Donnerstag, 30. November 2023

Chris Kraus: I love Dick (1997)

Nachdem das Lesefrüchtchen mit G. einen Roman gelesen hat, der die unbeholfene Strichzeichnung eines Pimmels enthält, scheint ihm ein Buch mit dem Titel I love Dick die folgerichtige Lektüre zu sein. Der Titel ist natürlich zweideutig zu verstehen - oder mehr noch ist der Titel zunächst nichts anderes als eine plakative Provokation. Denn 'Dick' bezeichnet auf der Erzählebene weniger das männliche Gliedteil als ein erfolgreicher Universitätsprofessor namens Dick, der aber tatsächlich als Sinnbild des inkarnierten Phallogozentrismus figuriert, seinen Namen symbolisch folglich zurecht trägt. 

Das Buch gilt als Referenzwerk, ja als Klassiker feministischer Literatur. Um das zu begreifen, braucht es einige Zeit. Erst in der zweiten Hälfte entfaltet das Buch sein wahres Potential und beginnt wütend, kontrovers und politisch zu werden. Die Geschichte hebt damit an, dass die Ich-Erzählerin, die weitgehend identisch mit der Autorin Christ Kraus ist, und ihr Mann bei Dick eingeladen sind, wo sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Was sich zwischen den beiden an diesem Abend abspielt, nennt Kraus einen "Konzeptfick". Wie bei der Konzeptkunst geht es wohl auch da weniger um die tatsächlich Ausführung, sondern um die reine Idee. 

Aus dem Konzeptfick entwickelt sich daher naheliegender Weise ein Kunstprojekt. Chris und ihr Mann Sylvère beginnen Liebesbriefe an Dick zu schreiben, die sie jedoch nicht abschicken. Was als Spass anfängt, wird für Chris immer ernster, so dass sie sich schliesslich von ihrem Mann trennt, unter anderem weil sie erkennt, dass sie nicht mehr als eine bessere Partybegleitung ihres angesehenen Gatten ist, in dessen Schatten ihre eigene Existenz als Regisseurin gleichsam "ausgelöscht" wurde. Sie übergibt Dick die Briefe und verbringt sogar eine Nacht mit ihm, was jedoch nur zu erneuter Enttäuschung führt, als sie post coitum feststellen muss, dass für Dick der "subtilste, psychowissenschaftliche Blowjob überhaupt", den sie ihm verpasste, nicht mehr als eine willkommene Nummer war, weil er beschlossen habe, "niemals mehr Nein zu sagen".

Selbst beim romantisch idealisierten Dick fühlt sich Chris also einmal mehr als Frau ausgenutzt, gedemütigt und beschämt. Scham ist ein entscheidendes Stichwort für den zweiten Teil des Buches, wo Kraus die Frage erörtert, weshalb für Frauen sooft schambehaftet sei, was Männer berühmt mache, zum Beispiel das Schreiben "in der 1. Person", sich selbst zum Thema zu machen. Gerade dies verfolgt Chris Kraus jedoch konsequent in ihrem Buch, das nicht nur die radikale Ich-Perspektive wählt, sondern überdies mit Klarnamen arbeitet. Alle Personen sind leicht als ihre realen Vorbilder identifizierbar, selbst Dick, dessen Nachname zwar nie genannt wird, hinter dem jedoch unverkennbar der Medientheoretiker Dick Hebdige steht. Die autofiktionale Vermischung zwischen Text und Lebenswelt führt sogar so weit, dass das Buch im Verlag von Sylvère Lotringer, der Edition Semiotext(e), erschienen ist.

Obschon die Desillusionierung mit Dick quasi die feministische Wende bei Chris Kraus initiiert, hört sie nicht auf, Dick Briefe zu schreiben. Bloss sind es nun keine Liebesbriefe im eigentlichen Sinne mehr, sondern ein "Manifest" mit dem provokanten Titel "Jeder Brief ist ein Liebesbrief", das sich insbesondere mit feministischer Kunst auseinandersetzt, mit Ausstellungen von Eleanor Antin, Miriam Shapiro, Hannah Wilke, Judy Chicago u.a. oder mit feministischen Vordenkerinnen wie Simone Weil. Aber auch die Marginalisierung durch das eigene Judentum (das "Itzig"-Sein) kommen zur Sprache und vor allem die fehlende öffentliche Anerkennung von Frauen. Die Frage: "Wer darf sprechen und warum?" ist leitend und die von der Autorin gezogene Bilanz ernüchternd: nach wie vor werde der weibliche Diskurs strukturell unterdrückt. 

Aus dieser Bilanz, dass es "nicht genug niedergeschriebene weibliche Unbändigkeit gibt", leitet Chris Kraus das Kernanliegen ihres Buches ab, das sich in einer Schlüsselpassage verdichtet, die es verdient, ausführlich zitiert zu werden: "Ich habe mein Schweigen und alles Verdrängte mit dem Schweigen des gesamten weiblichen Geschlechts zusammengeführt, und mit all dem, was es verdrängt. Ich glaube, dass es sich bei der blossen Existenz von sprechenden, seienden, paradoxen, unerklärlichen, schnoddringen, selbstzerstörerischen, doch in allererster Linie öffentlichen Frauen um das überhaupt Allerrevolutionärste auf der ganzen Welt handelt." Aus diesem Statement erklärt sich auch die radikale Selbstentblössung, die sich die Autorin gibt. Ihr Ziel ist es, eine "Ehrlichkeit" zu erreichen, welche - einem zitierten Wort René Crevels zufolge - die "Ordnung bedroht".

Ordnung - gemeint ist in diesem Kontext selbstredend die patriarchale Ordnung, mit der das Buch auf eine fulminante, schamlose und deshalb mitunter auch exhibitionistische Weise abrechnet. Doch ist die Autorin zu klug, als dass sie dies nicht mit in ihre Erzählstrategie einkalkuliert, denn erst die Tabuverletzung vermag ihrer Ansicht nach eine Enttabuisierung herbeizuführen. Ist das Experiment gelungen? Dem Buch selbst ist - als ironische Volte - das eigene Scheitern eingeschrieben. Dick liest die an ihn gerichteten Briefe, insbesondere das "Manifest", erst gar nicht, dann nur flüchtig, ignoriert die Absenderin und ihr Anliegen also weitgehend, und bequemt sich erst durch die nachdrückliche Bitte des Ex-Partners Sylvère endlich zu einer Antwort. Diese ist denn auch an Sylvère direkt und nicht etwa an Chris gerichtet - sie bekommt lediglich dasselbe Schreiben in Kopie. Krasser könnte der postulierte weibliche Diskursausschluss nicht demonstriert werden.


Donnerstag, 16. November 2023

John Berger: G. (1972)

G. - so lautet das Initial des Protagonisten, der - wenn es nach seinem Vater gegangen wäre - Giovanni heissen würde. Den wirklichen Namen erfahren wir nie, dafür wissen wir, dass der Junge in der Schule den Übernamen Garibaldi (nach dem italienischen Freiheitskämpfer) erhielt, weil sein (unehelicher) Vater Italiener war. Im Deutschen besitzt G. - ausgesprochen als 'G-Punkt' - freilich noch eine weitere, sexuelle Bedeutung: Gemeint ist damit landläufig die sogenannte Gräfenberg-Zone, die erogene Zone der weiblichen Vagina. Ob diese Allusion auch im Englischen, der Original-Sprache des Romans, mitschwingt, weiss das Lesefrüchtchen nicht. Ganz unpassend wäre es jedenfalls nicht, zumal dieser G., dieser ungenannte Giovanni, seinem Namen mehr als nur gerecht wird: Handelt es sich doch um "Don Juan" höchstpersönlich.

Wer nun einen erotischen Roman erwartet, liegt falsch, obschon es explizite Szenen gibt, ja sogar pennälerhafte Strichzeichnungen von Geschlechtsteilen, was aber niemals pornographisch wirkt, da die Prosa durchwegs durch- und metareflektiert ist, was den Roman zu einem (frühen) Vertreter der literarischen Postmoderne macht. Wie schon in den klassischen Bearbeitungen des Don Giovanni-Stoffes ist auch hier die Verführer-Geschichte eingebettet in einen zeithistorischen Kontext. Der Roman bietet ein episches Panorama vom Burenkrieg in Südafrika bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Im mittleren und zentralen Teil wohnen wir der ersten Überquerung der Alpen in einem Flugzeug bei. Ein historisch verbürgtes Spektakel, das anno 1910 der Luftfahrtpionier Jorge Chavez unternahm, der im Roman unter der Schweizer Variante seines Klarnamens auftaucht: Geo Chavez. Auch er ein G.

Nicht von ungefähr: Das Schicksal dieses Flugpioniers ist in mehrerer Hinsicht mit demjenigen des Protagonisten G. verknüpft. Nicht allein, dass G. beim Start des Flugzeugs in Brig ein Zimmermädchen kurz vor ihrer Heirat vernascht, und nach der Bruchlandung in Domodossola einem wohlsituierten Herrn die Ehefrau ausspannt (der ihn sodann mit der Pistole verfolgt), nein, worin sich Geo und G. vor allem gleichen, ist die Sorglosigkeit ihres Tuns: "Wie der Flieger mochte auch er sorglos gewesen sein." Beide riskieren alles, um auf den G-Punkt zu gelangen - wahlweise die sexuelle Erfüllung oder die maximale Flughöhe - und beide gehen schliesslich an ihrem Wagemut zu Grunde. Geo Chavez erliegt nach dem Absturz im Spital den Verletzungen, G. wird Jahre später in Triest zum Opfer eines Überfalls kurz vor dem Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg, weil er fälschlicherweise als österreichischer Agent und Aufwiegler verdächtig wird.

Wie Zeno Cosini bei Italo Svevo findet sich auch G. ähnlich unbeteiligt von den politischen Geschehnissen bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Triest. So geht er auch seltsam gleichgültig in den Tod: Weder setzt er sich gegen seine Angreifer zur Wehr, noch legt beweist er eine heroische Todesbereitschaft. Er lässt es mit sich geschehen. Entsprechend lapidar wird der Tathergang erzählt. G. spürt noch den "Geschmack der Milch" als "Wolke des Unwissens" in seinem Mund. Dann wird er ins Meer geworfen. In einem filmreifen Schwenk führt der Blick hinaus ins offene Meer, wo sich die untergehende Sonne in den glitzernden Wellen spiegelt. Der letzte Satz lautet: "Der Horizont ist nur wie die gerade Bodenkante eines Vorhanges, der willkürlich plötzlich am Ende einer Vorstellung herabgelassen wird." Aufführung vorbei. Schluss.

Ein rätselhafter Tod, der sich vielleicht narratologisch dadurch erklärt, dass G. als Don Juan längst zur "Legende" geworden ist, was aber sich so anfühlt, wie es gegen Ende des Romans heisst, als sei man "lebendig begraben". G. erkennt intuitiv, dass seine "Zeit" vorbei ist, dass er sein sozialrevolutionäres Potential als ewiger Verführer eingebüsst hat. "Es war nicht mehr die Zeit an sich, die ihn weiterbringen konnte, denn die Zeit war bedeutungslos geworden." Deshalb entscheidet er sich, gleichsam in einem acte gratuit, sein Image abzulegen, indem er die Frau eines österreichischen Bankiers entgegen der ursprünglichen Absicht gerade nicht verführt (wohl auch weil es für ihn uninteressant wurde, da sie sich als Nymphomanin geradezu aufdrängt und ihr Mann, der in Anlehnung an Tolstois Ehebruch-Roman Anna Karenina, kein "Karenin" sein will, es sogar gönnerhaft zulässt). Stattdessen hilft er einer jungen Slowenien - und besiegelt damit sein Schicksal.

Neben seiner thematisch komplexen Verknüpfung von Sexualität, sozialen Fragen und zeitgeschichtlichen Hintergründen besticht der Roman durch seine chronologisch lose Erzählweise, die durch die vielen mit Leerzeilen getrennten Abschnitte auch visuell erkennbar ist. Es sind Bausteine, die eher mosaikartig als kontinuierlich, die Ereignisse umkreisen, mit Wiederholungen, Disruptionen, Pro- oder Metalepsen und ständig durchsetzt mit Reflexionen des Erzählers, der Probleme der Darstellbarkeit diskutiert oder die Geschicke seines Helden kommentiert. Jedoch nicht als souveräne auktoriale Stimme, der über alles beredt Auskunft gibt, sondern quasi aus der Position eines aussenstehenden Beobachters, dem vieles, was sich ereignet, genauso erklärungsbedürftig scheint wie den Lesenden. 

Samstag, 11. November 2023

Edgar Allan Poe: Der wahre Sachverhalt im Falle Valdemar (1845)

Eine späte Kurzgeschichte des Godfathers of Grusel in Form eines Rechenschaftsberichts: Ein anonymer Ich-Erzähler, der sich seit einiger Zeit mit dem Phänomen des Mesmerismus, eine bis ins 19. Jahrhundert virulente Heilmethode, beschäftigt, schildert eine sonderbare Begebenheit. Der Mesmerismus - begrifflich abgleitet von Franz Anton Mesmer, dem Entdecker des sogenannten 'animalischen Magnetismus' - basiert auf Hypnosetechniken, die dem Körper zu neuer Vitalität verhelfen sollen. Doch wie dem Erzähler auffällt, wurde bislang kein Mensch "in articulo mortis mesmeriert". 

Zufälligerweise kennt der Erzähler einen Freund, Ernest Valdemar, der aufgrund seines nervösen Charakters schon früh ein dankbares Versuchskaninchen für magnetische Experimente war und der nun im Sterben liegt. Es soll deshalb der Versuch gewagt werden, ob der Mesmerismus auch als lebensverlängernde Massnahme taugt. Als die Ärzte erstaunlich präzise die Todesstunde bestimmen können, eilt der Erzähler zu seinem Freund und mesmeriert ihn auf dem Sterbebett, indem er ihm - wie es die Regeln der Kunst verlangen - mit Handstrichen magnetische Energie zuführt.

Zuerst scheint die Übung wirkungslos, Valdemar ist im Begriff dahinzuscheiden, sein Puls lässt nach, sein Atem erlischt, dann jedoch zeigen sich "unleugbare Anzeichen des mesmerischen Einflusses". Er befindet sich nun in Hypnose und der Erzähler versucht eine erste Kontaktaufnahme. Auf die Frage, ob er schlafe, antwortet er im Flüsterton: "Ja, ich schlafe jetzt - wecken Sie mich nicht. - Lassen Sie mich so sterben." Als im Verlauf des Abends die Frage wiederholt wird, antwortet Valdemar erneut, nun aber mit einer schauerlichen Stimme, die wie "aus weiter Ferne", "aus einer tiefen Höhle im Innern der Erde" zu kommen scheint: "Ja - nein - ich habe geschlafen - und nun - nun - bin ich tot."

Obschon diese Nachricht und vor allem der "schauerliche" Ton, in dem sie vorgebracht wird, allen Anwesenden "zähneklapperndes Grauen" erregt, beschliesst man den Sterbenden weiterhin in seinem hypnotischen Zustand zu belassen, da man der allgemeinen Überzeugung ist, der Eintritt des Todes sei "durch den magnetischen Prozess" aufgehalten worden. Ganze sieben Monate observieren die Ärzte und der Erzähler den "Schlafwachenden", dessen Zustand unverändert apathisch bleibt, und einzig "im Vibrieren der Zunge" noch "Anzeichen einer magnetischen Einwirkung" erkennen lässt. 

Endlich entscheidet man sich, den Hypnotisierten wieder zu wecken und damit ins Leben zurückzurufen. Doch entgegen aller Erwartung steht Valdemar nicht wieder auf, sondern verfault vor den entsetzend Augen aller Anwesenden. Die Erzählung schliesst mit einer Gore-Szene par excellence: Als der Erzähler seine "magnetischen Striche" macht, "schrumpfte, zerbröckelte, verfaulte sein ganzer Körper unmittelbar, im Verlauf einer einzigen Minute oder nicht einmal einer Minute, unter meinen Händen. Auf dem Bett, vor den Augen der ganzen Gesellschaft, lag eine nahezu flüssige Masse von ekelhafter, abscheuerregender Fäulnis."

Valdemar war schon lange tot, der Magnetismus hat lediglich den physischen Verfall seines Körpers aufgehalten, der nun in Sekundenschnelle abläuft. Den Geist weiterhin am Leben bzw. im Körper zu halten, vermochte er jedoch nicht. Die Antworten mit der schauerlichen Stimmen kamen bereits aus dem Totenreich.


Mittwoch, 1. November 2023

Blaise Cendrars: L'Eubage. Aux Antipodes de l'Unité (1917)

Nachdem das Lesefrüchtchen mit Terra! kürzlich eine Space Opera par excellence gelesen hat, folgt hier erneut ein Weltraum-Abenteuer, das jenes um einiges überbietet, obschon es wesentlich kürzer ist. L'Eubage (auf deutsch: Im Hinterland des Himmels, 1987) ist ein ultraknappes Buch, manche Kapitel sind lediglich eine Seite lang, man hat es in Windeseile gelesen, ja man muss es fast in einem Zug lesen, weil es einen solchen Sog erzeugt. Denn trotz des geringen Umfanges ist es unendlich reich, lebt von seiner urwüchsigen, visionären Kraft und seiner zugleich präzisen wie pulsierenden Beschreibungskunst.

Man begleitet den "Wissenschaftler" (oder etwa "Hochstapler?") Eubage - so nannten die Gallier früher ihre Astronomen - auf seiner rasanten Reise ins All. In Sekundenschnelle wird man in kosmische Sphären katapultiert, durchläuft Äonen und Lichtjahre, taucht in die unbekannten Tiefen des Alls ein mit seinen Planeten, Gestirnen und gigantischen Urwesen, bis die fulminante Fahrt jäh endet und - ehe man es sich's versieht - zu reinster Sonnenmaterie zerstäubt sich mit dem Elementaren verbindet. Der letzte Satz, bevor das Raumschiff wieder in die Atmosphäre eindringt, ist so atemlos und orgiastisch wie der gesamte Text: "Fragezeichen? Zickzacklinie! Explosion."

Ein Buch wie ein Urknall: äusserst verdichtet, doch breitet sich darin ein ganzer Kosmos aus. Tatsächlich wohnen wir in den beiden längsten und wohl auch zentralsten Kapiteln der Geburt der Sternzeichen und der Sterne (in Form von Getreidenamen!) bei. Die faktische Reise dauert zwar nur ein Jahr - die einzelnen Kapitel sind eingeteilt von März bis Februar -, durchmessen wird dabei ein ganzes Weltalter. Der Ich-Erzähler, der den Tractatus Secundus von Robert Fludd stets mit sich führt, ist dabei eine Mischung zwischen Genie und Hasardeur. Mitunter kann er das Gelingen seines tollkühnen Unternehmens selbst nicht richtig fassen, dann wiederum stürzt er sich mit Wonne ins All.

Die interstellare Reise ist (wie in Terra! und so vielen anderen SF-Geschichten) auch hier eine Reise in die Vergangenheit: "Die Uhr - die Uhr läuft unerbittlich rückwärts. 1000 Jahre, 10'000 Jahre, 100'00 Jahre." Mehr noch ist es eine Reise ins Innere der Hirnrinde. An einer Stelle sagt der Ich-Erzähler: "Ich bin nur noch Geistesschärfe!" Insofern gibt sich die Erzählung auch unumwunden als reine Phantasmagorie zu erkennen - als eine Art eine Schöpfungsgeschichte, die sich quasi selbst hervorbringt. Oder wie es der Autor in einem Brief an seinen Förderer, den Modeschöpfer Jacques Doucet, erwähnt: "das Hinterland des Himmels sozusagen, wo die Gewalten und Formen entspringen, was man Geist und Leben nennt".

Blaise Cendrars schrieb diese Weltraum-Rhapsodie, die er selber ein "kleines Büchlein über gar nichts" nannte, 1917 in einer Scheune ausserhalb von Paris, als er als Kriegsfreiwilliger von der französischen Front heimkehrte - auf dem Feld hatte er seinen rechten Arm verloren. Es handelt sich um seinen ersten Prosatext, der bereits die ersten Akzente für seine späteren Romane setzt: die Durchdringung des Textes mit purer Lebenskraft, die Sprachgewalt und die schier enzyklopädische Fülle. Die deutsche Ausgabe enthält im Anhang eigens ein Glossar zur Erklärung der biologischen und astronomischen Fachbegriffe. Reinste "Hirnsaat".




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