Sonntag, 9. Mai 2021

C.K. Chesterton: Der Mann, der Donnerstag war (1908)

G.K. Chesterton war weitaus mehr als nur der Erfinder des behäbigen Ermittlerpriesters Pater Brown. Neben diesen berühmten Kriminalgeschichten verfasste er eine Fülle von weiteren Erzählungen, scharfsinnige und witzige Essay so wie eine Handvoll Romane, von denen The man who was Thursday (1908) am einflussreichsten war. Es ist eine Mischung aus Thriller und Nonsens, welche die Grenzen zwischen Traum und Realität verwischt, und gilt deshalb als Vorläufer von alptraumhaften Visionen eines Kafka oder Borges. Im Untertitel wird der Roman auch als «A Nightmare» bezeichnet – in der deutschen Übersetzung als «eine Nachtmahr». Am Ende entpuppt sich tatsächlich alles als verrückter Traum, wobei es unklar ist, wann genau die Erzählung die Realitätsebene verlässt und in eine zusehends irrwitzige Phantasmagorie schlittert. Es gehört jedoch zur Raffinesse des Erzählers, dass die Ereignisse, so absurd sie auch anmuten, nie unglaubwürdig wirken.

Doch worum geht es: Im Zentrum steht der Dichter Gabriel Syme, der von einer Spezialeinheit der Polizei angeheuert wird, um sich in Anarchistenkreise einzuschleusen, was ihm auch gelingt. Unter dem Decknamen «Donnerstag» dringt er in den inneren Zirkel um den hünenhaften, ominösen «Sonntag» vor, der in ganz England Sprengstoffattentate mit Dynamit plant, die es zu vereiteln gilt. In ständiger Angst aufzufliegen, fühlt sich Syme von Anarchisten aus der Gruppe observiert. Es kommt zu Duellen und rasanten Verfolgungsjagden zu Fuss im Auto und im Ballon, die aber alle in der Pointe münden, dass jeder der vermeintlichen Anarchisten sich in Tat und Wahrheit als verdeckter Ermittler erweist. So stellt sich schliesslich die ganze Anarchistenbande als maskierte Gesetzeshüter heraus, die von der Person namens «Sonntag» rekrutiert worden war. Der Roman mündet schliesslich in einer allegorischen Szene, wo alle Polizisten als Personifikationen der Wochentage figurieren und sich zu einem Show-down versammeln – bis dann die Traumblase zerplatzt und der Protagonist Syme wieder erwacht.

Die faszinierendste Figur des Romans ist jedoch der rätselhafte Sonntag, der als eine Art Übermensch oder Gott geschildert wird: ein Riese, ein halbes Tier, der mit der mythologischen Gestalt des Pan verglichen wird und den Syme an die «kolossale Memnonmaske» im British Museum erinnert. Sonntag ist eine dämonisch-archaische Urgestalt, auch eine karnevaleske Figur im Sinne Bachtins, wenn er etwa seinen Verfolgern seine «unmessbare, unübersehbare Hinteransicht» präsentiert und sie mit Nonsens-Botschaften traktiert. Er ist eine irrationale Kraft, welche das Verständnis der Menschen übersteigt; er ist der Gott, der mit den Menschen spielt und darüber lacht. Kurz vor dem Aufwachen stellt er Syme die Frage: «Vermagst Du aus dem Kelch zu trinken, aus dem ich trinke?» Gemeint damit ist der ‘bittere Kelch’, der «Becher des Zorns», aus der Bibel als Symbol für ein schweres Schicksal, das es zu ertragen gilt. Der Mensch, so die Pointe von Chestertons «Nachtmahr», muss die Absurdität seines Daseins ertragen, auf die nicht einmal ein Gott eine Antwort weiss. Der Roman gibt sich so als eine umgekehrte Theodizee zu erkennen. Chesterton soll einmal gesagt haben: Die Welt sei «die beste aller unmöglichen Welten».

Sonntag, 25. April 2021

Dror Mishani: Drei (2018)

Das ist er also, der Roman, der Finn Canonica solche Angst gemacht hat, wie er in Das Magazin vom 10. April 2021 schreibt: "Ich las das Buch auf einer Reise und musste nachts aus einem Hotelzimmer in Georgien meine Frau anrufen, um ihr zu sagen, dass ich nicht schlafen kann vor Angst." Hoppla. Doch weshalb diese Angst? Weil "das Böse Einzug [hält] in die Geschichte, ohne Ursache, es gibt keine Erklärung". Es ist, um eine Formulierung von Hannah Arendt zu entfremden, also die Banalität des Bösen, die hier angeblich Schrecken einjagt: Es ist das Unbegreifliche, das Canonica ergreift.

Aber worum dreht sich die Geschichte überhaupt? Es geht um Gil, einen Rechtsanwalt in mittelerm Alter, verheiratet mit einer Frau aus vermögender Familie und zwei Kindern, der ein Doppelleben führt und mit labilen Frauen anbandelt, um sie im geeigneten Moment grundlos abzumurksen. Ein Psychopath, ganz offensichtlich. Der Trick des Romans besteht aber darin, die Geschichte aus der Perspektive dreier Frauen zu erzählen. (Daher der Titel Drei, der sich auch auf die Hausnummer der leerstehenden Wohnung beziehen kann, wohin Gil seine Opfer lockt.) Es ist die bittere Pointe des Romans, dass hier narrativ über weite Strecken psychologisch komplexe Frauenfiguren mit ihren Nöten, Sorgen und Alltagsproblemen aufgebaut werden, nur um sie mit wenigen Zeilen wieder auszulöschen.

Wobei - Achtung Spoiler! - die dritte Frau eine verdeckte Ermittlerin ist, die den Mörder schliesslich zu fassen kriegt, ohne jedoch Erklärungen zu erhalten, was eben Finn Canonica so nachhaltig verstört hat: "'Aber warum hat er das getan? Hat er Ihnen erklärt, warum?', fragte Ronen, doch auf seine Frage konnte sie ihm keine Antwort geben, da Gil zu dem Zeitpunkt noch immer alles abstritt." Der Roman endet dann auch, ohne Erklärung und ohne Geständnis. Was bleibt ist eine leicht romantisierende Erinnerung der Ermittlerin an ihre Begegnungen mit Gil, dessen Faszination sie sich nicht ganz entziehen kann und ihm so fast auch zum Opfer gefallen wäre, weil sie ein gefährliches Spiel mit ihm einging. Insofern tatsächlich ein 'teuflischer' Charakter, wie Canonica, schreibt, zumal die Grausamkeit hinter einer einnehmenden Oberfläche lauert... 

Aber wirklich zum fürchten? Eher nicht. Dafür ist der Roman doch zu platt, zu glatt und geschliffen, zu schablonenhaft und zu vorhersehbar und letztlich mit einer poetischen Gerechtigkeit ausgestattet, welche die Gemüter besänftigen will. Nicht allein, dass Gil dingfest gemacht wird, die toten Seelen der zwei ermordeten Frauen wachen am Schluss über den Schlaf der Polizistin. Und so mündet der Thriller letztlich in barem Kitsch, wie überhaupt, die gesamte übersinnliche Ebene, die sich ungefähr in der Hälfte des Romans einschleicht, nicht immer frei vom Kitschverdacht ist. 

Bleibt letztlich nur die offene Frage, auf die nicht einmal die Geister eine Antwort haben: Weshalb? Weshalb nutzt Gil die Frauen erst über längere Zeit emotional aus, um sie schliesslich zu beseitigen? Ein diskreter psychologischer Hinweis bietet der Roman dennoch: Gil leidet offenbar unter einem ausgeprägten Waschzwang, auch scheint er einen Sauberkeitsfimmel zu besitzen, stellt er doch Emilia als Reinigungskraft für seine leerstehende Wohnung ein. Zwangsneurotiker können ihre Impulse schlecht unterdrücken, das ist die einzige Erklärung. So lässt sich auch die Beseitigung der Frauen als erweiterter, pervertierter Auswuchs seiner Zwangshandlung verstehen: der Mord als ultimative Bereinigung. Und so wird auch verständlich, weshalb Gil als Saubermann und eben nicht als Schurke auftritt.


Sonntag, 18. April 2021

Hans Blumenberg und Carter Brown

Ein überraschendes, auch amüsantes Detail aus der im letzten Jahr erschienen Biographie über Hans Blumenberg von Rüdiger Zill ist, dass der Grossphilosoph mit dem unvergleichlich eleganten Wissenschaftstil offenbar auch eine Vorliebe für Groschenliteratur hegte. Zitiert wird eine bereits 1998 publizierte Anekdote von Blumenbergs ehemaligem Assistenten Ferdinand Fellmann an der Universität Giessen, dass er regelmässig den Auftrag bekam, die neuesten Krimis von Carter Brown zu besorgen.

Der heute kam mehr bekannte Autor (mit bürgerlichem Namen: Alan Geoffrey Yates) war damals einer der erfolgreichsten und produktivsten australischen Krimischreiber. Sein Katalog von über 200 Geschichten umfasst auch so vielversprechende Titel wie "Booty for a Babe", "Blonde, Beatiful, and - Blam!", "Cutie wins a Corpse", "The Stripper", "The Sex Clinic", "The Pornbroker" oder "Shamus, Your Slip is Showing". Allein diese kleine Auswahl macht deutlich, dass es sich um eine besonders triviale Variante des nicht zuletzt durch Ian Flemings Bond-Romane popularisierte Genre Sex & Crime handeln muss, an dem sich Brown ganz offensichtlich orientiert. 

Woran lag nun aber die Faszination für Blumenberg. Fellmann, der ehemalige Assistent, meint: "Uns faszinierte er wegen des lockeren Macho-Stils, der die Rollenverteilung der Geschlechter spiegelte, die heute kaum noch jemand nachvollziehen kann." Eine weitere Antwort könnte sein, dass Carter Brown Krimis das Sex & Crime-Genre nicht nur bedienten, sondern zugleich auch parodierten. Es handelt sich also um Meta-Schundromane, was sie intellektuell wieder unterhaltsam und auch goutierbar machen. Tatsächlich soll Carter öfters Anspielungen auf Krimis anderer Autoren wie etwa Raymond Chandler in seinen Texten versteckt haben.

Der Eindruck, dass bei Carter das Trivialgenre in seinen Stereotypen bewusst überboten wird, bestätigt sich bei einer stichprobenartigen Lektüre. Das Lesefrüchtchen hat sich für "Heisse Höschen - Kaltes Blut" (so die frivol-freie deutsche Übersetzung von "The Coffin Bird") entschieden. Bereits der zweite Satz kann eigentlich nicht anders als parodistisch gemeint sein: "Es musste etwa sieben Uhr morgens gewesen sein, als der Hausherr mich eigenhändig hinauswarf, dabei herzlos meine Beteuerungen ignorierend, dass ich die Frau des Hauses nur irrtümlich für eine Nymphomanin unter vielen auf dieser glorreichen Party gehalten hatte."

Damit ist der Hauptdarsteller, der Privatschnüffler Danny Boyd, auch schon vollumfänglich charakterisiert: Ein Playboy, der sich gerne mit leichten Mädchen vergnügt, und nebenher noch ein paar Fälle aufdeckt. Wobei selbst er als Ober-Macho ein gewisses Berufsethos vor sich herträgt, schliesslich wolle er nicht, wie es bei Gelegenheit eines Schäferstündchens heisst, "wie ein Amateur-Lustmolch über sie herfallen". 

Teilweise wirken die Szenen so skurril und surreal, dass sie tatsächlich wie ein Versuch in experimenteller Prosa anmuten, die bewusst Bilder und Metaphern überdehnt. So wird die Situation nach einem Kampf mit einem aufgebrachten Frauenzimmer wie folgt geschildert:

"Ich erhob mich und überblickte ein Feld der Verwüstung. Sonias Gesicht drückte sich immer noch fest in das weisse Couchleder, jetzt allerdings knapp über dem Fussboden, während der hochragende Sitz ihren Rumpf in senkrechter Position hielt. Ihre langen Beine hingen auf der anderen Seite herunter, so dass sie alles in allem etwa die Gestalt eines halb zusammengeklappten Taschenmessers angenommen hatte. Das ergab ein wahrhaft künstlerischen Bild, mit ihrem wohlgerundeten Hinterteil als Mittelpunkt."

Ein tableau vivant à la Picasso... Eine andere Szene schildert, wie die Raumdimensionen schrumpfen, als ein Hüne sich vom Sessel erhebt: "Ein Mann, der bei unserem Eintritt hinter einem wuchtigen Schreibtisch gesessen hatte, erhob sich jetzt, und prompt schrumpfte das Zimmer etwa auf die Hälfte zusammen. [...] Sowei sich die Tür hinter Harris geschlossen hatte, nahm das Zimmer wieder seine normalen Dimensionen an." Die Idee eines dehnbaren Raumes ist durchaus originell - dem Lesefrüchtchen bislang nur aus Boris Vians Schaum der Tage bekannt.