Dienstag, 13. Februar 2024

Nikolaj Gogol: Die toten Seelen (1842/1852)

Es ist ein merkwürdiger Handlungsreisender, dieser Pawel Iwanowitsch Tschitschikow: In seiner Troika (seinem Dreigespann) zieht er von Landgut zu Landgut durch die russische Provinz und versucht die Gutsbesitzer davon zu überzeugen, ihm 'tote Seelen' zu einem geringen Preis zu verkaufen oder gar zu schenken. Gemeint sind sogenannte "Revisionsseelen", das heisst alle steuerrelevanten und daher auf der Revisionsliste geführten leibeigenen Bauern der Gutsbesitzer. Da diese Listen bis zur nächsten Revision unverändert gültig bleiben, müssen die Gutsherren auch für inzwischen bereits verstorbene Bauern Kopfsteuern bezahlen. Der listige Tschitschikow will sie deshalb von dieser Steuerlast befreien, indem er ihre toten Seelen vertraglich übernimmt, jedoch nicht aus purem Altruismus, sondern um sich selbst den Anschein eines vermögenden Herren, der über hunderte von Leibeigenen gebietet, zu geben und sich damit die nötige Kreditwürdigkeit zu verschaffen. Denn seit seiner Jugend träumt der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Tschitschikow davon, ein eigenes Landgut zu besitzen.

Ein Grossteil der Romanhandlung besteht darin, Tschitschikow auf seinem Weg von Gutshof zu Gutshof zu folgen, was mit der Zeit repetitiv und daher auch ermüdend wirkt. Das einzige Spannungsmoment liegt in der lange unbeantworteten Frage nach der Motivation Tschitschikows, tote Seelen zu kaufen. Das erfährt der Leser erst zum Schluss des ersten (und einzig vollendeten) Teils, wo der Autor in einer riesigen (und in dieser Dimension wohl einmaligen) Analepse den gesamten Werdegang des Helden nacherzählt, nachdem man ihm bereits quer durch halb Russland gefolgt ist.

Diese Ausgangslage bietet dem Erzähler jedoch die Gelegenheit, der Reihe nach verschiedene Sozialcharaktere vorzuführen und sich in mitunter weit ausholende Exkurse teilweise auch satirischer Art über Land und Leute zu ergehen. Einer dieser Exkurse nutzt der Erzähler auch für eine poetologische Rechtfertigung des gesamten Romanunternehmens, das keine positiven Helden aufweisen kann. Im Gegenteil, Tschitschikow begegnet Antitypen jeglichen Couleurs: Lügnern, Betrügern, Neppern, Prahlköpfen, Geizigen wie Verschwendern - und auch er selbst ist als Hochstaplerfigur keineswegs ein Vorzeigeheld im klassischen Sinn. Auch von den gesellschaftlichen Zuständen schildert der Roman alles andere als ein harmonisches Bild: Nepotismus und Korruption sind an der Tagesordnung, wie auch das Paradestück einer Amtssatire zeigt, wie man sie erst wieder bei Franz Kafka lesen wird, wo die Absurdität, der Leerlauf und nicht zuletzt auch der Filz eines gigantischen Verwaltungsapparats auf die Schippe genommen.

Der Erzähler schätzt jene Schriftsteller glücklich, welche "an allen langweiligen oder gar abstoßenden und in ihrer Erbärmlichkeit kränkenden Charakteren vorübergehen" und sich jene Personen aussuchen könne, "welche die wahre menschliche Würde zur Geltung bringen", um der Leserschaft "das Idealbild des Menschen" vor Augen zu führen. Die anderen Schriftsteller hingegen, die das Wagnis auf sich nehmen, das zu zeigen, was man lieber geflissentlich übersieht, nämlich den "ganzen Leerlauf der kalten, innerliche zerrissenen, alltäglichen Charaktere, die uns auf unserer bitteren und oft öden irdischen Bahn bedrängen", diese Schriftsteller haben einen viel schwierigeren Stand, weil Kritiker nur allzu rasch vom Inhalt auf den Verfasser schliessen. Zweifelsohne zählt sich auch der Gogolsche Erzähler zu dieser unrühmlichen zweiten Sorte, weshalb ihm besonders daran gelegen ist, die Leserschaft in einem längeren Exkurs vom Wert seines Unternehmens zu überzeugen. Dazu wählt er ein optisches Gleichnis: Es sei ebenso ehrenwert, (mit dem Teleskop) die entfernten Gestirne am Himmel vor das Auge zu zaubern, wie (mit dem Mikroskop) die Regungen der unscheinbarsten Wesen sichtbar zu machen.

Die romantische Prägung des Fragment gebliebenen Romans ist noch deutlich in solchen Exkursen des Erzählers erkennbar, mit denen er sich direkt an die Leserschaft wendet oder sein Vorgehen legitimieren will. Nicht wenige Exkurse nutzt er auch, um eben erzählte Episoden ins Allgemeine zu wenden, so dass sie leicht als Allegorie auf russische Zustände zu verstehen sind. Denn das Einsammeln von toten Seelen ist gleichsam nur ein narrativer Vorwand, um ein satirisches Sittengemälde der vielbeschworenen russischen Seele auszubreiten, die sich durch den mikroskopisch-sezierenden Blick des auktorialen Erzählers als nahezu ebenso leer und tot erweist. Besonders deutlich zeigt sich dieser allegorisch Zug in der Schlussapotheose des ersten Teils, wo die Troika Tschitschikows sinnbildlich mit Russland gleichgesetzt wird.

Tatsächlich ist hinter dem vordergründigen Spott und der Satire ein patriotischer, zuweilen sogar reaktionärer Zug vernehmbar, der im zweiten, unvollendeten Teil noch deutlicher zum Ausdruck kommt, wo das Lob von Tradition und Landwirtschaft beschworen und positiv in Stellung gebracht wird gegen den Sittenzerfall in den Städten, die bereits unrettbar von der westlichen Dekadenz eingenommen sind.





Montag, 29. Januar 2024

Kim Newman: Dracula Cha-Cha-Cha (1998)

Der scharlachrote Henker (Il Boia Scarlatto) geht um in Rom und hat es ausschliesslich auf Vampirälteste abgesehen, die er auf offener Strasse massakriert. Es ist Nachkriegszeit, das Dritte Reich ist zusammengebrochen, und Dracula verschanzt sich im Palazzo Otranto – die Anspielung auf Horace Walpoles Gruselklassiker Schloss Otranto ist gewollt. Dort bereitet er, der sich nun il principe nennt, die Hochzeit mit der moldawischen Prinzessin Asa Vajda vor, um im Osten eine neue mächtige Vampirdynastie zu gründen. Das ruft nicht nur den englischen Geheimdienst des Diogenes Clubs auf den Plan, Commander Bond höchstpersönlich setzt sich Dracula auf die Fersen, sondern auch seine uralte Erzfeindin Kate Reed, die wir schon aus den Vorgänger-Romanen kennen. Sie ist selbst eine Vampirin, verabscheut als kultivierter Blutsauger jedoch das alte «blutrünstige Dreckschwein».

Dracula Cha-cha-cha ist der dritte und letzte Teil von Kim Newmans vielgepriesener Neuinterpretation des Dracula-Stoffes, denn – Achtung Spoiler – der Untote stirbt diesmal tatsächlich und sein Leichnam löst sich im letzten Sonnenlicht in ein Häufchen Asche auf. Zur Erinnerung: Der Witz von Newmans Romanwelt besteht darin, dass er Dracula und den Vampirismus nicht als Fiktion behandelt, sondern in der Zeitgeschichte implementiert. Van Helsing sei es damals nicht gelungen, Dracula unschädlich zu machen, mit der Konsequenz, dass er sein Reich weiter ausdehnte und seither Menschen und Vampire – in verschiedenen Abhängigkeitsgraden und Verwandlungsstadien – neben- und miteinander koexistieren. Also exakt das Gegenteil von Bram Stokers Vorlage, die an einer Stelle ironischer Weise zur kontrafaktischen Geschichtsschreibung erklärt wird. Der Vampirismus ist längst salonfähig geworden, da sich das Gros der Vampire zivilisiert hat – und in diesem Buch nun vielmehr von einer schwarzmagischen Macht bedroht werden: der auch aus Dario Argentos Filmtrilogie Le Tre Madri bekannten Mater Lachrymarum.

Der Anspielungsreichtum auf Horrorklassiker ist auch diesmal wieder immens. Das Staraufgebot ebenso. Von real existierenden Personen bis zu fiktionalen Charakteren tummelt sich unterschiedslos alles in Newmans Roman: Die aus den Tintin-Comics bekannte Bianca Castafiore tritt ebenso auf wie Irma Vep, Casanova in Frauengestalt, die Addams Family, Pasolini, Gore Vidal, Charles de Gaulle und und und – vor allem Orson Welles, mit dem Newman eine herrliche Parodie gelungen ist – «Er war so gewaltig. Sein Halstuch hätte den meisten Leuten als Tischtuch für einen Beistelltisch dienen können» – und ihm ausserdem eine besondere Rolle zugedacht hat … doch stopp, allzu viel sei nun doch wieder nicht verraten. Da der Schauplatz diesmal in Rom liegt, weht ein Hauch von Da Vinci Code inklusive Vatikanbesuch durch die Erzählung: Die Vampire sind einem der ältesten Rätsel der Stadt auf der Spur, der bereits erwähnten Hexe Mater Lachrymarum. Der Showdown spielt sich, wie könnte es anders sein, dann natürlich im Kolosseum ab.

Montag, 15. Januar 2024

Frank Witzel: Kunst als Indiz (2022)

Ausnahmsweise sei hier einmal ein Sachbuch besprochen oder zumindest eine Art Sachbuch oder ein literarischer Essay, denn tatsächlich kreist Frank Witzel die Thematik durch zuweilen lange assoziative Denkschlaufen eher ein anstatt, dass er sie systematisch entfaltet, und macht es dadurch dem Lesefrüchtchen nicht immer einfach, der Argumentation auf jedem, öfters auch biographisch motivierten Seitenpfad zu folgen. Der Essay in dieser mäandrierenden Form und der starke Ich-Bezug besitzen mitunter auch den Charakter einer Psychoanalyse, tatsächlich suggeriert eine Anmerkungen (Nr. 76) hinten im Buch offenbar, dass es sich um eine Art Ersatztherapie handeln könnte.

Worum geht es? Zufällig entdeckt Frank Witzel beim Surfen auf youtube eine frühe Folge der Krimiserie Derrick (Folge 1, Staffel 11: Nur Aufregungen für Rohn), die er als Jugendlicher selber nie geschaut hat. Im Zimmer des Hauptverdächtigung hängt ein surrealistisches Poster, wie Witzel es als Jugendlicher hingegen sehr wohl auch besass (nämlich eines von Salvador Dalí). Im Film ist es eines des österreichischen Phantasten Rudolf Hausner (Forum der einwärtsgewendeten Optik, 1948). Es zeigt verschieden rätselhafte Gegenstände und verformte Figuren in einer perspektivisch verzerrten Trümmerlandschaft. Wie kommt dieses betont auffallend platzierte Gemälde in den Film und welche Funktion besitzt es dort? Derrick selbst schweigt sich darüber aus, weshalb Witzel ins Ermitteln gerät.

Witzels These ist in aller Kürze diese (und wird in dieser Kürze dem facettenreichen Essay wiederum nicht gerecht): Hausners Bild bringt die in den 1970er-Jahren verdrängte Kriegsschuld Deutschland traumhaft verfremdet wieder ins Bewusstsein: So wie das Bild in der Serie auffällt, weil es scheinbar nicht ins realistische Gefüge der filmischen Erzählung passt, so stellt es auch auf symbolischer Ebene eine die gesellschaftliche Ordnung gefährdende Unordnung dar, weil es Bilder heraufbeschwört, die nur allzu gerne verdrängt und unter dem Deckel gehalten werden. Allein das Bild (und weniger der tatsächlich auch vom Täter begangene) Mord machen ihn als solchen verdächtigt. Eine Besonderheit der Folge besteht tatsächlich darin, dass der Täter von Anbeginn und ohne Beweislast von Derrick in die Mangel genommen wird.

Witzel untermauert seine These unter anderem mit Rekurs auf einen kunstanalytischen Bestseller, dessen Titel bis in die 1970er Jahre als weit verbreitete Schlagwort kursierte: Verlust der Mitte (1948) von Hans Sedelmayr. Der Kunsthistoriker ist für Witzel nicht nur ein wichtiger Kronzeuge, weil er den Surrealismus als abnorme und 'entartete' Kunst ablehnte, sondern weil Sedelmayr einer der vielen ehemaligen NSDAP-Mitglieder ist, die nach 1945 ein Tuch des Schweigens über ihre SS-Vergangenheit legten. Witzel entdeckt nun aber in einer späten Studie Sedelmayrs eine Stelle, wo dessen Kriegserfahrung durchschimmert und diese zugleich auch mit dem Surrealismus in Verbindung gebracht wird. Beim Anblick eines zerstörten russischen Volksparks schreibt Sedelmayr: der Künstler, der dieses "surrealistische Bild" geschaffen habe, sei der "totale Krieg" gewesen.

Das ist die Schlüsselstelle, in der die zahlreichen Assoziationslinien, die Witzel in seinem Essay kreuz und quer zieht, zusammen laufen. Krieg gleich Unordnung gleich Surrealismus gleich Verdrängung gleich Traum(a). Dieses Trauma bricht in der - wie Witzel aufzeigt - Traumlogik der Derrick-Folge kurzfristig auf, nur um ihm am Ende die Absolution zu erteilen. Denn nicht zufällig war auch der Derrick-Drehbuchautor Herbert Reinecker ein alter NSDAP-Mann, der später nicht etwa Reue zeigt, sondern öffentlich kritisiert, dass die "Kriegsvorgänge im Zweiten Weltkrieg" nicht endlich als "normale geschichtliche Vorgänge halbwegs zur Ruhe kommen" können. Was Reinecker mit anderen Worten beklagt ist der Verlust einer Normalität - oder mit Sedelmayr gesprochen: der Mitte.

Diesen Normalitätszustand will die Derrick-Folge wieder herstellen und zwar in Form einer Katharsis, so die These Witzels, ausgelöst durch den Schock des surrealen Bildes von Rudolf Hausner, das kurzzeitig die Ordnung stört, weil es nicht in das biedere Derrick-Milieu passt und deshalb Witzels Aufmerksamkeit erregt hat. Es gibt den surrealistisch verfremdeten Blick auf verdrängte (und zu verdrängende) Abgründe frei. Interessanterweise ist das Gemälde in der Serie am Kopfende eines Bettes oder einer Couch befestigt und verweist damit auf das klassische Setting der Psychoanalyse. Gewissermassen und im übertragenen Sinn liegt mit der Derrick-Folge Deutschlands schlechtes Gewissen auf der Couch - und Witzel übernimmt die Rolle des Therapeuten.

Dienstag, 9. Januar 2024

Jean Ray: Malpertuis (1943)

Onkel Cassave, ein alter Rosenkreuzer, ruft seine Verwandtschaft ans Sterbebett und verkündet sein Testament, das mit einer merkwürdigen Auflage aufwartet: Sein Vermögen werde nicht aufgeteilt, dafür erhalten alle eine lebenslange Rente, sofern sie in sein Anwesen namens Malpertuis (abgeleitet von Malepartus dem Fuchsbau aus dem volkstümlichen Epos Vanden Vos Reynaarde) einziehen und dort miteinander leben. Niemand protestiert, alle scheinen mit dem Vorschlag einverstanden und schon bald findet sich eine skurrile Gesellschaft auf Malpertuis ein und die Leserin wähnt sich schon in einem schrägen Familienroman, einer Art verwandtschaftlichem Huis Clos, wenn da nicht plötzlich rätselhafte und grausame Dinge geschehen würden.

Nicht allein, dass auf Malpertuis der närrische Lampernisse herumschleicht, dem früher das direkt angegliederte Farbengeschäft gehörte, der jetzt aber nur noch Wesen nachjagt, welche ständig seine Lichter auslöschen. Auf dem Dachboden entdeckt Cassaves Enkel Jean-Jacques, aus dessen Perspektive die Ereignisse in diesem Teil geschildert werden, bösartige Kobolde, die Haushälterin beschäftigt ein golemartiges Ungetüm als Putzhilfe und schliesslich stirbt auf unheimliche Weise Mathias Krook, der neue Besitzer des Farbladens. Jean-Jacques beobachtet, wie er aufgedunsen und übergross über dem Boden zu schweben scheint, während er mit durchdringender Stimme das Hohelied singt und seine Füsse zu leuchten beginnen. Wenig später findet man ihn ermordet auf.

Irgendein dunkles Geheimnis birgt Malpertuis, das vom Pater Doucedame etymologisch als "Haus des Bösen" identifiziert wird; doch lange Zeit bleibt den Lesenden verschlossen, was genau sich dort abspielt. Auch Jean-Jacques stellt sich diese Frage erstaunlich spät im Verlauf der Geschichte, angeblich weil er unter dem Bann von Malpertuis stand. Erst aus der Feder von Dom Misseron - einer weiteren Quelle, aus der sich der Rahmenfiktion zufolge die Geschichte zusammensetzt - erfahren wir, dass es sich bei den angeblichen Verwandten um die sterbenden Götter Griechenlands handelt, die Onkel Cassave auf einer Expedition fangen und sie zu menschlichen Puppen ausstaffieren liess. Fortan vegetieren sie in einer Art Dämmerzustand auf Malpertuis, besinnen sich zuweilen aber wieder auf ihre vernichtende Macht.

Zweifelsohne liess der Autor seine zuhauf angelesene Gelehrsamkeit in den Roman einfliessen, was sich auch an den zahlreichen (oft jedoch korrupten) Motti und Zitaten zeigt, die den einzelnen Kapiteln vorangestellt sind der abstrusen Geschichte wohl eine höhere Echtheit verleihen sollen. Doch trotz solcher narrativen Kniffe wie demjenigen des manuscript trouvé mit vermeintlichen Augenzeugenberichten will ein richtiger Gruseleffekt nicht aufkommen, auch wenn das 'Schreckliche' und 'Grausame' auf jeder zweiten Seite beschworen wird - aber eben nur beschworen und nicht richtig zur Darstellung kommt. Dazu ist die Story zu hanebüchen, die einzelnen Episoden eher unfreiwillig lächerlich als fürchterlich mit vielen bizarren Einfällen, und die Komposition insgesamt zu disproportional mit vielen unentwickelten Ansätzen.

Letztlich wollte der Autor wohl schlicht zu viel in seinen Roman verpacken: Geister, Kobolde, Werwölfe, Golems, Vampirinnen - und dazu alles mit antiker Mythologie verbrämt und obendrein noch ein paar dunkle Mönche an der Grenze zur Gottlosigkeit. Trotz dieser schier undurchdringlichen Fülle und trotz allerhand technischer Mängel vermag das Buch dennoch in seinen Bann ziehen. Es lockt durch das lange Zeit Unerklärte und fasziniert schliesslich durch die in ihrer Verstiegenheit doch atemberaubende Erklärung mit den antiken Gottheiten, auf die wohl niemand von selbst kommen würde, wenn der Verlag das Geheimnis nicht schon im Klappentext ausplaudern würde. Durch diesen Spoiler wird der Geschichte ihren wohl einzigen Überwältigungsmoment genommen.



Sonntag, 7. Januar 2024

Frank Kafka ... ja klar!

In der NZZ am Sonntag vor dem Jahreswechsel wurde bereits ein Ausblick auf das Bücherjahr 2024 geboten, worauf sich alle freuen dürfen: u.a. auch auf das Jubiläum (100. Todestag) eines gewissen "Frank Kafka" (sic) - wer kennt ihn nicht?

Frank Kafka, der in Frankfurt aufgewachsene und dann nach Frankreich exilierte Schriftsteller, der mit seiner Erzählung über Georg Samsungs Verwandlung in ein Ungeziefer Literaturgeschichte schrieb. Die Germanisten rätseln noch heute, welche Art von Ungeziefer es wohl sei, dabei ist offensichtlich, dass es sich nur um einen gemeinen Borkenkäfer (lat. pseudofrancus typographus) handeln kann. Weitere Werke aus seiner Feder sind das Drama Frank V., der Roman Frankenstein sowie Frank Sternbalds Wanderungen durch die Mark Brandenburg.

Wesentlich beeinflusst durch sein Werk sollen angeblich Franka Potente, Robert Frank, Frankobel und Dante Andrea Franketti sein. Zeitlebens führte Frank Kafka ein zölibatäres Dasein, es dürfte sich jedoch nur um ein Gerücht handeln, dass er in den Orden der Franziskaner eintreten wollte. Ebenso gilt es als unerwiesen, dass Frank Kafka lose verwandt mit Franz Zappa sei. Es verhält sich wohl nicht anders wie in dem apokryphen Gedicht von Ernst Jandl: Frank und Franz verkwezelt man gern, sind zonkeptuell eh Hans wie Heiri.

PS (kleiner Nachtrag): In der Rororo-Monographie zum Autor (33. Aufl. 1998), dargestellt von Klaus Wagenbach, ist sogar von einem gewissen Franz "Kaka" (S. 130) die Rede: das ist doch Gaga!

Freitag, 29. Dezember 2023

Abram Terz: Klein Zores (1980)

Unter dem Pseudonym Abram Terz veröffentlichte Andrej Sinjawskij in der Sowjetunion zahlreiche phantastische Geschichten, darunter auch den utopischen Roman Ljubimow (1964), der sich kritisch mit dem kommunistischen Regime auseinandersetzt, was dem Autor 1966 nach einem aufsehenerregenden Schauprozess eine siebenjährige Haftstrafe einbrachte. 1973 entliess man Sinjawskij ins Exil nach Paris, wo er sich als Dozent für russische Literatur an der Sorbonne eine neue Existenz aufbauen konnte. Es erschienen diverse Sachbücher zur russischen Kultur und Literatur sowie diese kleine Erzählung, die an die phantastischen Anfänge seiner Schriftstellerei anknüpft.

Märchen, Parabel, Allegorie, autofiktionale Spielerei und eine Hommage an E.T.A. Hoffmann, den Meister des Phantastischen - die Erzählung ist alles in einem und noch viel mehr, voll von intertextuellen Anspielungen und hermetischer Symbolik. Der Held heisst, wie der Autor mit bürgerlichem Namen, Sinjawskij, wird aber von allen nur "Klein Zores" genannt, weil er ein "Zwerg" ist, nicht mehr Kind, aber auch nicht ganz erwachsen, und vielen wie "Lermontows Dämon" vorkommt. Wie der russische Romantiker in seinem Verspoem den Faust-Stoff aufgreift, so geschieht dies auf inverse Weise auch in Klein Zores. Der Protagonist ist quasi eine anti-mephistophelische Kraft.

Von Mephisto heisst es in Goethes Faust, er sei "Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft". Bei Klein Zores verhält sich genau umgekehrt: Er möchte niemandem etwas Böses und doch unterläuft es ihm ständig: "Es ist mir peinlich, dies auszusprechen, aber ich wünsche den Menschen nur Gutes. Ich liebe sie. Überschlage mich dabei. Aber ich erreiche nur das Gegenteil!" Was er auch anpackt, es führt zu einem Unglück: "Das Böse ist nur ein Nebenprodukt des erhofften Guten ..." Grund dafür ist, dass Klein Zores in Kinderjahren seine "Liebe" opferte, damit ihn eine Fee von seinem Stottern befreite: "So verkaufte ich mich, ohne zu ahnen, was ich tat, dem Teufel."

Wie das Kunstmärchen über den ebenfalls zwergwüchsigen Klein Zaches bei E.T.A. Hoffmann, das Sinjawskij als Vorlage diente, erfolgt auch hier die Sozialisation des Protagonisten durch Feenzauber, der ihm das Sprechen erst ermöglicht. Im Unterschied zu Klein Zaches, der fortan eine glanzvolle Karriere durchläuft, ist Klein Zores jedoch vom Pech verfolgt. Ohne es zu wollen, bringt er der Reihe nach seine fünf Brüder und schliesslich auch seine Mutter ins Grab. Eigentlich unschuldig, trägt er doch die Schuld an ihrem Tod, dabei möchte er, der als "Bastard" geboren wurde, bloss herausfinden, wer sein Vater ist, muss am Ende - in einem überraschenden Perspektivenwechsel der Erzählung - jedoch erfahren, dass er, Zaches, längst gestorben und der Vater wahrscheinlich an seinem Tod verantwortlich ist.

Dieser Dreh, dass eine vermeintlich lebende Person sich plötzlich als Geist erweist, ist zwar nicht neu, hier aber effektvoll eingesetzt: Auf einmal ist klar, weshalb Zaches ein "Zwerg" geblieben ist, weil er schon als Kind verstarb: "Klein Zores ist überhaupt kein Erwachsener geworden." Aus einer jenseitigen Welt wohnt Zaches seinem Leichenschmaus bei, bei dem die Geschwister sich darüber in die Haare geraten, wie und weshalb er gestorben sei. Es werden genau diejenigen Todesarten erörtert, denen die Geschwister angeblich durch Zaches Schuld zum Opfer fielen. Doch erweist sich dies als Illusion, wie am Schluss sich ohnehin die ganze Szenerie als Spuk verflüchtigt. Zurück bleibt ein alter Mann (der Autor selbst?), der seine fünf Finger, stellvertretend für die fünf Brüder, auf einen Stapel vollgeschriebener Blätter legt.

Neben dem alten Mann steht ein zudem Schrank, der sich "auf seinen Hinterbeinen in die Höhe" reckt. Dasselbe Schränkchen traf Klein Zaches in der Geschichte bereits bei der Fee an und er vermeinte, dass es "Ernst Theodor Amadeus Hoffmann persönlich" sei, "der uns auf vier gedrehten Beinchen besucht". Hier rettet sich zum Schluss ein Requisit aus der Fiktion in die Schreib-Szene, die sie hervorgebracht hat - und bestätigt rückwirkend die Vermutung des Protagonisten. Das Kästchen, das in der Erzählung reg- und leblos blieb, bewegt sich plötzlich. Ob tatsächlich der Geist E.T.A. Hoffmanns es belebte, bleibt der Phantasie der Leserschaft überlassen. 

Mittwoch, 27. Dezember 2023

Henry James: The Turn of the Screw (1898)

Henry James 'Geistererzählung' von 1898, The Turn of the Screw, wurde unter verschiedenen Titeln ins Deutsche übersetzt: wörtlich als Die Drehung der Schraube, etwas freier als Der letzte Dreh der Schraube bzw. Schraubendrehungen und komplett anders als Die Tortur, Die Teuflischen oder  Das Geheimnis von Bry - benannt nach dem fingierten Londoner Landsitz, wo sich die unheimlichen Begebenheiten abspielen. Der letzte Titel verpasst dabei die zentrale Metapher, welche den Gang der Ereignisse charakterisiert: Wie eine Schraube windet sich die Erzählung dem unerbittlichen Ende zu, gleich einem Flugzeug, das sich in einer letalen Abwärtsspirale befindet und sich dabei ebenfalls schraublinienförmig bewegt.

Im Zentrum der Geschichte stehen zwei "grässlich artige" Kinder - ein Junge namens Miles und ein Mädchen namens Flora. Die widersprüchliche Formulierung ("grässlich artig") hat Programm: Die Kinder sind von einer fast schon ins Unnatürliche kippenden Anmut. Zumindest werden sie von ihrer Gouvernante so geschildert: Sie erscheinen als unschuldige Engel, geben sich im Umgang zuckersüss und allerliebst, doch mehr und mehr nähert sich ihre Erzieherin der Gewissheit, dass sich hinter ihrer einnehmenden Fassade entsetzliche Abgründe verbergen. Alles nur "Verstellung und Trug". Erste Zweifel beginnen, als die namenlose Gouvernante einen Brief von der Schule bekommt, in dem mitgeteilt wird, dass Miles - ohne nähere Angaben der Gründe - von der Schule geflogen ist.

Zunächst ungläubig, weshalb ein dergleichen artiger Knabe vom Unterricht suspendiert wird, stimmen sie die folgenden Ereignisse zunehmend skeptisch und führen sie zur Überzeugung, dass die beiden Kinder mit den Geistern zweier verstorbener Personen in übersinnlichem Kontakt stehen, die früher auf dem Anwesen in Bry wohnten und damals die Kinder bereits verdorben hätten: ihre vormalige Erzieherin Miss Jessel und Peter Quint, der verrufene Freund des Hausherrn, die zusammen ein lasterhaftes, weil unstandesgemässes Verhältnis pflegten, das von den Kindern gedeckt wurde - und offenbar auch postum weiter gedeckt werden soll. Deshalb versuchen die beiden Toten durch dämonische Mächte die Kinder in ihren Bann zu ziehen.

Das jedenfalls ist die These der namenslosen Gouvernante, aus deren Perspektive die Hergänge geschildert werden und die die Geister selbst zu sehen glaubt. Aufgrund einer raffinierten Erzählführung bleibt es in der Schwebe, ob sich der Spuk tatsächlich wie geschildert abspielt und die engelhaften Kinder wahrhaftig eine dämonische Seite verbergen - oder ob nicht alles Hirngespinste der Erzählerin sind, die sich in eine idée fixe verrannte und davon auch die Haushälterin, die sie ins Vertrauen zog, überzeugen konnte. Immerhin reflektiert sie an einer Stelle kurz die Möglichkeit ihrer eigenen "Besessenheit" in der ganzen Angelegenheit, die in einem übersteigertem Kontroll- und Verfolgungswahn zum Ausdruck kommt. Das Verhältnis zu den Kindern kippt zusehends von anfänglicher Entzückung in unverhohlenes Misstrauen.

Am Ende weiss man daher nicht, ob es sich bei dem Bericht bloss um den Rechtfertigungsversuch einer paranoid gewordenen Erzieherin handelt, die sich in eigene Wahngebilde verstrickte und dadurch den Tod ihres Zöglings verschuldete. Als sie in der finalen Szene Miles zur Rede stellt und endlich erfahren will, weshalb er aus der Schule flog, sieht sie den Geist von Peter Quint erneut, triumphiert aber, weil sie glaubt, den Jungen beschützen zu können. In diesem Moment fällt Miles, der sich zu weit aus dem Fenster lehnte, um sich nach Quint umzusehen, vom Sims und dem realen "Abgrund" zu, von dem ihm die Gouvernante im übertragenen Sinn bewahren wollte. Doch ihr Rettungsgriff erweist sich als Todesgriff. Es wird zwar nicht ausgesprochen, doch ist Miles zweifelsohne dabei erstickt. Nach dieser letzten Drehung der Schraube liegt er tot in ihren Armen.

Die unzuverlässige Erzählsituation gewinnt einen zusätzlichen Dreh dadurch, dass der Bericht, der zwar von der Gouvernante stammt, von einem Mann verlesen wird, der ihr früher als Knabe in kindlicher Liebe verfallen war und dem sie später als einziger Person schliesslich ihr Geheimnis anvertraute: in Form eines handgeschriebenen Berichts, der detailgenau die Gespenstergeschichte wiedergibt. Wie das Kindermädchen vormals der Haushälterin ihr Hirngespinst glaubhaft zu vermitteln vermochte, so will sie offensichtlich auch künftige Leserinnen und Leser von ihrer Version der Geschichte überzeugen und über die Deutung der Geschehnisse die letzte Kontrolle behalten.

Standen die Kinder tatsächlich unter dem Bann des Bösen oder wurde der arme Miles durch den Wahn seiner Gouvernante in den Tod getrieben? Ihr Bericht plädiert innerdiegetisch klar für die erste Variante, die Erzählung von Henry James lässt die Frage insgesamt offen. Das Lesefrüchtchen würde jedenfalls folgende Übersetzung des Titels bevorzugen: Das Durchdrehen der Schraube, weil damit schon angedeutet wäre, dass es die 'Schraube' (ugs. für Frau) ist, die durchdreht (ugs. für wahnsinnig werden). Zumindest hat sie sicher eine Schraube locker. Auf Englisch besitzt das Wort screw umgangssprachlich hingegen eine sexuelle Konnotation und meint den Koitus.

Dieser Subtext dürfte bei James tatsächlich angelegt sein, da es sich im Grunde auch um eine Sublimationsgeschichte handelt, die Wahnvorstellungen also auf unerfülltes sexuelles Verlangen zurückzuführen sind. Das Kindermädchen nimmt die Stelle auf Bly überhaupt deshalb an, weil sie dem Zauber des Hausherrn verfallen war, der sie jedoch nur unter der Bedingung anstellte, dass "sie ihn niemals behelligen dürfe". Ihre unterdrückten Gefühle und Triebe projiziert sie fortan auf das angeblich unmoralische Verhältnis zwischen Quint und Miss Jessel, das jedoch als grosses Tabu behandelt, niemals direkt, sondern stets als "Teufelswerk" und "Verderbnis" angesprochen wird. Wie sehr der Bericht gegen den Willen der Erzählerin subkutan durch sexuelle Motive bestimmt ist, zeigt sich an einer Stelle besonders deutlich, als sie schildert, wie Flora mehrfach versucht, einen Ast in das Loch eines anderen Holzstückes zu stecken, sie daran aber "nichts Doppelsinniges" erkennen kann. - Das Lesefrüchtchen hingegen schon. :)