Sonntag, 16. April 2017

Fritz Michaelis: Des Kammerdieners Erasmus nachgelassenes Tagebuch (1913)

Diese im Verlag von Erich Reiss erschienene Sammlung von zwanglosen Betrachtungen und Essays, teilweise in Tagebuch- oder auch in Briefform, ist eine leicht durchschaubare Herausgeberfiktion. Interesse verdient vor allem die pseudoeditorische Notiz des Herausgebers: Sie nimmt gewissermaßen Max Brods Umgang mit Kafkas ambivalenter Nachlassverfügung vorweg. Kafka bat seinen Freund zwar darum, sämtliche in seinem Nachlass befindliche Schriften zu vernichten, hinderte ihn aber nicht an der Lektüre. So sieht sich auch Fritz Michaelis in der selbst verliehenen Rolle als Herausgeber vor die Frage gestellt, wie ernst er den letzten Willen des Kammerdieners Erasmus nehmen soll: „Nach seinem ausdrücklichen Geheiss sollte ich sowohl sein Tagebuch wie auch alle noch vorhandenen Betrachtungen vernichten. Da aber bei meinem Freunde Erasmus die Worte nie restlos Ausdruck seiner Wünsche waren, glaube ich sein Vertrauen nicht zu missbrauchen, wenn ich hiermit der Öffentlichkeit vorlege, was ich an beschriebenen Papieren in seinem Schreibpult gefunden habe.“

Ganz ähnlich argumentierte damals auch Max Brod. Im Unterschied zu Kafkas nachgelassenem Werk aber sind die Erasmischen Aufzeichnungen nicht in den Olymp der Weltliteratur aufgestiegen, sondern müssen als Gelegenheitsdichtung verbucht werden, die heute gänzlich unbekannt sind und vermutlich schon bei Erscheinen keine allzu hohen Wellen schlugen. Dazu sind die Prosaminiaturen zu sehr der Buntschriftstellerei verpflichtet. Auffälligerweise wird in einem Stück des Büchleins aber gerade ein gegenteiliges Werkideal vertreten. Es wird dort der Wunsch geäußert, ein Buch zu schreiben, das „nie Manuskript“ war. Das heißt: ein Buch, dem man die Anstrengung seiner Entstehung nicht anmerkt, weil es wie ein organisch gewachsenes Gebilde anmutet. Mit einer Herausgeberfiktion ist ein solcher Eindruck natürlich schwer zu erreichen: Hier wird ja vielmehr das lose papierne Potpourri deutlich vor Augen gestellt. Allerdings ist das Büchlein wiederum auch sehr schön, fast edel gestaltet mit einer Einbandzeichnung von Szafran und einem luftigen Satzspiegel, so dass auch die einzelnen Texte dadurch an erlesenem Glanz gewinnen, als hätte man eine Sammlung von Kleinoden vor sich.

Was die einzelnen Betrachtungen und kleineren Essays neben der rahmenden Schatulle der buchdruckerischen Gestaltung miteinander verbindet, ist die Erzählerfigur des Erasmus, der natürlich nicht zufällig so heißt wie der große Humanist aus Rotterdam. Der Erzähler beruft sich dabei auf die Worte, wie der Rotterdamer in den Dunkelmännerbriefen vorgestellt wird: Erasmus est homo pro se – Erasmus ist ein Mensch für sich. Mit diesem intertextuellen Hinweis ist die freigeistige Stoßrichtung des Büchleins angezeigt, die sich allerdings nur sehr milde artikuliert. Und zwar durch die erzählende bzw. schreibende Dienerfigur, welche die Welt aus einer subalternen und damit immer schon 'schrägen' Sichtweise betrachtet und dadurch dem menschlichen Alltag eigenwillige Seitenblicke abgewinnt. So gefällt sich Erasmus auch als Dialektiker vom Dienst, der die bestehenden Werte dezent umwertet, wenn er etwa seinen Beruf zu einer höheren Kunst zu stilisieren versucht: „Wer nicht zum Kammerdiener geboren ist, kann allenfalls das ABC unserer Kunst ausüben; im Interesse der Vollkommenheit sei ihm aber zu einem weniger aristokratischen Berufe geraten.“ Dieser eigentlich unstandesgemäße Standesstolz, der mit einer Nobilitierung des Lakais einhergeht, erinnert entfernt an Jakob von Gunten, ebenso Erasmus' Plan, eine Dienerschule zu eröffnen. Gut möglich, dass Michaelis den Roman von Walser kannte und sich durch ihn zur Figur des tagebuchschreibenden Dieners hat inspirieren lassen.

Die Stücke geben sich wechselnden Ansichten und Lebensweisheiten hin, mal eher humoristisch, dann wieder mit etwas mehr Tiefgang, und vermitteln en passant auch ein paar biographische Angaben zur Dienerfigur Erasmus und seinen Anstellungsverhältnissen. Meistens kreisen die Briefe und Tagebuchauszüge aber um sich selbst. Enthalten sind auch zwei Hommagen an Johannes Burckard (1450-1506) und Fürst Pückler-Muskau (1785-1871), die beide bedeutende Tagebuch- bzw. Briefschreiber waren. Der vatikanische Zeremonienmeister Burckard hielt in seinem Liber notarum mit dokumentarischer Unvoreingenommenheit das Leben am Hof der Päpste fest, darunter die dekadenten Ausschweifungen eines Cesare Borgia, weshalb sie auch als chronique scandaleuse der römischen Kurie gelten. Erasmus lobt die Nüchternheit des Protokollstils: „Denn er hat hier nur ein Amt und keine Meinung.“ Pückler-Muskau wiederum hat mit den Briefen eines Verstorbenen seinen literarischen Ruhm begründet – zumindest zu Lebzeiten, als zunächst noch Goethe als Verfasser der Briefe vermutet wurde. Während der Fürst für seine 'Parkomanie', seine fanatische Gartenbaukunst, noch landläufig bekannt ist, ist es als Schriftsteller ruhig um ihn geworden. Doch Erasmus hält die Erinnerung an den Vergessenen in stiller Verehrung hoch, denn er blickt zweifelsohne ein Vorbild im Fürsten, bedenkt er ihn doch mit dem gleichen Zitat wie auch sich selbst: homo pro se.

Montag, 10. April 2017

Julian Barnes: England, England (1999)

Zweimal England im Titel: das ist programmatisch. Denn zum einen geht es um eine künstliche Verdoppelung des britischen Königreichs und seiner Sehenswürdigkeiten, zum anderen handelt es sich bei dem Roman um eine Nationalsatire. Im Zentrum des Geschehens steht ein geplanter und schließlich realisierter Freizeitpark auf der Isle of Wight, wo das kulturelle Erbe Englands mit allen Hilfsmitteln der Kopierkunst nachgebaut und nachgespielt wird. Eine Art historisches Disneyland für Touristen, die sich die mühsame Reise zu den Originalschauplätzen ersparen wollen. Als letzte große Idee vor seinem Ruhestand setzte sich der megalomane – mit einer exzentrischen Vorliebe für ausgefallene Hosenträger auftretende – Unternehmer und Beethoven-Liebhaber Sir Jack Pitman das Vorhaben, das er gleichsam seine Neunte Symphonie nennt, in den Kopf. Um sie in die Tat umzusetzen, schart er ein illustres Team um sich, dem auch Martha Cochrane angehört, der eigentlichen Protagonistin des Romans.

Marthas Geschichte erfährt man gleich zu Beginn im ersten der drei Teile. Schon als Kind baute sie gerne England in Form eines Puzzles zusammen, wobei ihr Vater jeweils ein Stück versteckte, um es zur Freude der Tochter wieder hervorzuzaubern. Doch eines Abends taucht weder das Puzzlestück noch ihr Vater wieder auf. Erst allmählich begreift das kleine Mädchen, dass er und ihre Mutter sich getrennt haben. Während Martha zuerst die Schuld bei sich und dem verlorenen Stück England sucht, erklärt ihr die Mutter später, dass alle Männer entweder Schwächlinge oder Schurken sind. Mit dieser Erkenntnis reift sie zur supertoughen Frau heran und tritt Jahre später in den Dienst von Sir Jack, um ihm bei der Umsetzung seines wahnwitzigen Projektes zu unterstützen. In einem koketten Vorstellungsgespräch gewinnt sie nicht nur die Gunst des Tycoons, sondern auch das Herz seines zunächst gänzlich unscheinbaren „Ideenfängers“ Paul.

Der zweite Teil schildert die Liebesbeziehung zwischen der forschen Martha und dem ansonsten devoten Paul, die aber bald von Sir Jack entdeckt und missbilligt wird. Zufällig entdecken die beiden aber ein pikantes Geheimnis ihres Arbeitgebers und schwören auf Rache. Sir Jack besitzt eine starke Neigung zur Autonepiophilie. Er besucht regelmäßig das Etablishement von Auntie May, um dort unter der liebevollen Behandlung von Hebammen den Säugling bis zum errogenen Höhepunkt zu mimen. Ausgerechnet der Erfinder der künstlichen Realitätsverdoppelung findet Befriedigung in der Simulation des kleinkindlichen Urzustandes! Dadurch hochgradig erpressbar, muss er die Leitung des überaus erfolgreichen Freizeiparks an seine beiden Mitarbeiter abtreten. Doch bald wächst ihnen der Erfolg über den Kopf. Das Konzept des duplizierten Englands funktioniert so gut, dass einzelne Angestellte sich mit ihrer historischen Rolle zu identifizieren beginnen und zwar mit allen schlechten Eigenschaften. Die Nachahmer werden immer mehr zu Originalen, die man im beschönigten Abbild gar nicht haben will.

Der Erfolg treibt auch einen Keil in die Beziehung zwischen Paul und Martha, die sich überdies zu einem Samuel-Johnson-Double hingezogen fühlt respektive zum historischen Samuel Johnson, zu dem das schizophrene Double unterdessen gewandelt hat. Paul fällt ihr aus Eifersucht in den Rücken, macht wieder gemeinsame Sache mit seinem Chef Sir Jack, der Martha schließlich fristlos kündet und von der Insel verbannt. Nach jahrelangem Reisen kehrt sie - im dritten und letzten Teil des Romans - zurück nach Anglia, wie das mittlerweile in einen vorindustriellen Naturzustand regredierte Old England genannt wird. Der Roman endet also mit einer Dystopie: Das alte England ging an der Konkurrenz des erfolgreichen Inselklons zu Grunde. Der Staat brach zusammen und zerfiel in versplitterte Dorfgemeinschaften, wo sich die Bewohner noch darin gefallen, kulturlose Bauerntrottel zu spielen. Doch bald regt sich auch in diesen Siedlungen wieder der Wunsch nach Vergangenheit und einem kulturellen Erbe, das verbindet und die kollektive Identität stärkt. Martha, die unterdessen eine „alte Jungfer“ geworden ist, initiiert als erste rituelle Gedächtnishandlung ein jährlich stattfindendes Dorffest, um dieser „Bitte um Erinnerung“ nachzukommen.

Der Roman umkreist die Frage nach dem Verhältnis von Original und Kopie in einer Welt, wo das Simulacrum längst die Stelle des vermeintlich Authentischen eingenommen hat. Ebenso thematisiert er die Echtheit von Erinnerung, die auch nichts anderes als mehr oder weniger zuverlässige Rekonstruktionen eines entzogenen Ur-Ereignisses sind. Das gilt sowohl für die persönliche Gedächtnisleistung der Protagonistin Martha Cochrane, die mit dem Bonmot eingeführt wird, sie könne sich nicht an ihre erste Erinnerung erinnern; das gilt aber ebenso fürs kollektive oder kulturelle Gedächtnis der Nation, das vom jeweiligen Zeitgeist geformt und entsprechend auch verfremdet wird: „Bei den meisten Menschen waren die Erinnerungen an die Geschichte genau so dünkelhaft und zugleich flüchtig wie die an die eigene Kindheit.“ Und doch ist Erinnerung, worauf im Roman auch verwiesen wird, ganz entscheidend für die persönliche und kulturelle Identität. Der Roman führt somit in einer Art Gedankenexperiment vor, wie die Identität eines Landes (sowie einer Person) zerfallen kann, wenn die Erinnerung an die eigene Vergangenheit manipuliert oder ihr gar genommen wird.

Irgenwie ist das Lesefrüchtchen mit dem Roman trotz allem nicht richtig warm geworden. Dem Werbeslogan der Weltwoche auf dem hinteren Buchdeckel kann es jedenfalls nicht bedingungslos zustimmen: „Lesen Sie einen Roman von Barnes, und Sie wollen alle lesen.“ Die Idee einer künstlich verdoppelten Nation ist vom Grundgedanken her zwar witzig und hätte Anlass für eine vertiefte Problematisierung von Erinnerungspolitik und nationaler Mythenbildung geboten, ist in der Ausführung aber zu wenig fokussiert und viel zu englisch, englisch geraten. Jedenfalls zündet nicht jede Anspielung auf die britische Geschichte und Mentalität. Hingegen gibt es auch parodistisch glänzende Passagen, wie wenn der Historiker Dr. Max über Seiten hinweg den pseudowissenschaftlichen Erweis erbringt, dass es sich bei „Robin Hood und seiner fröhlichen Schar“ um „eine Horde von ... warmen Brüdern“ gehandelt habe. Hier wird nicht nur ein Nationalmythos gegen den Strich gebürstet, sondern auch das Argumentarium der gender studies mit hämischer Freude an die Wand gefahren. Solche Stellen entschädigen das Lesefrüchtchen wieder für manch harzige Lektürestunde.

Mittwoch, 5. April 2017

Georges Manolescu: Gescheitert (1905)

Diese Memoiren des rumänischen Gentleman-Verbrechers und Hochstaplers Georges Manolescu haben Thomas Mann zu seinem Roman Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull inspiriert. Manolescu schildert mit Lakonie und entwaffnendem Ehrgefühl seine Karriere als Betrüger. Wie bei allen Hochstaplern so sind auch Manolescus Betrügereien bloß Mittel zum Zweck. Sein designiertes Ziel ist der soziale Aufstieg in die bessere Gesellschaft. Umsetzen will er diesen „Wunsch nach Luxus und Glanz“ durch eine reiche Heirat, wozu er sich aber erst ein Startkapital erwirtschaften muss. Bevor er als Heiratsschwindler in Erscheinung treten kann, betätigt er sich zunächst als Juweliers- und Hoteldieb quer durch Europa, um „endlich die spröde Fortuna in [s]eine Arme zu schließen“. Auch im Casino versucht er sein Glück mehrmals, verliert dort aber sein Geld schneller, als er es sich durch weitere krumme Touren wieder beschaffen kann.

Ohnehin ist der Betrüger öfters auch der Betrogene. Er wird von Frauen hintergangen und landet für kurze Zeit mehrfach im Gefängnis. Zuletzt wird er von der Polizei bei einer Großfahndung geschnappt und zu einem langjährigen Strafaufenthalt verdonnert. Er versucht durch simulierten Wahnsinn dem Kerker zu entgehen, gerät dabei aber vom Regen in die Traufe, nämlich in die geschlossene Berliner Irrenanstalt Herzberge, aus der es angeblich kein Entrinnen gibt. Manolescu – der seit seiner „zartesten Jugend“ das Wort „unmöglich“ aus seinem „Wörterbuch“ gestrichen hat – gelingt jedoch die Flucht aus der Anstalt, begeht seinen letzten Coup in Dresden, um sich mit der Beute über die Landesgrenze in Freiheit zu setzen. Über diverse Umwege trifft er schließlich in New York ein, wo er sich mit ehrlicher Arbeit eine neue Existenz aufbaut.

Manolescu erzählt keine Erfolgsgeschichte, sondern den sukzessiven Niedergang seiner Hochstapelei – trotz erheblichem Geschick in List und Trug. Das erklärt den Titel „Gescheitert“ und macht Manolescu als Antihelden sympathisch. Er agiert nicht aus Schadenfreude oder Niedertracht betrügerisch, sondern weil sich in der modernen Gesellschaft genug blauäugige Bauernopfer finden. Sein Motto lautet: „Mundus vult decipi, oder deutsch: Die Dummen werden nicht alle.“ Die Welt will betrogen sein – so lautete bereits die Maxime im barocken Schelmenroman Die drei ärgsten Erznarren (1672) von Christian Weise. Tatsächlich besitzt der Hochstapler mit der Frivolität, wie er sich über soziale Konventionen hinwegsetzt, gewisse Charakterzüge des Pikaro. Er ist schlau, gewandt und weiß sich zu seinem Vorteil in der Welt zu behaupten. Insofern ist er auch eine sozialkritische Figur, weil er durch seine trügerische Mimikry den falschen Schein der Gesellschaft entlarvt.

Der eigentliche Witz dieser Memoiren besteht aber darin, dass sie nur bedingt der Wahrheit entsprechen. Vielmehr setzt Manolescu seine Hochstapelei auch als Autor fort. Ja mehr noch: Er bescheinigt sich eine Genialität als Langfinger und sozialer Blender, die er in Tat und Wahrheit gar nicht besaß. Wie der Kriminalpsychologe Erich Wulffen nachgeprüft hat, war Manolescu ein höchst mittelmäßiger Scharlatan, der kein besonderes Renommee besaß. Den Ruf des genialen Meisterdiebs erschrieb er sich also förmlich bzw. erschwindelte sie mit den Mitteln der Literatur. Erst durch die in Deutschland äußerst erfolgreiche Buchpublikation wurde er zu dem „Jahrhunderthochstapler“, als der er heute noch bekannt ist. Dabei hatte sein Verleger, der den auf Französisch diktierten Text rasch und relativ frei auf Deutsch übersetzen ließ, ein hohes kommerzielles Interesse an den Memoiren, die gut dem damaligen Publikumsinteresse nach dem Typus des Edelverbrechers (wie Raffles in England oder Arsène Lupin in Frankreich) entsprachen. Der Verkaufserfolg gab ihm recht und verschaffte Manolescu, so paradox es klingen mag, eine bloß angetäuschte Karriere als Hochstapler.

Montag, 3. April 2017

Mara Genschel: Cute Gedanken (2017)

Das Lesefrüchtchen ist – mit Walter Benjamin gesprochen – ein genießendes Prosawesen; mit Lyrik hat es entsprechend wenig am Hut. Aber gerade in jüngerer Zeit sind einige interessante Lyrikproduktionen erschienen, und die roughbooks sind für solche Entdeckungen stets eine gute Adresse. Hier wagt man Experimente, ohne dass der Lesegenuss flöten geht. Hier wahrt man formalen und literarischen Anspruch und vergisst trotzdem nicht den Spaß dabei. Das gilt auch für die aktuelle Nummer 042 der Reihe: Cute Gedanken von Mara Genschel. Die Autorin macht dabei von einer alten Avantgardepraxis Gebrauch: der Einbindung von Fehlern und Pannen in den kreativen Prozess. Hans Arp gestaltete zum Beispiel seine Manuskripte unleserlich, damit die Setzer beim Entziffern ihre Phantasie spielen lassen konnte. Und Dieter Roth ließ seine Scheisse-Gedichte in Providence von amerikanischen Studenten drucken, die kein Deutsch konnten und so unfreiwillig Tippfehler produzierten.

Bei Mara Genschel sind es keine amerikanischen Studenten, aber ein amerikanisches Mobiltelefon, dessen Korrekturfunktion automatisch die deutschen SMS umschrieb, so dass zuweilen ein kurioses Esperanto entstand. Vom Sprachklang her zwar immer noch verständlich, eröffnen die amerikanisierten Einsprengsel oft eine zweite Bedeutungsebene. Das beginnt schon im Titel: Hinter Cute Gedanken schwingen lautlich noch „Gute Gedanken“ mit, liest man hingegen die englische Bedeutung dazu, dann sind es auch „Niedliche Gedanken“. So differieren Wortklang und Wortbedeutung oft und erzeugen eine gewisse semantische Spannung oder Unschärfe, die manchmal nur komisch ist (weil es wie die Parodie eines heavy american accent klingt: das Lesefrüchtchen hatte bei der Lektüre irgendwie immer Shawne Fielding im Ohr), manchmal aber auch hintersinnig sein kann – wie bspw.: „Later porose Begriffe, auf Miss vers transmission erbaut.“ Manchmal gelingen sogar richtige poetische Miniaturen: „It doesn't look as crazy as you | think, sagt Mir Ruel und mein | meinen traurig verschmierten | Lippenstift I'm Gruppenbild.“

Die SMS-Form mit seiner Zeichenzahlbeschränkung erinnert zudem an das japanische Kurzgedicht Haiku. Wie dieses so ist auch Genschels SMS-Lyrik aus dem Alltag gegriffen. Sie dokumentiert ihren offenbar etwas tristen Aufenthalt als writer in residence in Iowa. ('Auweia' hat nun meine deutsche Tastatur fast daraus gemacht.)

Freitag, 31. März 2017

Penelope Ashe: Nackt kam die Fremde (1960)

Hinter dem Pseudonym Penelope Ashe verbirgt sich ein Autorenkollektiv von 24 Journalisten, die auf die Initiative der beiden Berufskollegen Harvey Aronson und Mike McGrady gemeinsam den Nachweis erbringen wollten, dass sich Schundromane besonders gut verkaufen. Deshalb schrieben sie eine Art Fifty Shades of Grey avant la lettre: ein schlechtes Buch mit viel Expliziterotik. Bloß ist dieser Versuch nur halbwegs gelungen. Nicht dass der Roman kein Erfolg gewesen wäre, im Gegenteil; nur ist er keineswegs so unterirdisch mies, sondern zeugt – unbesehen der intendierten Trivialität – von hoher literarischer Könnerschaft. Jedenfalls ist es nicht so, dass der Roman (wie es am Schluss selbstbezüglich heißt) die „ganze Literatur umgebracht“ hätte. Man merkt dem Text fast in jeder Zeile die Intelligenz seiner Verfasser an, die sie offenbar nicht gänzlich wegstecken konnten: Der Text besticht durch Witz, cleveres Storytelling, psychologisch plausible Figurenzeichnung, typisch gut erfasste Charaktere, Sprach- und Situationskomik und natürlich Pennälerhumor am Laufmeter. Trotz oder gerade wegen der ostentativen Überbietung des guten Geschmacks offeriert der Roman für ironisch geschulte Leser ein wahres Lektürevergnügen. Man merkt: Die Autoren kennen den Menschen und seine niederen Beweggründe bestens.

Im Zentrum der Handlung steht Gillian Blake, die zusammen mit ihrem Mann William Blake seit acht Jahren erfolgreich eine Radioshow moderiert, in der sie beide als makelloses Vorzeigepaar figurieren. Nur leider entdeckt Gillian eines Tages, dass William fremdgeht, worauf sie beschließt, es nicht bloß ihrem Gatten, sondern gleich der gesamten Männerwelt heimzuzahlen, nicht ohne dabei selbst auf ihre Kosten zu kommen. Und so zerstört sie die Ehen in der Nachbarschaft ihres Wohnortes King's Neck, indem sie die Männer unterschiedslos der Reihe nach verführt, vernascht und schließlich auch moralisch vernichtet. Sie treibt es nicht nur mit jedem, sondern treibt auch jeden entweder in den Ruin, den Wahnsinn oder in den vorzeitigen Tod. Gillian ist mehr als nur eine Femme fatale, der die Herren der Schöpfung bedingungslos erliegen, sie erweist sich auch als Vagina dentata, die ihre Sexualpartner nachgerade entmannt. Den Schriftststeller, der ihr als letztes Opfer in die Fänge geht, schreibt noch: „Macbeth hat seinen Rivalen bekanntlich im Schlaf ermordet“. Man könnte da frivolerweise hinzufügen: dasselbe hat Gillian im Beischlaf getan. Jedes Kapitel ist einer neuen Sexattacke der Protagonistin gewidmet und jeweils eingeleitet durch einen dialogischen Auszug aus der Radiosendung mit ihrem Partner, wo sie beide eine heuchlerische Doppelmoral zur Schau tragen.

Wäre das Buch nicht von Männern geschrieben, könnte es glatt als Mustererzählung des Postfeminismus durchgehen. So aber ist der Vorwurf rasch in Reichweite, dass bloß billige Männerphantasien mit dem Motiv des beischlafwilligen Weibes befriedigt werden. Doch greift dieser Vorwurf zu kurz, übersieht er doch, dass alle Männer für das kurze Glück eines Schäferstündchens ganz elendiglich enden: Sie sind allesamt Opfer von Gillian Blake, die ihre Sexualität nicht nur zur Steigerung ihrer Libido, sondern gezielt auch als Waffe gegen die Männer einsetzt. Insofern ist diese Gillian Blake tatsächlich das Rolemodel für die postmoderne Frau: klug, selbstbewusst, sexy, berechnend und ihrer weiblichen Reize nicht verlegen. Bedenklich scheint nur, dass dieses Frauenbild aus der dezidierten Absicht entstanden ist, schlechte Literatur zu schreiben. Aber schließlich kann all den medialen Formaten heute, die weibliches Selbstbewusstsein mit Körpereinsatz gleichsetzen, auch nicht das Prädikat 'wertvoll' verliehen werden.

PS: Im Pseudonym Penelope Ashe steckt natürlich eine höhere Ironie, da die mythologische Penelope das Sinnbild der treuen Ehefrau ist: Sie wartete und wehrte strickend die Freier ab, bis ihr Gatte Odysseus von seinen jahrelangen Irrfahrten wieder heimkehrte.

Mittwoch, 29. März 2017

Wolfgang Koeppen: Jugend (1976)

Wolfgang Koeppen (1906-1996) gilt als wichtiger Vertreter der deutschen Nachkriegsliteratur. Anstatt aber der zeittypischen Kahlschlagästhetik zu folgen, hat er neue sprachliche Ausdrucksformen erprobt. Auch der spätere, nach einer längeren Schreibpause vorgelegte Prosatext Jugend (der Text trägt keine konkrete Gattungszuweisung) folgt einer experimentellen Erzählweise. Sie zeigt sich allein schon in der – im Impressum eigens erwähnten und damit besonders markierten – eigenwilligen Interpunktion, welche die mehrfach gebrochenen Gedankenbilder und Erinnerungsschlieren syntaktisch verfugt. Marcel Reich-Ranicki zieht auf dem Klappentext Vergleiche zu Joyce, Dos Passos und Döblin. Man könnte zudem auch Der Tod des Vergils von Hermann Broch nennen – wie Jugend ebenfalls ein gewaltiger innerer Monolog. Bei Koeppen handelt es sich um eine ältere männliche Erzählstimme im Rückblick auf die während dem Ersten Weltkrieg verlebte Jugendzeit, die keine sein durfte: „Jugend galt nicht“.

Beim Titel Jugend erwartet man entweder ein Coming-of-Age-Geschichte oder ein Erinnerungsbuch. Koeppens Jugend gehört also zur zweiten Kategorie. Erinnert wird wie bei Marcel Proust - der mit seiner mémoire involonaire offensichtlich Pate gestanden hat - eine verlorene Zeit. Bereits die ersten Seiten beschwören den Lauf der „sichtbar verrieselnden Zeit“. Und auch am Ende des Buchs wird die verflossene Zeit erwähnt, die sich aber „in dem Gedächtnis in irgendeiner Zelle“ des Erzählers sedimentiert habe und dort reaktiviert werden kann. Diese Vorstellung einer körperlich inkarnierten Zeit entwickelt auch Proust am Ende der Recherche à la temps perdu. Bei Koeppen handelt es sich jedoch nicht nur um eine verlorene Zeit, sondern auch um ein verlorenes Paradies, wie ebenfalls gleich zu Beginn deutlich gemacht wird: „Meine Mutter fürchtete die Schlangen.“ Mit der Präsenz von Schlangen ist auch die Vertreibung aus dem Paradies nicht mehr weit.

Tatsächlich weint die genannte Mutter den verflossenen Glanzzeiten ihrer Familie nach. Eine Nostalgie, die ihr Sohn (der Erzähler) nicht teilen kann, und schon damals als Kind nicht teilen wollte. Im Gegenteil: Vielmehr wünschte er der Stadt seiner Herkunft – die unschwer als Rostock identifizierbar ist – die Schlangen nachgerade auf den Hals. Sein Paradies ist denn auch nicht die durch den ersten Weltkrieg zerrüttete Heimat, sondern das Kino, „das Jugendlichen verbotene, schwarzweiße Paradies“. Doch wie schon Adam im biblischen Paradiese, so gehen dem Erzähler im Kino die Augen auf. Es ist ihm als würde er „die Frucht vom Baum der Erkenntnis essen“. Er entdeckt im Lichtspiel den „Schrein der Wahrheit“ und sieht im Dunkeln des Kinosaals „zum erstenmal die Wirklichkeit“. Was da durch die „Sternenstaubbahn“ des Projektors auf die Leinwand flimmert, besitzt einen höheren Wirklichkeitswert als die verlogene Propaganda, welche die Schrecken des Krieges zugunsten der nationalen Glorie konsequent wegzuleugnen sucht.

Als Knabe erlebt der Erzähler die blinde Verehrung, die Bismarck entgegenschlägt, als er die Lange Strasse von Rostock entlang promeniert. Andererseits kennt er auch die ausgeblendete Wirklichkeit: die Niederlage in Verdun, die Kriegskrüppel, die vielen Toten. Ein starkes Fieber rettet den 14jährigen in der Militärschule davor, selber mit an die Front ziehen zu müssen. In einer Art Delirium auf der Krankenstation in der leeren Kaserne vermischt sich die Kriegsrealität mit dem eigenen inneren Kampf gegen die nationale militärische Vereinnahmung. Auch im Fiebertraum sieht er in einer Art visionärem Rausch eine höhere „Wahrheit“ hinter dem „Trugbild der Welt“.

Vermutlich gibt es keinen Roman, der nicht mit einem kleinen Wink wenigstens auf die Mutter aller Romane, auf Cervantes Don Quijote, anspielt. So bezeichnet sich auch der namenlose Ich-Erzähler bei Koeppen einmal als „Ritter von der traurigen Gestalt“. Fügt jedoch an: „Das war lustig.“ Er spielt den Narren bloß. Anders als Don Quijote lebt er nicht in einer verklärten Phantasiewelt, sondern verlacht im Gegenteil die falschen Illusionen der Nachkriegsgesellschaft: „Ich fand sie komisch, wie sie die Augen zusammenkniffen, die Stirn in strenge Falten legten, die eiserne Zeit des Krieges beschworen und die Toten vergessen hatten.“ Gemeinsam mit einem Hypnotiseur spielt er auch „Jesus“, doch geht daraus freilich kein Heilsversprechen hervor. Geschildert wird eine ganz und gar heillose Welt und eine von Anbeginn hoffnungslose Existenz: ohne Jugend und ohne Zukunft. Zum Schluss heuert der Erzähler auf einem Schiff  an und verschwindet. Was aus ihm wurde, bleibt ungewiss.

Dienstag, 21. März 2017

Robert Walser: Jakob von Gunten (1909)

Auch wenn das Lesefrüchtchen der bedingungslosen Walser-Verehrung, die jede Mikrogramm-Kapriole als neuen Geniestreich feiert, mit bedenklicher Skepsis begegnet – eines muss man lassen: Jakob von Gunten (1909) ist ein grandioser Roman, der in einer Linie steht mit Klassikern der Moderne wie Melvilles Bartleby, dem Buch der Unruhe von Pessoa oder Flauberts Bouvard & Pecuchet. Alle diese Bücher warten mit scheiternden, sich verweigernden oder zurückziehenden Antihelden auf, von denen vordergründig auch Jakob einer ist. Erklärt er doch gleich zu Beginn, er wolle im Leben nichts anderes als eine zierliche, kugelrunde Null“ werden. Die fast schon provokative Nonchalance, mit der dieser invertierte Karrierewunsch geäußert wird, lässt aber bereits erahnen, dass es mit Jakobs Bescheidenheit nicht weit her ist, und sich vielmehr ein ausgewaschenes Grossmaul hinter der Parole der Selbstverkleinerung verbirgt.

Der im Untertitel als „Tagebuch“ deklarierte Roman schildert aus der Sicht von Jakob seinen Eintritt und Aufenthalt im Institut Benjamenta, einer merkwürdigen und ziemlich maroden Knabenschule, die ihre Glanzzeiten längst hinter sich hat. Jedenfalls erfährt der Leser mit der ersten Zeile, dass die Zöglinge dieses Instituts fast nichts lernen, weil alle Lehrer entweder fort, tot oder am Schlafen sind. Der Unterricht, der aufgrund der absenten Lehrerschaft von der Schwester des Vorstehers gehalten wird, beläuft sich auf inhaltsleere Exerzitien, die entfernt an monastische Meditationsrituale erinnern. Mit Eintritt von Jakob gerät die Organisation gänzlich aus den Fugen und das Institut geht seinem Untergang entgegen: „Du bist der letzte Schüler gewesen. Ich nehme keine Zöglinge mehr an“, sagt der Vorsteher, bevor er am Ende die Pforten schließt.

Wenn nicht unbedingt eine apokalyptische, so ist Jakob doch eine ganz und gar subversive Figur, die sich lustvoll über die gesellschaftlichen und institutionellen Schranken hinwegsetzt. Für Irritationen sorgt bereits, dass er sich, obwohl (wie er mehrfach betont) aus vornehmen Hause stammend, in der Knabenschule zum Diener ausbilden will. Er wählt also vorsätzlich, doch nur vordergründig einen sozialen Abstieg auf subalterne Stufe, denn insgeheim kokettiert er mit einer mondänen Existenz, wie sie sein Dandy-Bruder, der Künstler Johann, in der Großstadt verwirklicht. So legt Jakob auch im Institut öfters ein hochmütiges, ja freches Gebaren zu Tage, eigens um den Vorsteher zu provozieren. Doch anstatt zum Konflikt kommt es schließlich zu einer Art Verbrüderung zwischen ihm und seinem Schüler. Das Buch endet mit dem Bild, wie beide gemeinsam in die Wüste ziehen: „Ich war immer der Knappe, und der Vorsteher war der Ritter.“ Unverkennbar zeichnet sich da die Silhouette von Don Quijote mit seinem Begleiter Sancho Pansa ab. So liest sich der Roman rückwärts auch als eine moderne Donquijotiade. 

Jakob von Gunten ist Robert Walsers dritter und – im Vergleich mit den beiden Vorgängern – merklich surrealster Roman. Nicht allein, weil er sich einer konventionellen Handlungsführung relativ konsequent verweigert. Mit dem Institut Benjamenta scheint man auch eine Parallel- oder Traumwelt zu betreten, in der die gewohnte Alltagslogik außer Kraft gesetzt wird. Tatsächlich hintersinnt sich Jakob mehrmals, ob er nicht etwa alles nur träume, mehr noch kommt ihm sein „ganzer hiesiger Aufenthalt wie ein unverständlicher Traum“ vor. Unverständlich ist vieles, aber zugleich alles auch ungeheuer bedeutungsschwanger. Allein die zahlreichen biblischen Sub- und Intertexte rufen geradezu nach einer Interpretation. Doch vielleicht ist man am besten beraten, wenn man es wie Jakob mit seinen Träumen hält: „Ah bah, laß das Deuten.“ Auf der anderen Seite ist der Roman wieder so durchtrieben komponiert, dass wohl tatsächlich nichts unbedeutend ist und selbst dem scheinbar belanglosen Detail ein Sinn abzugewinnen wäre. Wie auch immer: Auf jeden Fall handelt es sich um jene Kategorie von Romanen, die nie ausgelesen werden können, weil sie bei jeder Lektüre wieder neue Einsichten eröffnen.