Dienstag, 25. März 2025

Christian Kracht: 1979 (2001)

Und gleich nochmals Kracht, weil es so Spass macht: In nur 180 Seiten, nein, nicht um die Welt, sondern vom revolutionären Teheran in ein chinesisches Umerziehungslager. Dort endet die Geschichte für den Ich-Erzähler. Scheinbar zufrieden quittiert er im letzten Satz: "Ich war ein guter Gefangener. Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen." Wie hier die komplette Selbstaufgabe gleich vierfach mit dem stolzen Personalpronomen "Ich" eingeleitet wird, ist in seiner Widersprüchlichkeit nicht nur erzähltechnisch brillant, sondern gehört wesentlich zum subtilen Irritationspotential dieser Prosa dazu. Mit derselben emotionslosen Distanz wie seine Inhaftierung schildert das erzählende Ich die Ereignisse, die in das Lager geführt haben.

Alles beginnt Anfang 1979 in Teheran am Vorabend der Revolution: Der Erzähler besucht mit Christopher, seinem total abgefuckten Freund, eine dekadente illegale Party mit dubiosen Szeneleuten, die mit Orgon-Akkumulatoren sexuelle Erregung suchen und sich im anliegenden Haschwäldchen verlustieren. Während Christopher sich mit Koks und Alkohol vollpumpt, gelangt der Erzähler zur Erkenntnis, dass es mit ihrer Beziehung vorbei ist, mehr noch, dass es nie eine richtige Beziehung war, da er sich nur mit dem brillanten Zyniker, der Christopher einmal war, "geschmückt" habe. Ihn ereilt diese Erkenntnis parallel zur Begegnung mit einem gewissen Mavrocordato, der drohende, orakelhafte Prognosen ausstellt, im Erzähler aber auch eine Art Erlöserfigur erblickt: "Sie sind rein, Sie sind ein offenes Gefäss, wie der Kelch Christi [...] Sie sind - wide open."

In derselben Nacht erliegt der schon länger dahinsiechende Christopher (es ist von Blasenbildung an den Beinen die Rede) in einem abgewrackten Hospital an einer Überdosis und gleichzeitig bricht die islamischen Revolution unter Chomeini bricht. Der Erzähler irrt durch die Strassen und trifft scheinbar zufällig wieder auf Mavrocordato, der Teil des revolutionären Widerstands ist. Von ihm wird er auf eine seltsame, metaphysische Mission geschickt. Er soll zum Mount Meru, dem heiligen Berg Kailasch, Zentrum des Universums im Tibet pilgern und diesen im Uhrzeigersinn umkreisen, um durch diese Form des gehenden "Gebets" zum Weltfrieden beizutragen. Bei der Umrundung, die ihm als "perfekte Lebensaufgabe" erscheint, freundet er sich mit einer Gruppe von Pilgern an. Sie werden jedoch von chinesischen Offizieren aufgegriffen und als vermeintlich russische Spione in ein Arbeitslager gesteckt. 

Das Buch endet mit der Schilderung des Lagerlebens, dem sich der Erzähler trotz der unmenschlichen Bedingungen fügt, ja es sogar als Erlösung zu empfinden scheint. Man fragt sich sogar, ob sich der Erzähler über den Ernst der Lage wirklich bewusst ist - oder ob es für ihn keinen nennenswerten Unterschied macht, wenn er sich wie anfänglich auf einer Party bewegt, an der er sich unwohl fühlt. Die Realitätsverklärung kommt nachgerade zynisch zum Ausdruck, als der Gefangene sich freut, aufgrund des Nahrungsentzugs "endlich seriously abzunehmen". Der eingestreute Anglizismus unterstreicht nur seine Blasiertheit. Auch die sogenannte "Selbstkritik", d.h. die maoistische Indoktrinierung, nimmt er gleichgültig hin wie einen Partysmalltalk. Ein in seiner betont gleichgültigen Erzählhaltung unheimliches Buch, was zugleich seine Stärke ist.

Was will uns der Autor mit dieser Anti-Selbstfindungsreise vor Augen führen? Kritik an der Wohlstandsverwahrlosung? Kann die Jeunesse dorée das einzige Glück nur noch im Straflager finden, weil hier die existenzielle Leere mit Sinn aufgefüllt wird? Oder Sozialkritik? Das Lager als selbstverschuldetes Schicksal für politische Indifferenz und Flucht in eine Konsumwelt? Oder einmal mehr bei Kracht die hyperironische Inszenierung des Eskapismus, sei es nun an einer Untergrund-Party oder im Lager? "War waren verschwunden, es gab uns nicht mehr, wir hatten uns aufgelöst", heisst es kurz vor Schluss. Nota bene: Auflösung, nicht Erlösung.

Samstag, 22. März 2025

Christian Kracht: Air (2025)

Vorsicht Schlaumeier-Literatur! 

... Auf der Meta-Ebene ist es dann doch wieder ein raffiniertes Buch. Bei der Lektüre ist man zunächst eher enttäuscht, allzu glatt und belanglos wirkt die erzählte Geschichte auf den ersten Blick. Das mag mit ein Grund sein, weshalb die Kritik hin- und her gerissen ist zwischen Euphorie und Enttäuschung, abhängig davon, ob sie auf der Erzählebene verhaftet bleibt oder den Sprung ins Metaversum mitmacht. Der Unmut macht sich mit aus dem Roman selbst entlehnten Metaphern breit: Er sei nur "heisse Luft" bzw. ein "laues Lüftchen" oder die Story sei zu "flach". Doch dahinter steckt Kalkül. Eine Besonderheit von Krachts Prosa war es seither, dass sie mit Oberflächeneffekten operiert und doch eine Bedeutungstiefe suggeriert. So auch hier, im neusten Buch des Autors. Alles wirkt poliert und geschliffen, makellose Sätze reihen sich aneinander, die Geschichte entfaltet sich, trotz der Parallelführung zweier Erzählstränge, klar und geradlinig bis zur Banalität, und doch sind da allerlei Anspielungen und kleine Irritationen eingestreut, die zum Deuteln einladen. Und das macht wohl die Faszinationskraft von Krachts Roman aus, ähnlich wie eine Skulptur von Jeff Koons: Auf den ersten Blick möchte man ihn als puren Kitsch zurückweisen, auf den zweiten Blick erkennt man das Konzept dahinter. 

Hinzu kommt, dass bei Kracht stets auch eine sprachlich kaum fassbare Ironie mitschwingt. Etwa zu Beginn des Romans, als über mehrere Seiten die Wohnung des Schweizer Inneneinrichters Paul mit einem (ebenfalls ironisch?) überbordenden Adjektivreichtum, wie ihn heutzutage jeder Lektor aus dem Manuskript streichen würde, beschrieben wird: Ein Hipster-Klischee reiht sich an das nächste, vom akkurat arrangierten Designmagazin-Stapel bis hin zur umbrafarbenen Schale mit drei Walnüssen und einigen Muscheln, so dass sich die Szenerie nicht anders als parodistisch liest. Und zwar als Parodie auf den schlichten, minimalistischen Skandinavischen Stil, für den das Magazin "Kūki" wirbt, das da so säuberlich aufgestapelt liegt. An diesem Punkt wird es schon kompliziert bzw. bedeutungsschwanger: Das Magazin stammt zwar aus Norwegen, trägt aber einen japanischen Titel, der "Luft" bedeutet. Aha! Wie der Titel des Romans auf Englisch: "Air". Damit ist das Grundmotiv schon mehrschichtig gelegt. Der sich sowohl im Titel als auch im Programm des Magazins ausgedrückte Wunsch nach Leichtigkeit, Leere, Reinheit ja sogar Transzendenz bis hin zur Autolyse - sich in "Luft" auflösen. Der Wunsch nach Eskapismus und Gesellschaftsflucht artikuliert sich schon immer in Krachts Romanen. Er zieht sich als basso continuo durch sein Werk.

'Sich in Luft auflösen': Darin besteht just auch die Absicht des "sich selbst absichtlich irrelevant machenden Dekorationsmagazins" Kūki. Und darin besteht auch das Schicksal des Dekorateurs Paul, der, kurz nachdem er sich wünschte, "er könne in der Zeit verschwinden", tatsächlich - durch einen Stromschlag? eine Datenverschiebung in der Cloud? sicher jedenfalls durch einen Erzähltrick des Autors - in eine Fantasiewelt katapultiert wird, die ganz seiner puristischen Ästhetik entspricht. Er landet in einem vortechnischen Zeitalter mit karger Landschaft, Steinen, Eisflächen, unendlichen Weiten und Bewohnern, die eine karge Lebensweise pflegen. Er bewundert die "einfachen Gegenstände" dieser Welt: "Es war alles echt." Zugleich mutet sie aber wie ein Fantasy-Rollenspiel an: Zusammen mit einem Mädchen namens Ildr muss Paul, der nur noch "der Fremde" genannt wird, gegen Soldaten des bösen Herzogs kämpfen, die aus unbekanntem Grund hinter ihm her sind. Scheinbar ebenso grundlos ziehen beide zum Eismeer, weil sich Paul da eine unbekannte Erlösung verspricht. Im Verlauf ihrer Reise vermeint Paul, dass die Welt immer flacher werde, bis er schliesslich als Zauberer Merlin in das Bild von James Archer eingeht, das bei ihm in der Wohnung hing.

Wie die beiden Erzählebenen Pauls Design-Wirklichkeit und die scheinbar 'echte' Welt des Mittelalters, 'logisch' zusammenhängen, lässt mehrere Deutungen offen. Es könnte alles nur ein Traum sein (Paul schläft zu Beginn auf dem Sofa). Es könnte eine Nahtoderfahrung oder Jenseitsreise ein (Paul lehnt sich gerade gegen die Datenbank als der Stromschlag erfolgt, auch der Kūki-Herausgeber Cohen nimmt eine Überdosis Schlafmittel, bevor er in der anderen Welt erwacht. Ausserdem wird als intertextueller Fingerzeig flüchtig auf die Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren verwiesen). Oder es handelt sich um eine Computersimulation (darauf deutet der Fantasy-Charakter hin wie auch gewisse Unstimmigkeiten, die wie eine Fehlprogrammierung anmuten, wenn etwa im tiefen Mittelalter eine Schraube auftaucht: "Eigentlich dürfte es solche Dinge hier nicht geben."). Handelt es sich um Gesellschaftskritik (Stichwort "Verflachung der Welt", eine Parodie auf die Flat-Earth-Bewegung) oder um eine antizivilistische Propaganda (Stichwort: das Neuheidentum, den Rodismus, für den der Kūki-Herausgeber Cohen zu schwärmen beginnt)?Wie immer kokettiert Kracht auch hier mit fragwürdig reaktionären oder sogar faschistoiden Ideologien.

Für jede dieser Deutungen sind Hinweise verstreut. Alles ist vom Autor bereits mitgedacht. Schlaumeier-Literatur eben. Wie subtil der Roman bis ins Detail gearbeitet ist, zeigt bereits der erste Satz, der zweifelsohne als einer der ersten besten Sätze in die Literaturgeschichte eingehen wird: "Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich." An sich ist diese direkte Zurücknahme schon grandios, die Raffinesse der Formulierung erweist sich aber erst in der Doppelsemantik dieser Verneinung, die sich sowohl auf die Sorgen als auch auf das Leben beziehen kann. Zunächst ist man geneigt, den Satz so zu verstehen, dass das Leben nicht wirklich voller Sorgen sei (not really). Doch - und Kracht hat das bei seiner Lesung an der Buchvernissage durch die Doppelbetonung eigens vordemonstriert - könnte man den Satz auch so verstehen, dass das Leben selbst nicht wirklich sei (not real). Und damit dringt man bereits tief in die Grundproblematik des Romans vor, der die Frage aufwirft, auf welchen Realitätsebene er sich bewegt. Erwähnt der Autor dann noch schelmisch in einem Interview, seine Tochter habe ihn darauf hingewiesen, dass im Titel auch die Artificial Intelligence (AIr) steckt, legt er geschickt den Köder, den Roman als Parabel auf ein durch und durch künstliches, computergeneriertes Leben zu lesen.

Schliesslich steht genau in der Mitte und damit im architektonischen Zentrum des Romans das gigantische Rechenzentrum, in dem das gesamte Gedächtnis der Menschheit gespeichert ist. Auch da operiert Kracht wieder mit einer bivalenten Formulierung: "Dort wohne im Grund die Cloud". Auch das lässt sich zweifach verstehen: Einerseits topologisch: tief unten, wobei hier zusätzlich mit der Paradoxie gespielt wird, das sich die Cloud (Wolke) auf dem Grund befindet. Eine ähnlich verkehrte Welt, wie die simulierte in der Parallelgeschichte, wo die Sonne im Westen untergeht. Andererseits lässt sich das 'im Grunde' auch rein hypothetisch verstehen: eigentlich, aber 'nicht wirklich'? Die Frage nach der Wirklichkeit durchzieht den Roman von Anbeginn: Bereits Pauls Tätigkeit als Inneneinrichter ist darauf angelegt, mit den "inszenierten Wohnräumen" eine falsche Realität vorzutäuschen, um bei den Kunden Sehnsüchte zu wecken. Dasselbe gilt für Träume, von denen einmal gesagt wird, durch sie könne man "in andere Welten" gehen. Und schliesslich wird auch die Möglichkeit diskutiert, ob die Persönlichkeit nach der Auflösung des Körpers virtuell weiterleben könne. Der Computer biete somit eine "Hoffnung", "die immateriell ist" - genauso wie Pauls Innenausstattungen.

"Hoffnung", so hat Paul nicht von ungefähr auch sein Ruderboot getauft, das dann in der Parallelwelt wieder auftaucht. Auf diese Weise so lassen sich ad infinitum weitere Bezüge herstellen, die der Autor sorgsam gestreut hat, ohne dass sich damit der Text näher erschliessen würde. Das Deutungsangebot bleibt offen. Und der Autor lacht sich ins Fäustchen. Schlaumeier!

Mittwoch, 19. März 2025

André Pieyre de Mandiargues: Das Motorrad (1963)

Der 1909 in Paris geborene Mandiargues gehörte zum Umkreis der Surrealisten rund um André Breton, mit dem er eine enge Freundschaft pflegte. Doch dieser relativ späte Roman weist, abgesehen von einigen Traumsequenzen und der Schilderung einer abgründig perversen Leidenschaft, kaum mehr surrealistische Züge auf. Im Gegenteil: Der Erzählton ist eher klassisch-gediegen und von einer , das Erzähltempo gedrosselt, was dem Motiv der rasanten Motorradfahrt diametral entgegen steht. So als hätte Thomas Mann eine Road Novel geschrieben. Vom Flair wiederum ist der Roman ein typisches Kind der 1960er Jahre, was sich auch daran zeigt, dass er erstaunlich rasch verfilmt wurde - der Streifen kam 1968 ins Kino mit Marianne Faithfull, der Ikone der Swinging Sixties, in der Hauptrolle. Ein Jahr später knatterten die Easy Rider Peter Fonda, Dennis Hopper und Jack Nicholson über die Leinwand.

Die Geschichte handelt von einer Amour fou, von einer jungen, 19jährigen Frau namens Rebecca, die sich in ein gefährliches Liebesspiel verwickelt. Der Roman beginnt damit, dass die frisch Verheiratete verfrüht aus einem Traum erwacht und kurzerhand beschliesst, das Ehebett zu verlassen, sich nackt die schwarze Lederkombination überzieht und auf ihr Motorrad steigt, um - wie 12 Tage zuvor schon - zu ihrem Liebhaber nach Deutschland zu fahren. Von ihm, einem an Esoterik interessierten Kunden ihres Vaters, der eine Buchhandlung führt, hat sie dieses Motorrad als Hochzeitsgeschenk bekommen, nachdem er vor der Hochzeit nächtens in ihr Hotelzimmer und schliesslich wie ein Inkubus auch in sie eingedrungen ist. Seither bindet sie ein magischer Bann an diesen mysteriösen Mann, den sie als ihren "Tigergott" verehrt und ihm absolut unterwürfig ergeben ist. Auf der Motorradfahrt zu ihm verfällt sie etappenweise in Tagträume und Reminiszenzen, an die sexuelle Initiationen.

Das führt zu einem eigentümlichen erzähltechnischen Effekt: Trotz der rasenden Geschwindigkeit, mit der Rebecca auf ihrem Motorrad unterwegs ist, zögert sich ihre Ankunft ständig hinaus: "die Zeit entschlüpft ihrem Blick". Sie befindet sich auf dem Weg in eine zeitlose, transzendente Sphäre. In ein Nirwana. Am Ende wird sie auch gar nicht ankommen, sondern tödlich verunglücken. Die Fahrt voraus führt somit zurück in die Vergangenheit: Wie seitlich die Häuser an Rebecca "wie eine Folge kleiner Träume" vorbeiziehen, so ziehen auch die Erinnerungsbilder an ihrem inneren Auge vorüber. Dabei verschmilzt sie zusehends mit ihrer Maschine zu einem "vollkommenen Ungetüm", gibt sich dem vibrierenden Motor unter ihren Schenkel mit derselben Ergebenheit, wie sie sich auch ihrem Liebhaber unterwirft. Die rauschhafte Fahrt steigert sich zu einem transluziden Zustand, der schliesslich im letalen Crash als der ultimativen Form der Ekstase und Erleuchtung mündet.

Ein Motiv, das man sowohl aus Marinettis Futuristischem Manifest als auch aus J.G. Ballards Crash oder John Hawkes Travestie kennt. Mandiargues führt dem eine esoterische Ebene hinzu: Der Liebhaber, Daniel Lionart, entpuppt sich als Swedenborgianer, als Anhänger des Schwedischen Mystikers und Theosophen Emanuel Swedenborg, und scheint mit spirituellen Ritualen vertraut. Er erscheint Rebecca in seinem Morgenmantel als "Priester einer sonderbaren Religion". Allerdings erinnern die zuweilen brutalen Exerzitien, die er an Rebecca vornimmt, eher an sexualmagische Praktiken eines Aleister Crowley als an Swedenborgs Lehre von der göttlichen Weisheit und Liebe. Die letale Motorfahrt lässt sich hingegen als Allegorie der Swedenborgischen Metaphysik lesen, derzufolge der irdische Körper als rein äussere Hülle im Moment der Aufweckung abgestreift werde, um in die rein geistige Welt überzugehen. So mündet der Roman denn auch mit einer kosmischen Auflösung: "Ein übermässiges lächelndes Antlitz wird sie verschlingen [...], ein menschliches, übermenschliches Antlitz, das letzte, vielleicht das eigentliche Antlitz des Alls."

Dass es sich bei diesem Gesicht lediglich um das Werbebild des Lastwagens handelt, in den Rebecca mit Vollgas donnert, ist die bittere Pointe des Romans. Es handelt sich um einen Weintransporter mit einem aufgemalten lachenden Bacchus auf der Plane. Allegorisch steht natürlich auch dieser Weingott für dionysischen Rausch und Ekstase, freilich weitaus profaner als es die von Swedenborg indoktrinierte Rebecca zum Zeitpunkt ihres Todes wähnt. Vor ihrem Crash kippte sie mehrere Gläser Kirschwasser in einer Kneipe.

Dienstag, 4. März 2025

Walter Vogt: Die Talpi kommen! (1973)

Das Buch erschien zuerst 1971 mit dem Untertitel "Ein Miniroman für kluge Kinder" im Berner Verlag "Gute Schriften". Um ein Kinderbuch handelt es sich deswegen bei Weitem nicht. Zumindest machen Illustrationen und sogenannte "Wandtafelsätze" (siehe Peter Bichsel, dessen Kindergeschichten eben auch keine sind) noch lange kein Kinderbuch. Auch das Glossar im Anhang verfolgt keinerlei pädagogische Absichten, auch wenn dort das Lemma "Glossarium, Glossar" ironisch wie folgt erläutert wird: "Worterklärungen für Lehrer und besorgte Eltern". Nicht die Kinder sollen also belehrt, sondern die Erwachsenen beruhigt werden. Auch die restlichen Begriffe werden im Glossar mit ähnlich fröhlichem Unernst erklärt, oft im subversivem Gegensinn bis hin zur kompletten Un- bzw. Blödsinnigkeit: "Einweihungsriten: Riten zur Einweihung Uneingeweihter durch Riten (sog. 'Einweihungsriten')." Besser liesse sich die hilflose Redundanz terminologischer Bemühungen nicht demonstrieren. In ebenso selbstbezüglicher Weise wird der im Text fallende Begriff "Rekombinatorenbank" im Glossar erläutert: "Literatur zum Thema 'Rekombinatorenbank': Vogt, W. 'Die Talpi kommen!' (Sauerländer, Aarau, 1973). Einziges einschlägiges Standardwerk von Bedeutung."

Womit wir beim Thema wären: Worum geht's? Um Ausserirdische, die Talpi. Ja, auch. Vor allem aber um zwei Jungs, den Polizistensohn Alex, der über den sechsten Sinn verfügt, und den Apothekersohn Hans, genannt "Busch", der Alex mit Unmengen von Phosphortabletten versorgt, um dessen sechsten Sinn konstant aufrecht zu erhalten. Beide entdecken im Katzloch (bei Punkt 736 auf der Karte Belpberg 1:25000) ein Höhlensystem, in dem sich auch ein ausserirdischer Talpi verirrt hat. Sie wollen es als eine "Mischung von Räuberlager und Arche Noah" zu einer eigenen Behausung umfunktionieren. Zu diesem Zweck betäuben und entführen sie nicht nur Tiere, sondern auch andere Kinder Lehrer und Haushälterinnen, um eine Art unterirdische - oder wie sie es nennen - "exterritoriale" Gemeinschaft zu bilden. Gleichzeitig sind die wahren Extraterrestrischen, die Talpi, unterwegs Richtung RD (sprich: ErDe) in ihrem Raumschiff "Talgo due", auf dem sie als einziges menschliches Exemplar den Philosophen Ludwig Feuerbach mit an Bord führen, um ihn am Ende gegen ihr im Höhlenloch verirrtes Mitglied austauschen. Doch so linear, wie hier nacherzählt, erfolgt die Geschichte nicht. Sie zeichnet sich vielmehr durch diverse temporale Sprünge und auktoriale Störmanöver aus bis am Schluss, wo der Autor - wie es Roland Barthes in Der Tod des Autors (1967) fordert - den Stab dem Leser übergibt.

Es ist vielleicht Walter Vogts heiterstes und lockerstes Werk. Deshalb stellt das Buch in seiner Unbekümmertheit so manche angestrengte, weil betont sprachgedrechselte und um Relevanz heischende Neuerscheinung bei Weitem in den Schatten. Vogts Anspruch ist alles andere, als gesellschaftlich relevant zu sein - und gerade deshalb ist er es umso mehr. Vordergründig voller Witz und Schabernack, Stil- und Konventionsbrüchen, manchmal scheinbar zu billigen Pointen neigend, die aber doch wieder von einem untergründigen Sarkasmus aufgefangen werden. Im Überhang zum Absurden bleibt die sozialkritische Dimension nicht verborgen, auch nicht im Glossar, das diverse gesellschaftspolitische Begriff explikativ subvertiert und damit einen kritischen Echoraum schafft. Man braucht eigentlich nur das unter dem Titel "Der Autor gibt seine Visitenkarte ab" stehende Vorwort zu lesen, um den satirischen Grundtenor des Textes zu erfassen, sowohl in formaler Hinsicht mit seinem unverfrorenen Umgang jeglicher Erzählkonventionen als auch in kritischer Hinsicht mit allen subversiven Untertönen. Unter dem Strich einfach ein grossartiges Lesevergnügen, bei dem der Spass ebenso wie der Intellekt auf seine Kosten kommt.