstens eine willkommene Gelegenheit ist, die Trennung von seiner Freundin zu verschmerzen, zweitens den kapitalistischen Klassenfeind einer Realanalyse zu unterziehen und last but not least auch deshalb, weil - Ironie - ein ordentliches Gehalt winkt.

Was wir als Leser somit serviert bekommen, sind seine »Beobachtungen an einem Kapitalisten«, zumal Malis im 19. Kapitel auch auf relativ spektakuläre Weise als neuer Erzähler eingeführt wird, nachdem die Geschichte zunächst durch eine personal an Barbe gebundene Erzählstimme wiedergegeben wurde. Es kommt deshalb, in dem ansonsten schnörkellosen Text zu einer auffälligen metanarrativen Bruchstelle, an der Malis als Erzähler das Wort ergreift:

»Ich bin es, der jetzt hier die Feder führt; im Einverständnis mit dem Autor werde ich mich bemühen, daß der Leser auf eine ihn nicht ärgernde, bequeme Weise erfahre, wie ich Barbe kennenlernte und welche Rolle dieser Sechzigjährige in meinem Leben spielen sollte.«

Es gehört als zum Kniff der Erzählanlage, dass der Kapitalist Barbe aus der Optik des Jungmarxisten Malis geschildert wird. Während Barbe zu Beginn als eher tolpatschiger und weltfremder Kauz in Erscheinung tritt (was ür allerhand slapstickartige Episoden sorgt), gewinnt er aus der Perspektive von Malis vermehrt großtuerische Züge, die dennoch nicht frei von Verschrobenheit sind. Im Gegenteil: Barbe erweist sich als geradezu kapriziöser, impulsiver, ja obsessiver (und darüber hinaus auch hochgradig erotomaner) Charakter, dessen Eigentümlichkeiten in der besonderen Vorliebe für Bidets gipfelt.

Im Bidet sieht er (auch für den Mann!) das Wahrzeichen der körperlichen Hygiene. Von dieser Ansicht lässt sich Malis am Ende ebenso überzeugen, wie er den wortreich dargebrachten Argumenten des Kapitalisten Barbe über den Egoismus als Triebkraft der menschlichen Natur streckenweise recht geben muss. Die Geschichte endet mit der Bilanz: »Ich fürchte, geblieben ist die Einsicht in seine einmal so hart geäußerte Meinung, daß wir uns alle viel gleichgültiger seien als wir es uns eingestehen wollten, und daß es die eigenen Interessen seien, die unser Fühlen, Denken und Handeln bestimmten, wie bewußt oder unbewußt auch imer wir diese verbrämten.«

Der Roman ist jedoch alles andere als ein theoretischer Schlagabtausch zwischen Kapitalismus und Sozialismus, auch wenn die hin und wieder vorgebrachten Reden und Gegenreden der Protagonisten etwas stark nach Denkschablone geschrieben sind. Im Vordergrund stehen die skurrile Figur Barbes und die durch seinen Eigensinn ausgelösten Skandale und Missverständnisse, gemäß dem von Chamfort vorangestellte Motto: »Der Eigensinn vertritt den Charakter ungefähr so, wie das Temperament die Liebe vertritt.«

Es ist eine Art Pikaroroman in modernem Gewand, hochkomisch, zuweilen derb, wie es sich für dieses Genre gehört (ein Höhepunkt bildet der kollektive Puffbesuch im Khedive mit anschließender Prügelei). Und natürlich scheint im Zweigespann vom närrischen Barbe und seinem mitschreibenden Begleiter Malis auch das literarische Vorbild von Don Quijote und Sancho Pansa durch. Gleich zu Beginn des Romans wird zudem ein anderer, sehr deutlicher intertextueller Verweis gesetzt, wenn fast beiläufig gesagt wird, Barbe habe sein Knopfgeschäft von der Familie »Bouvard und Pécuchet« übernommen.

Wie diese beiden Antihelden bei Flaubert ausziehen, um alle Wissenschaften zu erkunden, so lässt Barbe alles hinter sich, um sich in bare Leben zu stürzen. Während die beiden Kopisten Bouvard und Pécuchet am Ende ihres Kursus jedoch wieder enttäuscht in die Schreibstube zurückkehren, endet Barbes Ausflug tödlich: Er wird, Opfer seines überschäumenden Lebens- und Liebestriebs, in Tunesien aus Rachsucht niedergestochen von der schönen Fatima. So findet eine groteske Existenz ihren grotesken Abgang...

Auch wenn sich Barbe – steckt in diesem Namen vielleicht eine Kurzform von Barbar? – oft als Wüstling oder Soziophat verhält, faszinierend am Roman ist, dass er in keiner Sekunde unsympathisch wirkt, vielleicht gerade weil er im Grunde eine erzarchaische Figur ist, ein Saftkerl wie viele Schelme der Weltliteratur, die Dinge an- und aussprechen, die man sich gemeinhin nicht zu sagen wagt. Beispiel gefälligst: »Acht Tage Enthaltsamkeit, wem platze da nicht der Sack!«

Mittwoch, 22. Februar 2017

Rodolphe Toepffer: Die Bibliothek meines Onkels (1832; dt. 1847)

Diese Erzählung erfreute sich damals großer Beliebtheit, was heute kaum mehr vorstellbar ist, denn es fehlt ihr an einem durchgehenden Handlungsbogen. Allein der Titel wird auf der Inhaltsebene nicht wirklich eingelöst, zumal die Bibliothek nur sehr subtil und hintergründig das Geschehen bestimmt. Stattdessen werden in loser Folge einzelne Episoden, Betrachtungen und Einfälle aneinander gereiht, wie es der Autor auch in seinen Bildergeschichen tat, für die er heute noch als Pionier der Comickunst bekannt ist. Selbst Goethe war von den gezeichneten Bilderfolgen begeistert. Über die hier vorgestellte Erzählung La bibliothèque de mon oncle hingegen konnte er sich nicht mehr äußern: Als das persönlich von Toepffer verschickte Widmungsexemplar Weimar erreichte, weilte der Dichterfürst schon nicht mehr unter den Lesenden.

Wie er darauf reagiert hätte, darüber lässt sich nur spekulieren. Die Novelle ist ganz im Geist der empfindsam-launigen Erzählweise geschrieben, wie sie durch zahlreiche Imitatoren von Laurence Sterne und seiner Sentimental Journey im deutschen Sprachraum popularisiert wurde. Anstelle der Reise, die ein beliebtes Motiv für diesen sprunghaften Stil war, wählt Toepffer das Fenster als situativen Rahmen. Der Ich-Erzähler Julius präsentiert sich als „Gaffer“, der stunden- ja tagelang aus dem Fenster in seiner Dachwohnung schaut und die Welt betrachtet. Das Fenster – und nicht etwa. wie man meinen könnte, die Bibliothek – ist somit der privilegiert Ort, von dem aus erzählt wird. Einleitend wird das Fenster – in Abgrenzung zur Schwelle und zur Stube – sogar als ideales Erkenntnismodell vorgestellt. Die im Titel prominent genannte Bibliohtek hingegen fungiert eher als Negativfolie. Entsprechend kommt ihr während der gesamten Erzählung auch keine spezifische raumpoetische Bedeutung zu.

Julius, der Protagonist und Erzähler, ist ein 18jähriger, elternloser Student, der deshalb bei seinem Oheim wohnt. Dieser ist ein kauziger alter Privatgelehrter und Bücherwurm, der sich am liebsten in seiner Bibliothek aufhält und dort jedes einzelne Exemplar in- und auswendig kennt, während die Welt keine Notiz von ihm nimmt. Vom Bücherstaub will auch Julius gar nichts wissen; viel lieber schaut er zum Fenster hinaus und verliert sich in Tagträumen: „Ja, das Herumgaffen ist wenigstens einmal im Leben nötig, aber besonders im achtzehnten Lebensjahre, wenn man die Schule verläßt. Hier gewinnt die durch das Lesen alter Schwarten vertrocknete Seele wieder neues Leben“. Was den Jüngling in seinem Alter vor allem interessiert, sind demnach nicht lateinische Phrasen, die ihm der Hauslehrer Ratin aufzwingen will, sondern es ist das weibliche Geschlecht, um das sich die lose gestrickte äußere Handlung gleich in dreifacher Weise dreht.

In gewisser Hinsicht ist es eine Geschichte der Adoleszenz. Julius, der Protagonist, ist ein schüchterner junger Mann, der sich insgeheim umso sehnsüchtiger nach den angehimmelten Frauenzimmern verzehrt. Nacheinander schmachtet er so verstohlen wie offensichtlich für die Engländerin Lucie, für eine Jüdin, die allerdings zu früh verstirbt, als dass sich die Liebe erfüllen könnte, sowie für Henriette, die er schließlich heiratet, obwohl der Vater zunächst dagegen interveniert, da er in Julius, der seinem „Hang für die schönen Künste“ nachgekommen und Maler geworden ist, für eine finanziell denkbar unsichere Partie hält. Doch am Ende kommt die Vermählung trotzdem zustande, nicht zuletzt weil der Oheim von Julius altersbedingt seine Bibliothek verkauft und den Erlös als Mitgift stiftet. So gewinnen die Bücher, die Julius stets verschmäht hat, am Ende doch noch einen, wenngleich nur pragmatischen Nutzen.

Dennoch spielt die Bibliothek in den beiden anderen Teilen hintergründig eine entscheidende Rolle, insofern sie als Katalysator für die amourösen Gefühle von Julius dient. Im ersten Teil ist es die Geschichte von Abaelard und Heloise, die Julius in der Bibliothek entdeckt und von der er nachhaltig erotisiert wird. Im zweiten Teil ist es eine apokryphe, der „Bulle Unigenitus“ beigebundene Passage, die Julius über der Jüdin heimliche Neigung zu ihm Aufschluss verleiht. In beiden Fällen führt das Begehren zunächst über die Schrift. Doch ist den durch das Buch vermittelten Liebschaften keine Dauer beschieden. Es gehört wohl zur Ironie der Geschichte, dass erst der Buchverkauf zu einer stabilen Beziehung und zur Heirat führt, während das bloße Wort sich als höchst unsichere Phantasmagorie erweist.

Die Geschichte endet mit dem Tod des Oheims und einem – in Form eines Briefs von Julius an Lucie verfassten – Nachrufs auf ihn: „Dies, Madame, ist die einfache Erzählung von den letzten Augenblicken eines unbeachteten, der Welt fremden und selbst seinen eignen Nachbarn unbekannten Mannes, den ich aber aus vollem Herzen unter die besten Menschen der Erde zählen muß. Sein langes Leben erscheint mir wie der Lauf eines unbeachteten aber segenspendenen Baches, der seine bescheidenen Ufer erquickt und in dem sich die milde Heiterkeit eines lachenden wolkenlosen Himmels spiegelt.“