Dienstag, 27. Juni 2017

Marcel Schwob: Das Buch Monelle (1894)

Das Livre de Monelle gehört neben den Vies imaginaires (1896) zu den bekanntesten Werken des dem Symbolismus nahe stehenden französischen Schriftstellers und Übersetzers Marcel Schwob. Die Bibel kennt viele Bücher: Buch Mose, Buch Josua, Buch Esra, Buch Esther, Buch Ruth etc. Schwob setzt mit dem Livre de Monelle ein weiteres, apokryphes dazu. Es ist kein kohärentes Werk, sondern wie die biblischen Bücher eine Ansammlung von Sentenzen, Gleichnissen, Parabeln, allegorischen Geschichten, Träumen und Visionen, oft dunkel und rätselhaft – der Auslegung bedürftig.

Im Unterschied zu den biblischen Büchern wird im Buch Monelle jedoch keine Heilsgeschichte verkündet. Was Monelle, die in einer Art Prolog direkt zu ihrem Geliebten spricht, verkündet, ist ein dekadentes Evangelium der reinen Präsenz, der Augenblicksversessenheit, die keine dauerhaften Werte duldet. Erinnerung, Wahrheit und Arbeit sind Tugenden, die sie kategorisch verwirft. Dafür propagiert sie eine Kultur der Flüchtigkeit, des Vergessens und der Lüge. Schöpfung geht nur einher mit Zerstörung, sie ist kein rein kreativer, vielmehr ein destruktiver Zustand. So wird im Stil einer Predigt oder Unterweisung zugleich auch eine typische Ästhetik des Fin de siècle entworfen.

Wer Monelle aber ist, das weiss man nicht. Mal erscheint sie als Geliebte, dann als Prostiuierte, dann als Anführerin kleiner Kinder, die nicht erwachsen werden wollen. Sie ist Kindfrau und Femme fatale, Priesterin und Verführerin, Heilige und Hure zugleich. Peter Krumme vermutet in seinem Nachwort, es handle sich um die personifizierte Literatur selbst. Das scheint ein wenig hoch gegriffen. Und da das Buch neu in der Ullstein-Reihe „Die Frau in der Literatur“ aufgelegt wurde, ist es eigentlich naheliegender, in Monelle den Archetypus des Weiblichen zu sehen. Sie ist das Urweib par exellence, während ihre Schwestern, die in den märchenhaften Geschichten des Mittelteils porträtiert werden, verschiedene feminine Phänotypen darstellen.

Sie werden als die Egoistin, die Wollüstige, die Perverse, die Betrogene, die Wilde, die Getreue, die Auserwählte, die Träumerin, die Erhörte, die Gefühllose und die Geopferte vorgestellt. Morelle selbst aber ist die ewig Flüchtige (man denke an Prousts La Fugitive), diejenige, die sich dem Moment ebenso sehr hingibt, wie sie sich einer festen Bindung entzieht. (Möglich, dass sich ihr Name von gr. mónos herleitet, gleichbedeutend mit allein als auch einzigartig.) Wie dem auch sei - Monelle als das Weibliche schlechthin werden die Herren der Schöpfung niemals begreifen: „denn wenige Männer haben mich gesehen, und keiner hat mich verstanden. Der Ton des Buchs ist ebenso enigmatisch wie prophetisch. Es ist weniger eine Erzählung als ein poème en prose, ein Hohelied auf den Erotisme.

Montag, 26. Juni 2017

Edward Bulwer-Lytton: Eugene Aram (1832)

Dieser „Kriminalroman“ des heute hauptsächlich noch für den historischen Wälzer Die letzten Tage von Pompeij bekannten englischen Romanciers beruht auf einer wahren Begebenheit: Eugene Aram (1704-1759), ein angesehener, aber etwas verschrobener Philologe, wird 1759 des Mordes angeklagt und schließlich zu Tode verurteilt. Am Abend von seiner Hinrichtung gesteht er die Tat, die er vor Gericht noch in einer beeindruckenden Verteigungsrede geleugnet hat. Der Prozess bewegte damals die Bevölkerung stark und gehörte zu den aufsehenerregensten Rechtsfällen in England. Bulwer-Lytton musste deshalb davon ausgehen, dass die Geschichte im kollektiven Gedächtnis verankert war, entsprechend konnte in der Entdeckung des Mordes nicht das narrative Spannungsmoment liegen. So schreibt der Autor auch zum Schluss seines Buchs: „beinahe von Anfang an ließ ich ihn [den Leser] in Arams Geheimnisse eindringen und habe ihn auf die Schuld vorbereitet, mit welcher andere, wenn sie diese Geschichte erzählt hätten, vielleicht zu überraschen getrachtet haben würden“.

Bulwer-Lytton legt also das Bekannte von Anbeginn als offensichtliche Spur aus, wenn er den Gelehrten als grüblerische, misanthrope Person schildert, an dessen Minenspiel und seltsamen Gebaren sich ablesen lässt, dass ihn eine düstere Vergangenheit bedrückt. Um dem Roman angesichts des vorausschaubaren Endes trotzdem eine gewisse Spannung zu verleihen, greift Bulwer-Lytton zu einer doppelten poetischen Lizenz. Zum einen, indem er dem historisch verbürgten Gelehrten eine Geliebte hinzuerfindet, um die Tragik des Geschehens zusätzlich zu steigern. Zum anderen, indem er ihm mit Walter Lester zudem einen fingierten Gegenspieler zur Seite setzt, der seinerseits ein Auge auf Arams Geliebte geworfen hat. Hier ist der Konflikt bereits vorgebahnt, der zunächst nichts mit dem Mordfall zu tun haben scheint. Doch die Dinge erweisen sich letztlich verwickelter. Der durch Arams Schuld zu Tode Gekommene ist niemand anders, als der verschollene Vater Lesters. Hier berühren sich beide Biographien an einem dunkeln Punkt, auf den die Erzählung analytisch zuarbeitet. Insofern ergibt sich zwischen Aram und Lester eine spiegelbildliche Konstellation: Während Lester darum bemüht ist, die Vergangenheit seines Vaters aufzudecken, setzt Aram alles daran, seine schlimme Vergangenheit vor der Welt zu verbergen. Aus diesem gekonnt geschnürten Schicksalsknoten, welche die beteiligten Figuren auf intrikate Weise miteinander verknüpft, zieht der Roman sein Spannungsmoment.

Hinzu kommt die anfangs unheimliche Figur des Richard Houseman, der den verschrobenen Gelehrten zu bedrohen scheint. Diese mysteriöse Gestalt mit dem furchterregenden Antlitz, die zu Beginn unversehens in die Idylle von Grassdale einbricht, trägt ebenfalls zur Spannung des Romans bei. Wie sich herausstellt, handelt es sich um einen entfernten Verwandten Arams, der gemeinsam mit ihm die Untat begangen hat, und - unterdessen auf krumme Wege geraten - ihn mit diesem Wissen zu erpressen trachtet. Kurz vor der Heirat mit seiner Geliebten will Aram das künftige Glück nicht durch seine dunkle Vergangenheit trüben lassen, weshalb er Houseman eine jährliche Rente als Schweigegeld anbietet unter der Bedingung, dass er das Land verlassen muss. Dieser willigt in einem geheimen Treffen nahe der Küste während einer schauerromantischen Gewitternacht ein, weil er sich dadurch einen sicheren Unterhalt für seine Tochter verspricht. Alles scheint sich zum Guten zu wenden, wenn nicht unerwartet Housemans Tochter sterben und damit der Grund wegfallen würde, sich weiterhin an die vereinbarte Schweigepflicht zu halten. In einer zufälligen Begegnung mit Lester, der auf den Spuren seines verschollenen Vaters das Land durchstreift, offenbart er ihm, dass der Vater durch Arams Hand den Tod gefunden hat.

Am Tag seiner Hochzeit wird Aram von einer lärmenden Menge des Mordes bezichtigt und von den Ordnungshütern abgeführt. Sein künftiger Schwiegervater und dessen Tochter sind felsenfest von seiner Unschuld überzeugt und gehen von einem schrecklichen Irrtum aus. Nur Lester zweifelt nicht an Arams Tat. Es kommt zum Prozess, in dem Aram als sein eigener Verteidiger auftritt und in einer fulminanten Rede mit allen persuasiven Mitteln der Rhetorik die Plausibilität der Anklage zurückzuweisen sucht. Doch vergeblich, der Richter lässt sich nicht täuschen: Es kommt zum Todesurteil. Für die Verlobte bricht nicht nur eine Welt zusammen, sie stirbt - wie man nur zu Hochzeiten der Romantik sterben kann - aus Trauer und Verzweiflung nur wenige Tage nach dem vernichtenden Urteil. Walter Lester besucht Aram noch in der Zelle und verlangt Aufschluss über die grauenhafte Tat. Aram verspricht ihm ein schriftliches Bekenntnis, das er am Tag der Hinrichtung erhalten soll. Dieses Bekennerschreiben, das die komplexe Gemengelage von Recht, Gerechtigkeit, Schuld und Reue ausführlich verhandelt, ist dem Roman am Schluss beigegeben, kurz bevor er mit dem Tod Arams endet, allerdings nicht am Galgen, sondern durch eigene Hand - was der historischen Tatsache entspricht.

Der Schicksal von Eugene Aram hat viele Autoren von William Godwin über Thomas Hood inspiriert. Bulwer-Lytton dient der Stoff für eine geschickt und psychologisch feinsinnig arrangierte Geschichte, packend erzählt und mit einer guten Portion Pathos versehen. Alles, selbst die stimmungsvollen Wetterkulissen, welche den Szenerien eine zusätzliche Dramatik verleihen, steuern auf den tragischen Höhepunkt zu. Doch nicht dieses voraussehbare Ende ist es, welches die Spannung aufrecht erhält, sondern die Frage, die damals schon die Zeitzeugen umgetrieben hat: Weshalb ein an sich unbescholtener Gelehrter sich zu einer solchen Gewalttat hinreissen lässt. Aufschluss für diese Frage bietet das (freilich fingierte) Bekenntnis Arams, das aber keine versöhnliche Antwort liefert. Vielmehr offenbart sich darin die Inhumanität eines Geistesmenschen, der durch moralische Überlegenheit nicht davor zurückschreckt, ein in seinen Augen unwürdiges Menschenleben auszulöschen: "In meinem vorliegenden Fall war es mir leicht, mich glauben zu machen, ich habe kein Verbrechen begangen. Ich hatte einen der Welt verderblichen Menschen aus dem Wege geschafft; mit dem Reichtum, mit welchem er die Gesellschaft quälte, hätte ich viele Wohltaten begehen können". 

Sonntag, 25. Juni 2017

Lukian: Timon oder der Menschenfeind (um 150)

Lukian von Samosata, der große Satiriker und Spötter der griechischen Antike, schuf mit Timon den Archetypen des Misanthropen aus enttäuschter Menschenliebe. Timon, einst ein vermögender Gutmensch, verteilte freimütig seinen Reichtum, um Bedürftigen zu helfen, bis er selbst vollkommen mittellos war. Doch die von ihm großzügig unterstützten Mitmenschen sind nicht willens, nun ihrerseits seine Gunst zu erwidern. Sie wenden sich von ihm ab und wollen nichts mehr von ihm wissen. Verbittert begibt sich Timon als Taglöhner auf die Feldarbeit, wo er in äußerster Armut sein Leben fristet. Er zieht sich in ein Ethos der Bedürfnislosigkeit zurück, nicht ohne mitunter in heftigen Hasstiraden gegen das Menschengeschlecht und die ungerechte Götterwelt zu wettern.

Mit einer längeren Verwünschung Jupiters setzt auch die kurze, dialogisch strukturierte Erzählung ein. Timon klagt Jupiter lauthals an, seinem Namen als Blitzeschleuderer und Donnergott längst nicht mehr gerecht zu werden, da auf der Welt so viel Gemeinheit geschehe, ohne dass jemals sein „flammenzückender, allblendender, schrecklich schmetternder Wetterstrahl“ dazwischenfahre. Jupiter sei alt, müde und gleichgültig geworden, anders könne sich Timon dessen Zurückhaltung nicht erklären. Durch das Geschrei wird Jupiter tatsächlich in seiner göttlichen Ruhe aufgeschreckt, der sich verwundert fragt, wer dieser „lumpige, schmutzige Kerl“ denn sei: „Ein geschwätziger, dreister Bursche! Vermutlich ein Philosoph!“

Die Philosophen sind eine beliebte Zielscheibe von Lukians Spott, nicht nur in dieser Erzählung, in der später mit dem Philosophen Thraskyles ein Zerrbild dieser Spezies auftritt, der zwar Wasser predigt – nämlich das „Lob der Besonnenheit und Mäßigkeit“ –, tatsächlich aber Wein trinkt, und zwar so maßlos viel, dass er durch „nicht sehr anmutige Operationen seines überfüllten Magens unterbrochen wird“. Die philosophische Lehre wird hier direkt durch eine körperliche Reaktion widerlegt, was typisch ist für die Technik der satirischen Entlarvung überhöhter Idealvorstellungen. Doch im Zentrum der kurzen Geschichte steht nicht die Philosophenschelte, sondern die durchaus ernsthafte Frage, inwiefern Reichtum glücklich macht oder den Menschen bloß verdirbt.

Merkur, der von Jupiter aus Mitleid entsandt wird, Timon neuen Wohlstand zu verschaffen, erörtert diese Frage im Gespräch mit Plutus, dem Gott des Reichtums, der sich in zynischer Offenheit auch als „Vater als dieser Unholde“ wie „Hoffart, Unverstand, Aufgeblasenheit“ usw. vorstellt, welche die Seele des Menschen verderben. Plutus hat entsprechend kein Interesse an einer gerechten Verteilung des Reichtums, ihm liegt vielmehr daran, Gier und Geiz weiterhin zu fördern, weshalb er sich zunächst auch weigert, auf Befehl den armen Timon zu belohnen, der längst unter dem Einfluss der Penia und ihren Gefährten „Arbeit, Unverdrossenheit, Weisheit und Tapferkeit“ steht und dem lästerlichen Reichtums längst abgeschworen hat.

Diese demonstrative Ablehnung reizt den korrumpierfreudigen Plutus schließlich doch. Gemeinsam mit Merkur versucht er, Timon von seinem tugendhaften Weg abzubringen, indem er ihm einen reichgefüllten Thesaurus aufs Feld zaubert. Timon reagiert erwartungsgemäß: Wo er vormals gegen das ungerechte Schicksal wetterte, richtet sich sein Zorn nun, vergiftet durch den unerwarteten Geldsegen, gegen die Gesellschaft selbst. In einer langen Hassrede bekundet er, mit dem Geld in die Einsamkeit zu ziehen, mit niemandem zu teilen, mehr noch der Bevölkerung die erfahrende Ungerechtigkeit mit doppelter Münze heimzuzahlen. Er will schaden, wo er nur kann: „Denn nur auf diese Weise werde ich ihnen wiedergeben, was ich von ihnen empfangen habe.“ Aus dem einst altruistischen Wohltäter ist durch Enttäuschung und verderblichen Einfluss des Geldes ein erbitterter „Menschenfeind“ geworden.

Mittwoch, 21. Juni 2017

Luigi Malerba: Der Protagonist (1973)

Catull besang ihn in seinen mentula carmina, Goethe nannte ihn „Meister Iste“ und bei Gerhard Zwerenz taucht der „Kleine Herr“ sogar im Buchtitel auf; aber dass er gleich, wie bei Luigi Malerba, zum Protagonisten eines ganzen Romans erkoren wird, dürfte wohl eine einmalige Angelegenheit sein. Selbst der "Penismonolog" von Blumfeld kann das nicht toppen. Auf die pennälerhafte Idee muss man auch erst einmal kommen, ein membrum virile nicht nur zum Hauptdarsteller einer Geschichte, sondern erst noch zum Erzähler zu wählen.

Der Protagonist, von dem hier die Rede ist, gehört zum „Boss“ - so nennt er seinen stolzen Besitzer, dessen sexuelle Abenteuer er kommentiert und berichtet. Der Boss ist Funkamateur und lässt ab und zu schon mal den Protagonisten als Antenne über den Dächern Roms ausfahren, derweil vorbeieilende Nonnen entstetzt das Kreuz schlagen müssen. Der Boss funkt, um junge „Fräulein“ zu finden, die er in seine Wohnung (die „Höhle“) locken will, um dort in ihren „Garten“ zu dringen. Mit Elisabella hat er schließlich Glück, sie lässt sich auf ein solches Schäferstündchen ein und wartet nur darauf, dass die geladene "Pistole" des Bosses endlich, wie er ständig in Aussicht stellt, zum "Schuss" gelangt.

Doch da zeigt sich die Misere hinter dem ostentativen Geprotze des Bosses: Er schafft es nicht, den Protagonisten zu seiner zugedachten Rolle zu verhelfen. Dieser rühmt sich zwar, nicht unbescheiden, als das aristotelische „Bewegende Organon“ zu gelten - doch beim Boss bewegt sich leider gar nichts, zumindest nicht in Gegenwart von Elisabella. Der Grund liegt, wie sich allmählich zeigt, in in den seltsam abnormen, ja abartigen Neigungen des Bosses. Dass es ihm mitunter gefällt, den Protagonisten in einen warmen Heizkörper zu stecken, mag noch angehen. Dass er dasselbe Verlangen aber auch bei öffentlichen Reiterdenkmälern, einer Mumie und – horribile dictu – einem toten Walfisch verspürt, ist an Perversion kaum zu überbieten.

Malerba scheint mit seinem dritten Roman tatsächlich die Grenzen des guten Geschmacks mehr als nur ausloten zu wollen. Man kann den Roman auch als Neuinterpretation der menippischen Satire verstehen, welche durch einer Verschiebung bzw. Verfremdung der Perspektive eine groteske Realität entwirft. Die Perspektive des Protagonisten ist naturgemäß diejenige von unten. Sie nimmt die angebliche Gewohnheit vieler Männer auf, mit ihrem besten Stück zu sprechen, es zu individualisieren und Namen zu geben. Hier ergreift dieser treue Begleiter tatsächlich einmal das Wort und liefert damit das Porträt eines Mannes, der nicht mit dem Kopf, sondern eben mit seinem Unterleib denkt. Zugleich wird aber auch deutlich, wer oft hinter einem solchen Protagonisten steckt: ein veritabler Schlappschwanz nämlich.


Mittwoch, 14. Juni 2017

Harry Mathews: Zigaretten (1987)

Der diesen Januar mit 86 Jahren verstorbene Harry Mathews war als einziger amerikanischer Schriftsteller Mitglied der Gruppe OULIPO, dem Ouvroir de la Litterature Potentielle, zu der auch Oskar Pastior, Italo Calvino und Georges Perec gehören. Mit Perec war Mathews eng befreundet, sein Roman The Sinking of the Odradek Stadium wurde von ihm auf Französisch übersetzt. Ein schwieriges, fast unmögliches Unterfangen, zumal die Hälfte dieses Briefromans in der Schreibweise einer Legasthenikerin verfasst ist. Mitunter wohl ein Grund, weshalb bis heute eine deutsche Übersetzung fehlt. Den Roman Zigaretten widmet Mathews „In Gedenken an Georges Perec“, was angesichts der Tatsache, dass Perec an Lungenkrebs gestorben ist, auf einen seltsam sarkastischen Humor zwischen den beiden schließen lässt.

Im Vergleich zu früheren Werken ist dieser Roman deutlich weniger experimentell ausgefallen, wenngleich er der Methode von OULIPO, die Kreativität durch formale Regeln und formale Restriktionen herauszufordern, prinzipiell verpflichtet ist. In diesem Fall spielt sich der Formalismus in der strengen Kapitelgliederung ab, die je ein Personenpaar behandelt. Das Inhaltsverzeichnis liest sich wie eine willkürliche Namensliste. Die erste Hälfte der insgesamt 15 Kaptiel wird dabei aus männlicher Sicht, die zweite Hälfte aus weiblicher Sicht geschildert, wobei jeweils die letzten drei Kapitel je zwei Männer resp. zwei Frauen im Zentrum stehen, es sich ansonsten aber um gemischte Paare handelt. Diese strenge Symmetrie (und auch darin liegt ein oulipischer Trick) wird indes durch ein Doppelkapitel aufgebrochen: das Kapitel über „Owen und Phoebe“ ist unterteilt in römisch I und II. Wohl nicht zufällig fällt in diesem aus der Reihe tanzenden Kapitel das einzige Mal im gesamten Buch der Titelbegriff „Zigaretten“ (und das auch gleich doppelt).

Obwohl der Roman, wie es scheint, auf dem Reißbrett entstanden ist und eine höchst ausgeklügelte Konstruktion aufweist, wirkt er in keiner Sekunde anstrengend oder formalistisch. Im Gegenteil liest er sich je länger je mehr als veritabler Pageturner. Das liegt an der äußerst raffinierten, nicht-linearen Informationsverteilung, die oft entscheidende Details erst nachträglich enthüllt und die Geschehnisse in jeder Episode wieder in neuem Licht erscheinen lässt. Wie sich bei fortlaufender Lektüre allmählich herausstellt, sind die zunächst lose aneinander gereihten Episoden eng miteinander verflochten. Eigentlich hat Mathews mit diesem Verfahren bereits die Technik der Short Cuts vorweggenommen, die Robert Altman mit seinem gleichnamigen Film aus dem Jahr 1993 salonfähig gemacht hat. Der Roman Zigaretten ist eine literarische Multi Charakter Form, deren separat erzählte Episoden verschiedentlich Berührungspunkte untereinander aufweisen. Im Unterschied zu Altmans Short Cuts, wo solche Überschneidungen nur sehr oberflächlich auftreten, sind die Schicksale der Protagonisten in Zigaretten viel stärker ineinander verstrickt.

Im Verlauf der Erzählung entpuppen sich diverse familiäre, amouröse, intrigante sowie geschäftliche Beziehungen unter den Protagonisten. Die Klammer bildet gewissermaßen die mysteriöse Elizabeth, die im ersten und dann wieder im letzten Kapitel auftritt, wo die anfänglich geschilderte Situation unter neuer Perspektive nochmals aufgenommen wird: Allan wird von seiner Frau Maud aufgrund seiner Affäre mit Elizabeth aus dem Haus geworfen, weshalb er aus Rache das Porträt von Elizabeth in jüngeren Jahren mitnimmt, das Maud vor wenigen Tagen zufällig vom Kunstkritiker Morris gekauft hat, der auf Anraten von Mauds Tochter Priscilla in den Kunsthandel eingestiegen ist, um seiner Schwester Irene, einer erfolgreichen Galeristin, eins auszuwischen. Das Porträt stammt vom Künstler Walter Tale, über dessen Werk (speziell über das Frauenbildnis) Priscilla wiederum promoviert und Morris einen viel beachteten Artikel verfasst hat.

Priscilla weist in ihrer Arbeit nach, dass Elizabeth dem Künstler die „animalische Anmut und transzendentale Sexualität“ der weiblichen Schönheit offenbart habe; Morris wiederum orakelt in seiner Besprechung vom „stürmischen Himmel der Vagina“. Die Aufmerksamkeit, die diesem Bild von verschiedene Figuren der Erzählung entgegen gebracht wird, deutet schon an, dass es den heimlichen Hauptdarsteller des Romans markiert. Es taucht in jedem Kapitel mehr oder weniger prominent einmal auf und wechselt im Verlauf der Erzählung mehrmals seinen Besitzer, so dass alle Protagonisten des Romans mindestens einmal mit ihm in Berührung kommen. Die Pointe besteht jedoch darin, dass es sich – wie der Leser erst später erfährt, als man schon meint, das Gemälde sei zerstört worden – gar nicht um das Original, sondern um eine Kopie handelt, die Phoebe zu Übungszwecken angefertigt hat, als sie angeleitet durch Walter Tale sich zur Künstlerin ausbilden wollte.

Phoebe ist also die Urheberin des duplizierten Gemäldes, das im gesamten Roman zirkuliert, weshalb ihr nicht von ungefähr auch das aus der Reihe fallende Doppelkapitel gewidmet ist, das die schwierige Beziehung zu ihrem Vater Owen schildert, der – ohne zu wissen, dass es sich um ein Bild seiner Tochter handelt – das Porträt vernichten wird. Dieser Akt der Zerstörung steht symbolisch für das tragische Schicksal seiner Tochter, die durch die Double-Bind-Beziehung zu ihrem Vater letztlich einen psycho-somatischen Zusammenbruch erleidet und in einer klinischen Depression versinkt. Während ihrer Psychose beginnt sie eine Stimme (sie nennt es: ihr inneres Megaphon) zu hören, die sie ihr kryptische Botschaften diktiert, und ihre Großmutter begleitet sie in Gestalt eines Vogels. Hier deutet sich eine strukturelle Ähnlichkeit zu Elizabeths Schicksal an, die am Ende des Romans ebenfalls todkrank im Spital liegt und dort träumt, dass sie ein Vogel sei. Es ließen sich bestimmt noch weitere Parallelen entdecken, die diese beiden 'Hauptfiguren' zueinander in Relation setzen.

Auf diese Weise gleicht die gesamte Erzählanlage einem grossen Puzzlespiel, bei dem sich sukzessive die Teile zu einem Gesamtbild fügen. Die anfänglich vollkommen isoliert erscheinenden Personen sind alle sehr eng miteinander in einem Gewebe von Lügen und Ent-Täuschungen miteinander verstrickt. Sie bilden eine Schicksalgemeinschaft, ohne es selbst immer zu wissen. Die Übersicht behält eigentlich nur das auktorial überlegene Erzählerich, das sich direkt nur ganz am Anfang und am Ende des Romans zu Wort meldet, ansonsten aber die personal perspektivierte Handlungsführung in Form von kurzen Klammerbemerkungen ergänzt. Woher das „Ich“ dieses Wissen bezieht, bleibt unklar. Rätselhaft bleiben auch der Titel des Romans und dessen Schluss, bei dem das erzählende Ich wieder aus dem Schatten der Narration hervortritt.

Ganz offensichtlich gehört der Erzähler zum Kreis der porträtierten Personen, über seine eigene Identität gibt es jedoch keine Silbe preis. Man erfährt lediglich, dass er eben von „den Beerdigungen“ zurückgekehrt sei. Wer da kollektiv bestattet wurde, darüber lässt sich nur spekulieren: Sind es etwa die Protagonisten des Romans, die an zum Schluss ihre Funktion für den Erzähler erfüllt haben? Die metaphysische Reflexionen, in die sich das erzählende Ich verliert, verleiten zu dieser Spekulation. Es räsoniert darüber, wie die Toten in einer ewigen Präsenz weiter existieren, indem sie von den Lebenden Besitz ergreifen. Das Leben speist sich, seiner Theorie zufolge, von der „Energie der Verstorbenen“, die sich bis auf die Anfangszeiten eines „ursprünglichen und heldenhaften Akteurs“ zurückführen lässt, dem „die Welt [...] gegeben war, damit er ohne Reue und Angst darin spielen konnte.“ Mit dieser Rückbindung an einen mythopoetischen Archetypen endet der Roman.

Dieser Schluss kommt ebenso unerwartet, wie er auch das sonst wohlkonstruierte Erzählgebilde merklich aufstört und letztlich hinter die subtil verwobene Geschichte ein großes Fragezeichen setzt. Man wird das Gefühl nicht richtig los, als treibe dieses aufgesetzte Ende ein falsches Spiel mit dem Leser. Dem Autor verschafft es offenbar eine diebische Freude, bei aller erzählerischen Kommensurabilität, überall hermeneutische Spuren und Fingerzeige für den Deutungswilligen zu legen. Irgendwie riecht alles danach, entschlüsselt zu werden. Das gilt auch für den Titel, der sich aus der Romanhandlung selbst aber kaum erschließt. Nur eine Episode nimmt ihn expressis verbis auf, als die derilierende Phoebe im Geräusch eines fahrenden Zuges die Wortfolge „Zigaretten, tsch tsch / Zigaretten, tsch tsch“ vernimmt. Es wird also alles darauf angelegt, die titelgebenden Zigaretten als rätselhafte Chiffre erscheinen zu lassen. Mögen sich Andere die Zähne (oder in Anspielung eines weiteren Romantitels von Mathews: die Zlähne) daran ausbeißen.

Angeblich hat Mathews in einem Interview auf die Frage, was der Titel denn bedeute, geantwortet, er solle dazu anregen, just über seine Bedeutung zu reflektieren. Auch sonst gab sich der Autor eher zurückhaltend und hat die Strukturgesetze und Regeln, denen er sich beim Schreiben unterzog, nie offengelegt. Vielleicht hat er aber eine davon im Roman selber versteckt. Als Elizabeth am Ende über eine Art Offenbarung erzählt, die ihr ein unbekümmertes Lebensgefühl vermittelt habe, wird sie kurz von Maud unterbrochen mit der Aufforderung: „Kein post hoc ergo propter hoc bitte schön!“ Gemeint ist damit eine unzulässige Schlussfolgerung, die ein späteres Ereignis (post) durch ein früheres verursacht (propter) sieht, also ein Kausalverhältnis herstellt, wo lediglich eine zeitliche Folge vorliegt. Solche Kausalknoten, die seit jeher das Grundprinzip des epischen Erzählens bilden, unterläuft Mathews mit seiner nonlinear und kaleidoskopisch gebrochenen Handlungsführung systematisch.

Mittwoch, 31. Mai 2017

Brentano / Görres: BOGS, der Uhrmacher (1807)

Ein poetisches Konzept der deutschen Romantik war das Schreiben im Kollektiv. Friedrich Schlegel formulierte in einem seiner Athenäums-Fragmente das Ideal einer „Sympoesie“, bei der „es nichts Seltnes mehr wäre, wenn mehrere sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten“. Und Novalis sah in den Journalen „eigentlich schon“ das Vorbild für „gemeinschaftliche Bücher“. Das berühmteste Unternehmen in kollektiver Autorschaft sind Die Versuche und Hindernisse Karls (1808), auch als Doppelroman der Berliner Romantik bekannt, an dem sich Karl August Varnhagen von Ense, Wilhelm Neumann, August Ferdinand Bernhardi und Friedrich de la Motte Fouqué beteiligten, die alternierend ihre Kapitel zu dem Projekt beisteuerten.

Bereits ein Jahr zuvor erschien im Umkreis der Heidelberger Romantiker eine Doppel- oder Kollektivnovelle als Gemeinschaftswerk von Clemens Brentano und Joseph Görres, das aber eher aus einer Laune heraus entstanden ist. Inspiriert durch eine Zeitungsnachricht konzipierten die beiden Autoren zunächst eine scherzhafte Konzertannoce, die sich unter der Hand aber zu einer arabesken Geschichte ausweitete, weshalb diese schließlich unter dem Titel „Die über die Ufer der Badischen Wochenschrift als Beilage ausgetretene Konzert-Anzeige“ als separates Bändchen bei Mohr & Zimmer publiziert wurde – wie damals üblich: anonym. Die Verfasser versteckten ihre Autorschaft indes im Namen ihres Helden BOGS, der sich aus den ersten und letzten Buchstaben ihrer Nachnamen zusammensetzt: BrentanO/GörreS.

Der Inhalt dieser kleinen Groteske ist rasch erzählt: Der Uhrmacher BOGS will sich bei einer Schützengesellschaft bewerben und muss zu diesem Zweck ein „Selbstbekenntniß über [seinen] Karakter und [seine] Grundsätze“ ablegen, damit die Gesellschaft auf dieser Basis beurteilen kann, ob er einer Aufnahme würdig sei. Aus dem Bekenntnis geht aber hervor, dass der Uhrmacher eine irrational starke Inklination zur Musik besitzt, eine „wahrscheinlich physische Schwäche eines sehr reizbaren etwas zum Trunke geneigten Ohrs“. Die ganz auf bürgerlich-konservative Werte bedachte Schützengesellschaft stellt ihn deshalb auf die Probe: Wenn BOGS einem Konzert beiwohnen könne, ohne davon übermäßig hingerissen zu werden, dann wolle sie ein Auge zudrücken und den musisch-empfindlichen Kandidaten in ihren Kreis aufnehmen.

In Kenntnis seiner unkontrollierbaren Leidenschaft willigt BOGS nur zögernd in das Experiment ein: „Anfangs wollte ich mein Herz und meinen Kopf zu Hause lassen, aber zuletzt mußte ich doch ersters der Courage und letzteren des Hutes wegen mitnehmen.“ Wie befürchtet gerät das Probekonzert zum Fiasko: BOGS lässt sich von der Darbietung nicht nur hinreißen, er beginnt richtiggehend zu derilieren. Er verliert das Bewusstsein, verstrickt sich in Phantasmagorien, sieht bizarre Traumwelten vor seinen inneren Augen vorbeiziehen, und kann sich zwischen den Stücken nur notdürftig an die Uhren klammern, die er als dingfeste Stützen mitgenommen hat, ihm den nötigen Wirklichkeitsrückhalt zu sichern.

Die Bilanz fällt entsprechend kläglich aus: Die Schützengesellschaft verweigert BOGS nicht bloß die Aufnahme, sie zweifelt nachhaltig an seinem Verstand, weshalb der Uhrmacher angeleitet durch Doktor Sphex – der schon in Jean Pauls Titanroman herumgeisterte – einer medizinischen Untersuchung unterzogen wird, die eine anatomische Absonderlichkeit zu Tage fördert: BOGS besitzt einen Januskopf. Auf der Hinterseite, versteckt unter dem Haar, verbirgt sich ein zweites Konterfei, welches als Antipode des armen Uhrmachers für die Schattenseite seiner Vernunft verantwortlich ist, findet sich doch im „Höhlenwerk seines Kopfes“ alle Phantasmagorien wieder, die BOGS während der Konzertvorführung heimgesucht haben, hier aber unter der Schädeldecke fröhliche Urständ feiern.

Als wäre dieser Befund – eine Art Vorfläufermotiv von Dr. Jekyll und Mr. Hyde – nicht schon phantastisch genug, beschließt Doktor Sphex in die seltsam bevölkerte Kopfhöhle hinabzusteigen, „um sich durch den unmittelbaren Augenschein über den eigentlichen Bestand der Sache Auskunft zu verschaffen“. Durch den fremden Eindringling wacht das zuvor eingeschläferte Janusgesicht aber auf und gerät dabei so stark in Rage, dass er mit dem Uhrmacher im Raum herumwirbelt, bis „endlich die Verbundenen durch die Centrifugalkraft des Schwunges von einander ließen“. So kann der Uhrmacher mehr zufällig als durch medizinisches Geschick von seinem Parasiten befreit und endlich „als stiller, gesetzter, sedater Mensch“ in die hochlöbliche Jagdgesellschaft aufgenommen werden.

Soweit die groteske äußere Handlung der Erzählung, die sich rasch als romantische Allegorie entpuppt. Zunächst kann das Janusgeschöpf BOGS, abgesehen davon, dass die Romantik eine Vorliebe für Doppelgänger- und Zwillingsmotive hatte, als Figuration der doppelten Autorschaft von Brentano und Görres selbst angesehen werden. Mehr noch aber lässt sich der Exorzismus, den BOGS über sich ergehen lassen muss, als Konflikt zwischen romantischer und bürgerlicher Weltanschauung lesen. Die nüchterne Seite von BOGS entspricht der bürgerlichen Tugend, während das rückseitige Janusgesicht die Schattenseite der Romantik verkörpert. Die Profession des Uhrmachers ist gewissermaßen auch der Inbegriff des Pedantischen und Philiströsen, das den Romantiker ein Dorn im Auge war, weshalb es in der Erzählung nicht zufällig heißt, die „Prediger aus der neuen romantischen Klique“ hätten „gegen die klassischen Uhrmacher einen Bund geschlossen“.

Die Pointe der Erzählung verläuft indes in umgekehrter Richtung, wenn es darum geht, den Uhrmacher von seinen romantischen Anleihen zu befreien. Ganz zu Beginn, in einer überlangen Annonce der Jagdgesellschaft, die ebenfalls die gutbürgerliche Tradition vertreten und die Verbannung des romantischen Gedankenguts propagieren, werden die Romantiker als „Zifferfeinde und Ungeziefer“ bezeichnet. Kein Wunder setzen solche Zifferfeinde just einem Uhrmacher, der sich ex professio mit Ziffern und Ziffernblättern befasst, besonders hart zu, weshalb es letztlich gilt, dieses romantische Ungeziefer, das leibhaftig seinen Kopf befallen hat, zu entfernen. Ironischerweise steuert gerade im Teil, welcher die Austreibung der Romantik aus dem BOGS'schen Schädel schildert, das Phantastische und Irreale der Erzählung auf eine radikale Klimax zu, dass letztlich doch, wenn nicht auf der Handlungsebene, so doch poetologisch die romantische Ästhetik den Sieg davon trägt.

Freitag, 26. Mai 2017

Friedrich Schiller: Die Räuber (1781)

In seinem Anstoß Zur Geschichte des menschlichen Herzens erzählt Christian Friedrich Daniel Schubart die Anekdote zweier ungleicher Brüder: der eine heißt Carl, ist ein verbummelter, genusssüchtiger Mensch, weshalb er bei seinem Vater zunächst in Ungnade fällt, erweist sich dann aber von rechtschaffener Natur, während der andere Wilhelm, vordergründig ein Musterknabe, sich letztlich als eigennütziger und ziemlich skrupelloser Kerl entpuppt. Er macht sich des versuchten Mordes an seinem Vater schuldig, wovor ihn nur durch Zufall sein verstoßener Sohn retten kann. Schubart leitet seinen kurzen Bericht der angeblich wahren Begebenheit mit den Worten ein: „Hier ist ein Geschichtchen, das sich mitten unter uns zugetragen hat, und ich gebe es einem Genie preis, eine Komödie oder einen Roman daraus zu machen“.

Das Genie, das den Stoff dramatisierte, war der damals zwanzigjährige Friedrich Schiller. Er liess sich davon für sein erstes Stück Die Räuber inspieren, das 1781 anonym und im Selbstverlag erschienen ist – und erst später und unter erheblichen, nicht autorisierten Veränderungen uraufgeführt wurde. Beim publizierten Text handelt es sich also um ein Lesedrama, das in erster Linie als Buch und nicht für die Bühne konzipiert wurde. In der Vorrede zur ersten Auflage schreibt Schiller: „Nun ist es aber nicht sowohl die Masse meines Schauspiels als vielmehr sein Inhalt, der es von der Bühne verbannet.“ Inhaltlich stehen die beiden Brüder Karl und Franz Moor im Zentrum, die aus unterschiedlichen Beweggründen die Gesetze überschreiten und zu grausamen Verbrechern werden, wobei Franz der moralisch verworfene Gegentypus zum edlen oder „erhabenen Verbrecher“ Karl Moor markiert.

Franz, der zweitgeborene Sohn des Grafen von Moor, fühlt sich gegenüber dem charismatischen und viel attraktiveren Bruder Karl fürs Leben benachteiligt, weshalb er gewillt ist, diese naturgegebene Hintansetzung eigenmächtig aus dem Weg zu räumen, indem er eine Intrige gegen den Bruder in die Wege leitet. Er lässt seinem greisen Vater die falsche Nachricht von der Verworfenheit seines Sohnes Karl zukommen, worauf dieser Karl verflucht und aus Gram über dessen Lebenswandel dahinsiecht. Tatsächlich will der skrupellose Franz nichts anderes, als den Tod seines Vaters zu forcieren, um das Erbe baldmöglichst anzutreten. Er besitzt ein „Gewissen nach der neuesten Façon“, das wie die Beinschnallen an den Hosen beliebig – also bis zur absoluten Gewissenlosigkeit – erweitert werden kann und auch den versuchten Mord nicht ausschließt. Franz ist der ganz große Schurke, der in seiner Verzweiflung letztlich sogar gegen Gott frevelt.

Karl dagegen agiert nicht weniger grausam, allerdings nicht aus genuiner Unmoral, sondern aufgrund einer existenziellen Enttäuschung. Wie Schiller in seiner Selbstbesprechung zum Stück schreibt, steigert sich bei Karl eine „Privatverbitterung“ in „Universalhaß gegen das ganze Menschengeschlecht“. Dass ihn sein Vater (aufgrund des Ränkespiels von Franz) verstößt, veranlasst Karl (da er nichts von der Intrige weiß und sich den Zorn des Vaters also nicht erklären kann) impulsiv alle gesellschaftlichen Bande aufzukündigen und als mordender und brandschatzender Räuberhauptmann in die böhmischen Wälder zu ziehen. Trotz seiner Untaten verliert Karl sein Ehrgefühl nicht. Im Unterschied zum niederträchtigen Kumpanen Spielmann geht es ihm nicht um Spaß an der Sache, vielmehr versteht er sich als Rächer an einer dekadenten Welt: „Sag ihnen, mein Handwerk ist Wiedervergeltung – Rache ist mein Gewerbe.“

Karl wie Franz, so unterschiedlich auch ihre moralische Verfassung beschaffen ist, sind beides typische Sturm-und-Drang-Figuren, welche sich von den sozialen Fesseln losreißen und mit allen Kräften ins Unbedingte vordringen wollen. Nicht zufällig erwähnt Karl gleich zu Beginn den „Prometheus“, die Galionsfigur des Sturm-und-Drang, um aber festzustellen, dass der „lohe Lichtfunke“ von ihm heutzutage ausgebrannt sei, weil die Zivilisation alles Große und Erhabene im Keim ersticke: „Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug gewesen wäre.“ Genau so, mit exakter derselben Wortwahl, fühlt sich auch Franz an die äußeren Umstände gebunden, die er überwinden will: „Soll sich mein hochfliegender Geist an den Schneckengang der Materie ketten lassen?“ Beide sind sie Kraftmenschen, welche die lähmenden gesellschaftlichen Konventionen zugunsten einer absoluten Freiheit für sich aushebeln wollen. Das Stück zeigt aber, das radikale Freiheit letztlich nur in neuer Barbarei enden wird.

Schillers Räuber sind Ausdruck des aufklärerischen Interesses an der Natur des Verbrechens. Die Vorstellung, dass der Mensch von Natur aus böse sei, wie es Thomas Hobbes etwa mit seiner Formel von homo homini lupus noch postuliert hatte, war aus aufklärerischer Sicht, die von einem humanistischen Ideal ausging, unhaltbar. Entsprechend richtete man die Aufmerksamkeit auf die sozialen Umstände, unter denen ein Mensch auf die schiefe Bahn gerät und in die Kriminalität getrieben wird. Ein ganz ähnliches Anliegen verfolgte Schiller auch in der fast gleichzeitig entstandenen Erzählung Der Verbrecher aus verlorene Ehre (1786). In der programmatischen Einleitung fordert Schiller eine Art Linné'sches System, welches das Menschengeschlecht „nach Trieben und Neigungen klassifizierte“, um die innern Beweggründe des menschlichen Handlens besser zu verstehen: „An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr als an seinen Taten, und noch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken als an den Folgen jener Taten.“

Diese Absicht führt jedoch mit sich, dass man das Laster dem Leser in all seinen Facetten vor Augen führen, ja nachgerade eine „Leichenöffnung“ des Lasters veranstalten muss, um das Entsetzliche verständlich zu machen. Vor diese Herausforderung sieht sich der junge Dramatiker auch im Schauspiel Die Räuber gestellt, weshalb er in der Vorrede zum Stück die berechtigte Befürchtung ausspricht, dass es vom unverständigen „Pöbel“ in seiner Intention diametral als „Apologie des Lasters“ missverstanden werden könnte, was doch als abschreckendes Beispiel gedacht sei: „Wer sich den Zweck vorgezeichnet hat, das Laster zu stürzen und Religion, Moral und bürgerliche Gesetze an ihren Feinden zu rächen, ein solcher muß das Laster in seiner nackten Abscheulichkeit enthüllen und in seiner kolossalischen Größe vor das Auge der Menschheit stellen“.

Schiller formuliert darin eine Absicht, die er wenige Jahre später in seinem Aufsatz Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet (1784) theoretisch weiter ausführen wird, u.a. unter direkter Bezugnahme auf sein Stück Die Räuber, das er in einer Reihe mit Shakespeare und Molière erwähnt, was nicht zuletzt auch ein Licht auf das keineswegs geringe Selbstverständnis des jungen Schiller wirft. Wie die genannten Vorgänger so will auch Schiller den Menschen in all seinen erschreckenden Abgründen auf die Bühne stellen, um dem Publikum den Spiegel vorzuhalten, damit es die eigenen Schwächen im Schicksal der tragischen Figuren erkenne. Zwar räumt Schiller ein, dass ein Franz oder Karl Moor auf der Bühne faktisch keinen Verbrecher bekehren könne; der Wert des Schauspiels liege aber darin, dass man mit diesen Abirrungen des menschlichen Daseins bekannt gemacht werde, um im richtigen Leben davor gewappnet zu sein. Dem Schrecken auf der Bühne spricht Schiller somit eine humanisierende Wirkung zu.

Schiller präsentiert mit den Räubern ein Drama in grellen Farben, mit drastischen Szenen und liefert mit dem Aufsatz über die Schaubühne als moralische Anstalt zugleich eine Begründung für diese Ästhetik des Bösen nach. Interessanterweise geht Schiller – anders als in heutigen Debatten über den angeblich negativen Einfluss von Gewaltdarstellungen – in keinem Punkt von der Annahme aus, dass der Zuschauer zur Imitation angestiftet werden könnte. Im Gegenteil glaubt Schiller, dass letztlich „Menschlichkeit und Duldung“ durch „Rührung und Schrecken“ bewirkt werde. Der „kühne Verbrecher“ dient „zum schauervollen Unterricht“ und soll im Zuschauer entsprechenden einen „heilsamen Schauer“ hervorrufen, der an die Tugend appelliert. Das ist freilich eine Überzeugung, die aus dem Optimismus der Aufklärung heraus gedacht wurde. Dass Schreckens- und Gewaltdarstellungen den Menschen moralisch bessern, ist wohl ebenso idealistisch, wie die gegenteilige Vermutung, dass sie ihn verderben, unnötig fatalistisch ist.