Montag, 8. Dezember 2025

Thomas Pynchon: Schattennummer (2025)

Es weihnachtet bald, deshalb gönnt sich das Lesefrüchtchen einen ganz besonderen Leckerbissen. Es startet mit einem literarischen Grossereignis, nein, nicht mit dem jüngsten Literaturnobelpreis, der kommt als nächstes dran, sondern mit dem neuen Roman von Thomas Pynchon, der mehrfach als Kandidat für den Nobelpreis gehandelt wurde und ihn sicher auch verdient hätte. Viel weiss man über den inkognito lebenden Autor nicht, ausser dass er mit Jahrgang 1937 mittlerweile über 90 Jahre als sein muss. Umso erstaunlicher und aufregender ist diese unerwartete Neuerscheinung, die wie aus dem Nichts apportiert erscheint. Pynchon könnte wohl schreiben, was er will, das Lesefrüchtchen wäre so oder so begeistert. Doch der Autor bleibt sich mit seinem neuen Roman absolut treu: Es liegt ein waschechter Pynchon vor, sogar einer hoch Zwei, ein Pynchon auf Speed. Und das will was heissen. Ja, manchmal wirkt dieser stellenweise fast schon wie eine Parodie auf sich selbst oder so als liefe eine künstliche Intelligenz aus dem Ruder. Mafiöse Käsesyndikate, transsilvanische Vampir-Nazis, melonenförmige Luftschiffe, Teleportation-Kriminalität, Fetischisten geschmackloser Lampen, illegale Dauer-Motorradrennen, Theremin-Discos, Terminator-Golems und vieles mehr muss in Pynchons Paraversum in Kauf genommen werden.

Insbesondere in der zweiten, im faschistischen Osteuropa spielenden Hälfte des Romans scheint Pynchon den Bogen zuweilen gezielt zu überspannen, getreu dem vorangestellten Motto von Bela Lugosi: "Übernatürlich, vielleicht. Unsinn ... vielleicht nicht." Das Zitat stammt aus dem Gruselfilm Die schwarze Katze von 1934 und gibt geographisch, historisch und atmosphärisch die Richtung vor. Wie im Film so bestimmt auch im Buch ein paranormales Ungarn das Setting. Dorthin ist der leicht dämliche Detektiv Hicks McTaggert "schanghait" (208) worden, wie er es selbst im Matrosenslang ausdrückt, wo das Wort so viel Zwangsrekrutierung bedeutet. Der ehemalige Berufsschläger arbeitet für die Detektivagentur Unamalgamated Ops (kurz: U-Ops) in Milwaukee, wo die Dinge für gewohnt ruhiger laufen als in Chicago. Doch ein Bombenattentat bringt Unruhe in die Stadt. Der Reo Speedwagon von Stuffy Keegan fliegt in die Luft und Stuffy selbst löst sich scheinbar in Luft auf. Auch Daphne Airmont, die Tochter von Bruno Airmont, berüchtigt als der Al Capone des Käses, der mit seinem verstrahlten "Radio-Cheez" (114) ein Vermögen anhäufte, scheint spurlos verschwunden. 

Hicks erhält den Auftrag, die Käseerbin ausfindig zu machen. Ein delikates Unterfangen, da Hicks ihr in früheren Jahren einmal bei der Flucht aus der "Kinderklapsmühle" (136) behilflich war und sie in einem Reservat der Ojibwas untergebracht hat. Er ist somit nicht ganz unbefangen in der Angelegenheit. Mehr noch: Ein verrückter Hutmacher hat ihm ausserdem den Floh ins Ohr gesetzt, er sei durch Windigo-Magie schicksalhaft mit Daphne verstrickt. Deshalb zögert er zunächst, sich auf die Spur der Käseerbin zu setzen. Stattdessen geht er dem Bombenanschlag auf Stuffy nach und wird selbst Opfer eines absurden Attentats: Zwei als Wichtel verkleidete Typen legen ihm am heiterhellen Tag auf offener Strasse ein tickendes Paket mit einer Zeitbombe in die Hand, das Hicks nur in letzter Sekunde im Loch eines Eisfischers auf dem zugefrorenen See versenken kann. Diese Episode ist erzähltechnisch eine Meisterleistung in der für Pynchon typischen Slapstick-Prosa. Inhaltlich bildet sie den Ausschlag, weshalb Hicks nach Osteuropa zwangsversetzt wird, wo angeblich nicht nur der Käse-Mafiosi Bruno Airmont untergetaucht ist, sondern sich auch seine Tochter Daphne aufhält.

Hier nehmen die Ereignisse dann Überhand. Begleitet von zwei englischen Spionen, Alf und Pips, die im Auftrag von Interpol mit Sitz in Wien unterwegs sind, setzt er sich Daphne Airmont auf die Fersen, die - wie sich herausstellt - wiederum auf der Suche ihres Liebhabers Hop Wingdale, dem jüdischen Frontmann der Klezmopolitans, der sich aufgrund des aufkommenden Antisemitismus aus dem Staub gemacht hat. Auch Ace Lomax, der Stellvertreter des Käsemafiosi Bruno Airmont, ist auf der Flucht, da er den Auftrag verweigert hat, Wingdale aus dem Verkehr zu schaffen. Beide treffen sich auf der "Trans-Trianon-2000"-Route, die innerhalb der "Schattenzone zwischen dem alten und neuen, konzentrischen Ungarn" (307) verläuft und ein illegales Paradies für waghalsige Motorradrennen ist. Sie führt aber auch durch das "Gebiet der Vlad-Jungs" (329), einer vampirischen Nazi-Gang, die es auf Wingdale abgesehen hat. Doch in letzter Sekunde kommt der Golem Zdenek zu Hilfe, eine Art Mensch-Maschine, deren linker Arm aus einem "Maschinengewehr" besteht "mit in seine Schulter eingebautem Magazin" (344). Pynchon bietet das gesamte Figurenarsenal des osteuropäischen wie des real-europäischen Horrors auf - sogar Hitler geistert als "deutscher Charlie Chaplin" (!) hintergründig herum (44) -, so dass Hicks als Protagonist sukzessive der Narration entgleitet.

Es ist eine Prosa der subtilen Überforderung: Die Lesenden werden bombardiert mit dem stupenden Welt- und Fachwissen des Autors, der lustvoll Fakt und Fiktion durcheinanderwirbelt, mit Fachbegriffen, mit rasanten, aberwitzigen Dialogen, abrupten Handlungsverläufen und unvermittelt eingeführten Figuren, so dass es einige Aufmerksamkeit abverlangt, der sich stets komplizierenden Story zu folgen. Man fragt sich bisweilen, worauf diese wilde Verfolgungsjagd hinauslaufen soll. Dass der Autor am Ende die Kurve doch noch kriegt und ein verschollenes U-Boot in ein klandestines Exilamerika einfahren lässt, grenzt fast an ein narratives Wunder. Und dann diese Sätze! Sätze von einer Sperrigkeit und epischen Breite, wie man sie heutzutage selten mehr liest. In jedem dieser Sätze steckt ein kleiner erzählerischer Mikrokosmos. Das alles ist ein grosses Lesevergnügen und ein grosser Klamauk. Wohl in keinem anderen Roman erlaubt sich Pynchon so viel Narrenfreiheit, was sich auch an der ironischen Distanz zeigt, mit dem der Erzähler teilweise ziemlich süffisant dem Geschehen und den Figuren entgegentritt. Erkennbar an etlichen Passagen, die im Konjunktiv schildern, wie eine Figur hätte reagieren sollen, es aber unterlässt oder gar nicht dazu kommt. 

Thomas Pynchon: Schattennummer. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren. Reinbek: Rowohlt, 2025.

Montag, 1. Dezember 2025

Martina Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen (2025)

"Das hier ist kein Krimi" (88), sagt die 'Alte' relativ zu Beginn des Romans. Später aber muss sie ihre Aussage revidieren: "mittlerweile bin ich mir da selbst nicht mehr sicher" (230). Am Ende angekommen darf man bilanzieren: Es ist durchaus ein Krimi, sogar ein tatortwürdiger, besitzt er doch alle Ingredienzen, die es dafür braucht: Eine Leiche, die das Geschehen ins Rollen bringt, zwei schrullige und diametral verschiedene Ermittlerfiguren, Lokalkolorit, historische und sozialpolitische Kontexte, eine unglückliche Beziehungsgeschichte, prekäre Jugendliche, falsche Verdächtige, ein Komplott und last but not least eine grosse Drahtzieherin im Hintergrund. Kein Wunder heisst die - als schräge Miss Marple im Hippie-Look auftretende - Privatschnüfflerin bei Clavadetscher schlicht "die Alte": eine Hommage an die beliebte Krimi-Serie Der Alte.

Manche Rezensenten erkannten eher in Dürrenmatt als in Fernsehkrimis das Vorbild für Clavadetschers neustem Roman. Doch man soll sich vom vorangestellten (oder vielmehr: aufgesetzten?) Motto aus Dürrenmatts Stoffen nicht in die Irre führen lassen: mit seiner Dekonstruktion des Krimigenres hat Die Schrecken der Anderen kaum etwas gemein. Klar, die bei Dürrenmatt dominante Labyrinth-Metapher wird hier zwar aufgerufen (42, 93, 236) und am Ende erscheint mit der amputierten und "uralten Frau" Mutter (59) ein grandioser Verschnitt zwischen der Prothesenfrau Claire Zachanassian aus Der Besuch der alten Dame und der Zwergin Monika Steiermann aus Justiz. Als weitere Parallele liesse sich noch anführen, dass es wie in Dürrenmatts Der Verdacht um eine Nazi-Vergangenheit geht, die wieder "an die Oberfläche" (88) gerät. Damit enden aber auch schon die Gemeinsamkeiten.

Denn im Unterschied zu Dürrenmatts Antikrimis, handelt es sich hier tatsächlich um einen veritablen Krimi, der technisch einwandfrei mit allen Mitteln der Suspense arbeitet und die Spannung durch zwei parallel laufende Handlungsstränge kontinuierlich aufrecht erhält, bis sie im furiosen Finale zusammenlaufen, das fast schon plakativ mit poetischer Gerechtigkeit aufwartet: Die Bösen sind bestraft, die Guten gehen moralisch gestärkt als Sieger hervor. Das entspricht mehr einem TV-Narrativ als der Dürrenmatt'schen Formel von der schlimmstmöglichen Wendung. Dass sich Clavadetscher vielmehr an einer cineastischen Erzählweise orientiert, belegt der Name der Leiche: "McGuffin" (111). So nannte Hitchcock ein vorantreibendes, spannungssteigerndes Element der Filmhandlung, das an sich aber bedeutungslos ist.

Tatsächlich stösst auch die Leiche bei Clavadetscher Enthüllungen an, mit denen sie letztlich nur in sehr losem Zusammenhang steht. Vielmehr stellt sie eine Art Metapher für den Auflösevorgang dar, ein Symbol für eine eingefrorene Vergangenheit, die durch das Tauwetter stückweise wieder zum Vorschein kommt. Wie subtil diese Metaphorik den Text durchzieht, zeigt sich etwa darin, wenn die Mutter, die sich als zähe Nazi-Vettel entpuppt, anfänglich mit "dreckigem Restschnee" verglichen wird, "der in gewissen Tälern bis Mai liegen bleibt" (58), was bereits auf ihr verstümmeltes Ende vorverweist, wo sie nurmehr als Grippe mit "bräunlich fleckiger Haut" neben einer ebenso braunen NSDAP-Uniform liegt (313). Sie erscheint als Schreckgespenst aus der Vergangenheit oder vielmehr als Ungeheuer aus der Urzeit und steht so wiederum in Zusammenhang mit der Drachensage von der "tödlichen Riesenechse" (151), die im Roman erzählt wird und ironisch als im Titel einer TV-Serie widerhallt: "Mother of Dragons" (117).

Auf diese Weise zieht die Autorin ein dichtes Bedeutungsgeflecht. Auch sonst ist der Roman raffiniert aufgebaut und motivisch verwoben. Alle Fäden laufen auf dem Schauplatz des Ödwilerfeldes am Fusse des als "Drachenstein" (152) bekannten Frakmont-Gebirges zusammen, wo die Leiche gefunden wurde, ein Holocaust-Mahnmal errichtet werden soll, was der "Jungen Aktion", die dort ihr Unwesen treibt, ebenso ein Dorn im Auge ist wie der männerbündnerischen Ortsgruppe, die in ein Bauprojekt auf dem Feld investieren will. Ihr Fanatismus macht sie blind gegenüber der Geschichte oder versperrt ihnen die Sicht auf das Vergangene: "Weil niemand jemals etwas aus den Schrecken der anderen lernt." (183) Die Aufgabe der Alten, die als mythologische Rächerin, als "Furie" (223) bezeichnet wird, sieht ihre Aufgabe darin, "die vergessenen Fäden" der Geschichte "ins Sichtbare zu ziehen" (183).

Clavadetscher, die in ihren neusten Roman weitgehend auf formale Experimente verzichtet, erzählt souverän, handlungsnah, zuweilen etwas schablonenhaft, aber stets mit kleinen auktorialen Kommentaren oder sentenzenhaften Nebensätzen, die sich zwischen die straffe Narration schieben und augenblicklich einen Reflexionshorizont eröffnen: "Das Leben produziert unablässig Archivmaterial, denkt Schibig, Mappen des organisierten Vergessens." (205) Nach der Lektüre wünscht sich das Lesefrüchtchen jedenfalls, Clavadetscher möge das Drehbuch zum nächsten Schweizer Tatort verfassen, um ihm endlich aus der Misere zu helfen. Denn wie es an einer Stelle heisst: "Es geht nicht nur darum, wer die Geschichte erzählt. Es geht darum, wer die Geschichte besser erzählt." (129) Und Clavadetscher kann es definitiv besser. Ihr Roman jedenfalls bietet sich für eine Verfilmung geradezu an.

Martina Clavadetscher: Die Schrecken der Anderen. Roman. München: C.H. Beck, 2025.