Dienstag, 9. Januar 2024

Jean Ray: Malpertuis (1943)

Onkel Cassave, ein alter Rosenkreuzer, ruft seine Verwandtschaft ans Sterbebett und verkündet sein Testament, das mit einer merkwürdigen Auflage aufwartet: Sein Vermögen werde nicht aufgeteilt, dafür erhalten alle eine lebenslange Rente, sofern sie in sein Anwesen namens Malpertuis (abgeleitet von Malepartus dem Fuchsbau aus dem volkstümlichen Epos Vanden Vos Reynaarde) einziehen und dort miteinander leben. Niemand protestiert, alle scheinen mit dem Vorschlag einverstanden und schon bald findet sich eine skurrile Gesellschaft auf Malpertuis ein und die Leserin wähnt sich schon in einem schrägen Familienroman, einer Art verwandtschaftlichem Huis Clos, wenn da nicht plötzlich rätselhafte und grausame Dinge geschehen würden.

Nicht allein, dass auf Malpertuis der närrische Lampernisse herumschleicht, dem früher das direkt angegliederte Farbengeschäft gehörte, der jetzt aber nur noch Wesen nachjagt, welche ständig seine Lichter auslöschen. Auf dem Dachboden entdeckt Cassaves Enkel Jean-Jacques, aus dessen Perspektive die Ereignisse in diesem Teil geschildert werden, bösartige Kobolde, die Haushälterin beschäftigt ein golemartiges Ungetüm als Putzhilfe und schliesslich stirbt auf unheimliche Weise Mathias Krook, der neue Besitzer des Farbladens. Jean-Jacques beobachtet, wie er aufgedunsen und übergross über dem Boden zu schweben scheint, während er mit durchdringender Stimme das Hohelied singt und seine Füsse zu leuchten beginnen. Wenig später findet man ihn ermordet auf.

Irgendein dunkles Geheimnis birgt Malpertuis, das vom Pater Doucedame etymologisch als "Haus des Bösen" identifiziert wird; doch lange Zeit bleibt den Lesenden verschlossen, was genau sich dort abspielt. Auch Jean-Jacques stellt sich diese Frage erstaunlich spät im Verlauf der Geschichte, angeblich weil er unter dem Bann von Malpertuis stand. Erst aus der Feder von Dom Misseron - einer weiteren Quelle, aus der sich der Rahmenfiktion zufolge die Geschichte zusammensetzt - erfahren wir, dass es sich bei den angeblichen Verwandten um die sterbenden Götter Griechenlands handelt, die Onkel Cassave auf einer Expedition fangen und sie zu menschlichen Puppen ausstaffieren liess. Fortan vegetieren sie in einer Art Dämmerzustand auf Malpertuis, besinnen sich zuweilen aber wieder auf ihre vernichtende Macht.

Zweifelsohne liess der Autor seine zuhauf angelesene Gelehrsamkeit in den Roman einfliessen, was sich auch an den zahlreichen (oft jedoch korrupten) Motti und Zitaten zeigt, die den einzelnen Kapiteln vorangestellt sind der abstrusen Geschichte wohl eine höhere Echtheit verleihen sollen. Doch trotz solcher narrativen Kniffe wie demjenigen des manuscript trouvé mit vermeintlichen Augenzeugenberichten will ein richtiger Gruseleffekt nicht aufkommen, auch wenn das 'Schreckliche' und 'Grausame' auf jeder zweiten Seite beschworen wird - aber eben nur beschworen und nicht richtig zur Darstellung kommt. Dazu ist die Story zu hanebüchen, die einzelnen Episoden eher unfreiwillig lächerlich als fürchterlich mit vielen bizarren Einfällen, und die Komposition insgesamt zu disproportional mit vielen unentwickelten Ansätzen.

Letztlich wollte der Autor wohl schlicht zu viel in seinen Roman verpacken: Geister, Kobolde, Werwölfe, Golems, Vampirinnen - und dazu alles mit antiker Mythologie verbrämt und obendrein noch ein paar dunkle Mönche an der Grenze zur Gottlosigkeit. Trotz dieser schier undurchdringlichen Fülle und trotz allerhand technischer Mängel vermag das Buch dennoch in seinen Bann ziehen. Es lockt durch das lange Zeit Unerklärte und fasziniert schliesslich durch die in ihrer Verstiegenheit doch atemberaubende Erklärung mit den antiken Gottheiten, auf die wohl niemand von selbst kommen würde, wenn der Verlag das Geheimnis nicht schon im Klappentext ausplaudern würde. Durch diesen Spoiler wird der Geschichte ihren wohl einzigen Überwältigungsmoment genommen.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen