Freitag, 31. März 2017

Penelope Ashe: Nackt kam die Fremde (1960)

Hinter dem Pseudonym Penelope Ashe verbirgt sich ein Autorenkollektiv von 24 Journalisten, die auf die Initiative der beiden Berufskollegen Harvey Aronson und Mike McGrady gemeinsam den Nachweis erbringen wollten, dass sich Schundromane besonders gut verkaufen. Deshalb schrieben sie eine Art Fifty Shades of Grey avant la lettre: ein schlechtes Buch mit viel Expliziterotik. Bloß ist dieser Versuch nur halbwegs gelungen. Nicht dass der Roman kein Erfolg gewesen wäre, im Gegenteil; nur ist er keineswegs so unterirdisch mies, sondern zeugt – unbesehen der intendierten Trivialität – von hoher literarischer Könnerschaft. Jedenfalls ist es nicht so, dass der Roman (wie es am Schluss selbstbezüglich heißt) die „ganze Literatur umgebracht“ hätte. Man merkt dem Text fast in jeder Zeile die Intelligenz seiner Verfasser an, die sie offenbar nicht gänzlich wegstecken konnten: Der Text besticht durch Witz, cleveres Storytelling, psychologisch plausible Figurenzeichnung, typisch gut erfasste Charaktere, Sprach- und Situationskomik und natürlich Pennälerhumor am Laufmeter. Trotz oder gerade wegen der ostentativen Überbietung des guten Geschmacks offeriert der Roman für ironisch geschulte Leser ein wahres Lektürevergnügen. Man merkt: Die Autoren kennen den Menschen und seine niederen Beweggründe bestens.

Im Zentrum der Handlung steht Gillian Blake, die zusammen mit ihrem Mann William Blake seit acht Jahren erfolgreich eine Radioshow moderiert, in der sie beide als makelloses Vorzeigepaar figurieren. Nur leider entdeckt Gillian eines Tages, dass William fremdgeht, worauf sie beschließt, es nicht bloß ihrem Gatten, sondern gleich der gesamten Männerwelt heimzuzahlen, nicht ohne dabei selbst auf ihre Kosten zu kommen. Und so zerstört sie die Ehen in der Nachbarschaft ihres Wohnortes King's Neck, indem sie die Männer unterschiedslos der Reihe nach verführt, vernascht und schließlich auch moralisch vernichtet. Sie treibt es nicht nur mit jedem, sondern treibt auch jeden entweder in den Ruin, den Wahnsinn oder in den vorzeitigen Tod. Gillian ist mehr als nur eine Femme fatale, der die Herren der Schöpfung bedingungslos erliegen, sie erweist sich auch als Vagina dentata, die ihre Sexualpartner nachgerade entmannt. Den Schriftststeller, der ihr als letztes Opfer in die Fänge geht, schreibt noch: „Macbeth hat seinen Rivalen bekanntlich im Schlaf ermordet“. Man könnte da frivolerweise hinzufügen: dasselbe hat Gillian im Beischlaf getan. Jedes Kapitel ist einer neuen Sexattacke der Protagonistin gewidmet und jeweils eingeleitet durch einen dialogischen Auszug aus der Radiosendung mit ihrem Partner, wo sie beide eine heuchlerische Doppelmoral zur Schau tragen.

Wäre das Buch nicht von Männern geschrieben, könnte es glatt als Mustererzählung des Postfeminismus durchgehen. So aber ist der Vorwurf rasch in Reichweite, dass bloß billige Männerphantasien mit dem Motiv des beischlafwilligen Weibes befriedigt werden. Doch greift dieser Vorwurf zu kurz, übersieht er doch, dass alle Männer für das kurze Glück eines Schäferstündchens ganz elendiglich enden: Sie sind allesamt Opfer von Gillian Blake, die ihre Sexualität nicht nur zur Steigerung ihrer Libido, sondern gezielt auch als Waffe gegen die Männer einsetzt. Insofern ist diese Gillian Blake tatsächlich das Rolemodel für die postmoderne Frau: klug, selbstbewusst, sexy, berechnend und ihrer weiblichen Reize nicht verlegen. Bedenklich scheint nur, dass dieses Frauenbild aus der dezidierten Absicht entstanden ist, schlechte Literatur zu schreiben. Aber schließlich kann all den medialen Formaten heute, die weibliches Selbstbewusstsein mit Körpereinsatz gleichsetzen, auch nicht das Prädikat 'wertvoll' verliehen werden.

PS: Im Pseudonym Penelope Ashe steckt natürlich eine höhere Ironie, da die mythologische Penelope das Sinnbild der treuen Ehefrau ist: Sie wartete und wehrte strickend die Freier ab, bis ihr Gatte Odysseus von seinen jahrelangen Irrfahrten wieder heimkehrte.

Mittwoch, 29. März 2017

Wolfgang Koeppen: Jugend (1976)

Wolfgang Koeppen (1906-1996) gilt als wichtiger Vertreter der deutschen Nachkriegsliteratur. Anstatt aber der zeittypischen Kahlschlagästhetik zu folgen, hat er neue sprachliche Ausdrucksformen erprobt. Auch der spätere, nach einer längeren Schreibpause vorgelegte Prosatext Jugend (der Text trägt keine konkrete Gattungszuweisung) folgt einer experimentellen Erzählweise. Sie zeigt sich allein schon in der – im Impressum eigens erwähnten und damit besonders markierten – eigenwilligen Interpunktion, welche die mehrfach gebrochenen Gedankenbilder und Erinnerungsschlieren syntaktisch verfugt. Marcel Reich-Ranicki zieht auf dem Klappentext Vergleiche zu Joyce, Dos Passos und Döblin. Man könnte zudem auch Der Tod des Vergils von Hermann Broch nennen – wie Jugend ebenfalls ein gewaltiger innerer Monolog. Bei Koeppen handelt es sich um eine ältere männliche Erzählstimme im Rückblick auf die während dem Ersten Weltkrieg verlebte Jugendzeit, die keine sein durfte: „Jugend galt nicht“.

Beim Titel Jugend erwartet man entweder ein Coming-of-Age-Geschichte oder ein Erinnerungsbuch. Koeppens Jugend gehört also zur zweiten Kategorie. Erinnert wird wie bei Marcel Proust - der mit seiner mémoire involonaire offensichtlich Pate gestanden hat - eine verlorene Zeit. Bereits die ersten Seiten beschwören den Lauf der „sichtbar verrieselnden Zeit“. Und auch am Ende des Buchs wird die verflossene Zeit erwähnt, die sich aber „in dem Gedächtnis in irgendeiner Zelle“ des Erzählers sedimentiert habe und dort reaktiviert werden kann. Diese Vorstellung einer körperlich inkarnierten Zeit entwickelt auch Proust am Ende der Recherche à la temps perdu. Bei Koeppen handelt es sich jedoch nicht nur um eine verlorene Zeit, sondern auch um ein verlorenes Paradies, wie ebenfalls gleich zu Beginn deutlich gemacht wird: „Meine Mutter fürchtete die Schlangen.“ Mit der Präsenz von Schlangen ist auch die Vertreibung aus dem Paradies nicht mehr weit.

Tatsächlich weint die genannte Mutter den verflossenen Glanzzeiten ihrer Familie nach. Eine Nostalgie, die ihr Sohn (der Erzähler) nicht teilen kann, und schon damals als Kind nicht teilen wollte. Im Gegenteil: Vielmehr wünschte er der Stadt seiner Herkunft – die unschwer als Rostock identifizierbar ist – die Schlangen nachgerade auf den Hals. Sein Paradies ist denn auch nicht die durch den ersten Weltkrieg zerrüttete Heimat, sondern das Kino, „das Jugendlichen verbotene, schwarzweiße Paradies“. Doch wie schon Adam im biblischen Paradiese, so gehen dem Erzähler im Kino die Augen auf. Es ist ihm als würde er „die Frucht vom Baum der Erkenntnis essen“. Er entdeckt im Lichtspiel den „Schrein der Wahrheit“ und sieht im Dunkeln des Kinosaals „zum erstenmal die Wirklichkeit“. Was da durch die „Sternenstaubbahn“ des Projektors auf die Leinwand flimmert, besitzt einen höheren Wirklichkeitswert als die verlogene Propaganda, welche die Schrecken des Krieges zugunsten der nationalen Glorie konsequent wegzuleugnen sucht.

Als Knabe erlebt der Erzähler die blinde Verehrung, die Bismarck entgegenschlägt, als er die Lange Strasse von Rostock entlang promeniert. Andererseits kennt er auch die ausgeblendete Wirklichkeit: die Niederlage in Verdun, die Kriegskrüppel, die vielen Toten. Ein starkes Fieber rettet den 14jährigen in der Militärschule davor, selber mit an die Front ziehen zu müssen. In einer Art Delirium auf der Krankenstation in der leeren Kaserne vermischt sich die Kriegsrealität mit dem eigenen inneren Kampf gegen die nationale militärische Vereinnahmung. Auch im Fiebertraum sieht er in einer Art visionärem Rausch eine höhere „Wahrheit“ hinter dem „Trugbild der Welt“.

Vermutlich gibt es keinen Roman, der nicht mit einem kleinen Wink wenigstens auf die Mutter aller Romane, auf Cervantes Don Quijote, anspielt. So bezeichnet sich auch der namenlose Ich-Erzähler bei Koeppen einmal als „Ritter von der traurigen Gestalt“. Fügt jedoch an: „Das war lustig.“ Er spielt den Narren bloß. Anders als Don Quijote lebt er nicht in einer verklärten Phantasiewelt, sondern verlacht im Gegenteil die falschen Illusionen der Nachkriegsgesellschaft: „Ich fand sie komisch, wie sie die Augen zusammenkniffen, die Stirn in strenge Falten legten, die eiserne Zeit des Krieges beschworen und die Toten vergessen hatten.“ Gemeinsam mit einem Hypnotiseur spielt er auch „Jesus“, doch geht daraus freilich kein Heilsversprechen hervor. Geschildert wird eine ganz und gar heillose Welt und eine von Anbeginn hoffnungslose Existenz: ohne Jugend und ohne Zukunft. Zum Schluss heuert der Erzähler auf einem Schiff  an und verschwindet. Was aus ihm wurde, bleibt ungewiss.

Dienstag, 21. März 2017

Robert Walser: Jakob von Gunten (1909)

Auch wenn das Lesefrüchtchen der bedingungslosen Walser-Verehrung, die jede Mikrogramm-Kapriole als neuen Geniestreich feiert, mit bedenklicher Skepsis begegnet – eines muss man lassen: Jakob von Gunten (1909) ist ein grandioser Roman, der in einer Linie steht mit Klassikern der Moderne wie Melvilles Bartleby, dem Buch der Unruhe von Pessoa oder Flauberts Bouvard & Pecuchet. Alle diese Bücher warten mit scheiternden, sich verweigernden oder zurückziehenden Antihelden auf, von denen vordergründig auch Jakob einer ist. Erklärt er doch gleich zu Beginn, er wolle im Leben nichts anderes als eine zierliche, kugelrunde Null“ werden. Die fast schon provokative Nonchalance, mit der dieser invertierte Karrierewunsch geäußert wird, lässt aber bereits erahnen, dass es mit Jakobs Bescheidenheit nicht weit her ist, und sich vielmehr ein ausgewaschenes Grossmaul hinter der Parole der Selbstverkleinerung verbirgt.

Der im Untertitel als „Tagebuch“ deklarierte Roman schildert aus der Sicht von Jakob seinen Eintritt und Aufenthalt im Institut Benjamenta, einer merkwürdigen und ziemlich maroden Knabenschule, die ihre Glanzzeiten längst hinter sich hat. Jedenfalls erfährt der Leser mit der ersten Zeile, dass die Zöglinge dieses Instituts fast nichts lernen, weil alle Lehrer entweder fort, tot oder am Schlafen sind. Der Unterricht, der aufgrund der absenten Lehrerschaft von der Schwester des Vorstehers gehalten wird, beläuft sich auf inhaltsleere Exerzitien, die entfernt an monastische Meditationsrituale erinnern. Mit Eintritt von Jakob gerät die Organisation gänzlich aus den Fugen und das Institut geht seinem Untergang entgegen: „Du bist der letzte Schüler gewesen. Ich nehme keine Zöglinge mehr an“, sagt der Vorsteher, bevor er am Ende die Pforten schließt.

Wenn nicht unbedingt eine apokalyptische, so ist Jakob doch eine ganz und gar subversive Figur, die sich lustvoll über die gesellschaftlichen und institutionellen Schranken hinwegsetzt. Für Irritationen sorgt bereits, dass er sich, obwohl (wie er mehrfach betont) aus vornehmen Hause stammend, in der Knabenschule zum Diener ausbilden will. Er wählt also vorsätzlich, doch nur vordergründig einen sozialen Abstieg auf subalterne Stufe, denn insgeheim kokettiert er mit einer mondänen Existenz, wie sie sein Dandy-Bruder, der Künstler Johann, in der Großstadt verwirklicht. So legt Jakob auch im Institut öfters ein hochmütiges, ja freches Gebaren zu Tage, eigens um den Vorsteher zu provozieren. Doch anstatt zum Konflikt kommt es schließlich zu einer Art Verbrüderung zwischen ihm und seinem Schüler. Das Buch endet mit dem Bild, wie beide gemeinsam in die Wüste ziehen: „Ich war immer der Knappe, und der Vorsteher war der Ritter.“ Unverkennbar zeichnet sich da die Silhouette von Don Quijote mit seinem Begleiter Sancho Pansa ab. So liest sich der Roman rückwärts auch als eine moderne Donquijotiade. 

Jakob von Gunten ist Robert Walsers dritter und – im Vergleich mit den beiden Vorgängern – merklich surrealster Roman. Nicht allein, weil er sich einer konventionellen Handlungsführung relativ konsequent verweigert. Mit dem Institut Benjamenta scheint man auch eine Parallel- oder Traumwelt zu betreten, in der die gewohnte Alltagslogik außer Kraft gesetzt wird. Tatsächlich hintersinnt sich Jakob mehrmals, ob er nicht etwa alles nur träume, mehr noch kommt ihm sein „ganzer hiesiger Aufenthalt wie ein unverständlicher Traum“ vor. Unverständlich ist vieles, aber zugleich alles auch ungeheuer bedeutungsschwanger. Allein die zahlreichen biblischen Sub- und Intertexte rufen geradezu nach einer Interpretation. Doch vielleicht ist man am besten beraten, wenn man es wie Jakob mit seinen Träumen hält: „Ah bah, laß das Deuten.“ Auf der anderen Seite ist der Roman wieder so durchtrieben komponiert, dass wohl tatsächlich nichts unbedeutend ist und selbst dem scheinbar belanglosen Detail ein Sinn abzugewinnen wäre. Wie auch immer: Auf jeden Fall handelt es sich um jene Kategorie von Romanen, die nie ausgelesen werden können, weil sie bei jeder Lektüre wieder neue Einsichten eröffnen.

Sonntag, 19. März 2017

Curt Riess: "George 9-4-3-3" (1947)

Dieser „Spionageroman aus dem zweiten Weltkrieg“ (so der Untertitel des Buchs) erscheint nur ein Jahr nach Kriegsende, dürfte also noch während dem historischen Ereignis selbst geschrieben worden sein. Die Handlung spielt denn auch mitten im zerbombten Nazideutschland, als sich die drohende Niederlange bereits deutlich abzeichnet, auch wenn es das Regime offiziell nicht wahrhaben will und deshalb umso drastischer gegen Abtrünnige und Landesverräter vorgeht und die Kriegspropaganda mit Falschnachrichten (fake news!) weiter vorantreibt, während sich im Untergrund der konspirative Widerstand formiert.

Jimmy Collins, angeblich ein amerikanischer Reporter, doch wie sich rasch zeigt vielmehr die Verkörperung des amerikanischen Superhelden, lässt sich von Zürich aus nach Deutschland einschleusen, weil er sich eine gute Story vor Ort verspricht. Er nimmt Kontakt zum organisierten Widerstand auf und gelangt so von Bamberg nach Berlin, wo er im Haus von General Hammerbach unterkommt, der – was zwar noch geduldet, ihm später aber zum Verhängnis wird – mit einer Jüdin namens Valerie verheiratet ist. Es entspricht der zwingenden Logik des Trivialromans, dass es zwischen der attraktiven Valerie und dem amerikanischen Beau zu knistern beginnt.

Doch Collins hat auch ein Auge auf Ilse geworfen, ein junges, nicht unhübsches aber im Unterschied zur weiblich gereiften Valerie reichlich burschikoses Nazimädchen, das von Goebbels persönlich in Dienst genommen wird. Nicht ohne Absichten freilich. Nur der tägliche Kontrolldienst, den er aufgrund der prekären politischen Lage selber angeordnet hat, kann ironischer Weise verhindern, dass Goebbels ihr tatsächlich an die Wäsche geht. Zudem ist Ilse mit Fritz Kurz verlobt, einem aufstrebenden ehrgeizigen Nazi-Soldaten, der ausgerechnet auf die Spur von Collins gesetzt wird, da man in ihm – wie sich am Ende herausstellen wird: vollkommen zurecht – einen amerikanischen Spion vermutet. Kurz, der in diesem Auftrag seine große Chance wittert, ist skrupellos und geht über Leichen. So foltert er Ilses Vater zu Tode, um den Aufenthalt von Collins herauszufinden.

Ilse, die von Kindesbeinen nichts anderes als den Nationalsozialismus kannte, ist fortan hin- und hergerissen zwischen der Brutalität ihres Verlobten, der ihrem ideologisch deformierten Weltbild zufolge aber für die richtige Seite kämpft, und und dem deklarierten Staatsfeind Collins, dessen Charme sie gleichwohl nicht widerstehen kann. Ihr Gefühl deutet ihr jedoch zusehends an, dass der Amerikaner wohl die Wahrheit und ihr Verlobter die Lüge und Bestialität des Naziregimes verkörpert. Damit wäre eigentlich der Spannungsbogen errichtet, der einen emotionsgeladenen Machtkampf zwischen Gut und Böse verspricht.

Doch Kurz wird bereits in der Mitte der Geschichte überraschend während eines Bombenangriffs außer Gefecht gesetzt. Wie durch einen deus es machina wird dadurch der direkte Antagonist von Collins ausgeschaltet, was die Situation wenigstens kurze Zeit für diesen entscheidet. Aber immerhin gibt es noch größere Aufgaben zu bewältigen: nämlich die Verhinderung der neusten Vergeltungswaffe, der V4-Rakete, mit der die Nazis einen Angriff auf Amerika planen. Collins begibt sich zusammen mit deutschen Widerstandsaktivisten nach Dresden, um an geheime Pläne der Herstellungszentren zu gelangen. Mit Sprengstoffkommandos hofft er, die Standorte vor dem Abschuss der Rakete auszulöschen.

Der spektakuläre Showdown spielt sich dann vor der Kulisse des Bombenhagels ab, der die kulturell bedeutsame Stadt in Schutt und Asche legen wird. In Dresden trifft Collins wieder auf Ilse und Kurz, der unter Vortäuschung einer Erblindung sich nicht nur am Verführer seiner Freundin rächen, sondern überhaupt für die offenkundige Niederlage der Nazis exemplarisch am amerikanischen Gegner Vergeltung üben will. Hier zeigt die nationalsozialistische Ideologie nochmals ihre hässliche Fratze, bevor Kurz – fast simultan zum Einmarsch der Alliierten – endgültig kapitulieren muss. Als bittere Pointe zeigt sich dann aber, dass Collins zur Zerstörung von Dresden selbst beigetragen hat, weil sich eine der zu vernichtenden Montageanlagen der V4-Rakete just im dortigen „Großen Garten“ befand.

Der Titel des Romans bezieht sich übrigens auf den Geheimcode, mit dem Collins vor der Verfolgung durch die Gestapo gewarnt werden sollte. Doch wird ihn die chiffrierte Botschaft nie erreichen. Der Agent B 24, der sie übermitteln soll, wird schon auf S. 40 Opfer einer Razzia von Gestapobeamten. Mit dem Tod des Agenten spielt auch die Botschaft keine weitere Rolle mehr. Als Leser erfährt man nur, dass sie im ganzen „hundertundfünf Worte“ umfasste. Der genaue Inhalt bleibt ungewiss. Und so muss es beim Verdacht (der sich im Verlauf der Lektüre allerdings rasch zur Gewissheit steigert) bleiben, dass Collins in Tat und Wahrheit tatsächlich ein verdeckter Agent und nur zur Tarnung ein Journalist war. Anders ist es auch nicht zu erklären, weshalb Collins zum Schluss sagt, dass er – obwohl seine Erlebnisse eine gute Story versprechen, „nicht darüber schreiben durfte“.

Darüber geschrieben hat hingegen Curt Riess (1902-1993), der – wie der Verlagsanzeige zu entnehmen ist – im amerikanischen Exil ein äußerst produktiver Autor von anti-faschistischen Kolportageromanen war mit Titeln wie „I WAS A NAZI FLIER“, „THE INVASION OF GERMANY“ oder „THEN NAZIS OF UNDERGROUND“. Seine realitätsgesättigten Kenntnisse erwarb Riess als Kriegsberichterstatter der US-Army. Diese dokumentarische, aber auch zeitliche Nähe zum aktuellen Kriegsgeschehen machten die Romane damals zu einer fesselnden Lektüre (vergleichbar bspw. mit zeitnahen cineastischen Darstellungen von 9/11). Heute liegt der historische Wert des Romans vorwiegend darin, dass es sich um eine – wohl für so viele spätere Adaptionen – literarische Quelle erster Stunde handelt.

Montag, 6. März 2017

Günter Seuren: Der Abdecker (1970)

Mit diesem Roman entfernt sich Günter Seuren von Dieter Wellershoffs Kölner Schule des Neuen Realismus, der er anfänglich zugeordnet wurde. Der Abdecker – in der Neuauflage von 1983 nur noch Abdecker – ist ein Psychothriller, in dem Wirklichkeit und Wahn zusehends verwischen. Ein deutsches Konkubinats-Pärchen, das mit einer Aufenthaltsbewilligung B nach Zürich kommt, weil sie eine wichtige Anstellung als Fliegenforscherin an der ETH erhielt, gelangt bei zwei alten (und – lustig – reichlich bärtigen) Schwestern zur Untermiete: Der 78jährigen Frau Bjarsch, die mit einem einflussreichen „Boss“ verheiratet war, und der 74jährigen Elly, die in dem asymmetrischen Geschwisterverhältnis als eine Art Dienstmagd agiert.

Beide leben im paranoiden Irrglauben, dass sie nächtens von „Australiern“ (weshalb ausgerechnet Australier?) heimgesucht werden, einer „Rifze“ und ihrem „Schwanz“, welche das Haus regelmässig verunstalten und Unzucht treiben sollen. Der zeithistorische Hintergrund, der allerdings nur vorsichtig angetupft wird, markiert der damalige Diskurs zur „Überfremdung“ in der Schweiz. Stehen die Aus-tralier vielleicht für den Aus-länder schlechthin? Wie auch immer, jedenfalls passt sich das deutsche Pärchen aus Furcht, die eigene Aufenthaltsbewilligung zu verlieren (die durch das in Zürich in den 1970er Jahren noch unerlaubte Konkubinat zusätzlich gefährdet ist), den Wahnvorstellungen der Schwestern an, auch wenn sie mehrmals versuchen diese zur Raison zu rufen.

Mehr noch haben sie sogar die Schwestern im Verdacht, selbst die Spuren des nächtlichen Treibens zu legen, das sie anderntags den imaginierten Australieren unterschieben. Doch je mehr sie den senilen Schwestern die Realität vor Augen führen wollen, desto stärker richtet sich deren aggressive Paranoia gegen sie selbst. Sie fühlen sich beobachtet, bedrängt und nicht zuletzt auch bedroht und behext – einen längerer Exkurs handelt über die sogenannte Lachsnerei: über magischen Schadenszauber. Auf diese Weise zieht sich das Wahnsystem immer enger um das Pärchen zusammen, die aufgrund ihrer sozialen Situation zwar tapfer ausharren, obwohl die Wohnumstände längst nicht mehr auszuhalten sind.

Durch die diffusive Erzählweise wird der Leser selbst in permanenter Unsicherheit gelassen, was von den geschilderten Ereignissen wirklich vorgefallen, dem kranken Hirn der Schwestern entsprungen oder reine Erfindung des Erzählers ist. Erzählt wird aus der Perspektive des Mannes, von dem man weder weiß wie er heißt noch was er arbeitet, oft unmarkiert durchmischt mit personaler Rollenprosa, Dialogen, Nachrichten und anderen Informationspassagen, so dass eigentlich nie ganz klar ist, wessen Stimme man wie vermittelt vernimmt.

Ohnehin erweist sich das erzählende Ich als äußerst unzuverlässige, am Ende sogar dubiose Gestalt, die (trotz oder gerade wegen vehementer Beteuerung des Gegenteils: „ich habe nichts, gar nichts mit der Sache zu tun“) nicht frei vom Verdacht bleibt, am brutalen Überfall auf die Schwestern mitbeteiligt zu sein, bei dem sie blutüberströmt in ihrem Haus aufgefunden werden. Immerhin hat sich das entnervte Pärchen, das im Besitz einer Handfeuerwaffe ist, den Tod der Schwestern insgeheim mehrfach gewünscht und profitiert letztlich von ihrer dauerhaften Unterbringung im Pflegeheim: Sie richten sich heimisch im Haus der Schwestern ein.

Auch der Titel des Romans bleibt diesbezüglich andeutungsreich. Abdecker – so nannte man früher die Person, die für die Beseitigung von Tierkadavern zuständig war. Ganz zum Schluss taucht der „Abdecker“ auf und schläfert gemeinsam mit dem Erzähler den Hund der Schwestern ein. Daneben eröffnet der Text noch eine übertragene Lesart des Begriffs, wenn es ebenfalls gegen Ende heißt: „keine Blöße zeigen, zudecken, alles zudecken, so kommen wir durch“. Das war lange Zeit die vorsichtige (Zurück-)Haltung, um weiterhin unbemerkt bei den debilen Schwestern zu wohnen. Doch offenbar war das Zudecken auf die Dauer nicht ertragbar. Da wurde die Strategie geändert und – endlich abgedeckt.

Samstag, 4. März 2017

Walter Serner: Die Tigerin (1925)

Die Tigerin – so lautet der Übername von Bichette, einer Halbweltdame, die berüchtigt dafür ist, dass sie von keinem Mann gezähmt werden kann. Sie gilt als Raubtier und Man-Eater. Umso verblüffender ist es deshalb, als es dem Hochstapler Henri Rilcer alias Fec scheinbar gelingt, sie an seine Seite zu binden, erst recht, weil ihn viele „schlankweg für einen Trottel“ halten. Das ändert sich auch am Schluss der Geschichte nicht wirklich, als er längst unter der Erde liegt. Auch da herrscht nach wie vor „Einmütigkeit“ darin, dass „Fec eben doch ein Trottel gewesen wäre“.

Der kurze Roman besticht an vielen Stellen durch derbe Lakonie dieser Art. Erzählt wird die - wie es im Untertitel heißt - absonderliche Liebesgeschichte von Fec und Bichette, die beide eine „Abmachung“ treffen, nämlich sich zu „machen“, damit sie aus Überdruss und Ennui nicht „leer laufen“. So schwören sie sich gegenseitige Liebe und starten eine Karriere als Bonnie-und-Clyde-Pärchen. Der Plan scheitert schließlich jedoch daran, dass sie nicht allein Liebe „machen“, sondern sich dabei ständig auch etwas „vormachen“. Jedenfalls wächst das Misstrauen, bis sich ihr Verhältnis gänzlich verwirrt.

Der Roman gipfelt in einer konfusen Aussprache des schrägen Gangsterpärchens. Man kennt die Situation aus jeder Beziehung, wenn beide Partner sich in Vorwürfen hochschaukeln und sich dabei immer stärker in Konditionalsätze und rückwirkende Erklärungsversuche verstricken. Fec nennt es „Hinterher-Motivationen“, als er mit Bichette zu klären versucht, wer aus welchem Grund was „gemacht“ habe, bis er selber mit der Erkenntnis aufgeben muss: „dies ist jetzt alles so ausgezeichnet verwirrt, daß es ganz unmöglich wäre, es jemals mit Erfolg zu entwirren“. - Und so schwirrt am Ende auch des Lesers Kopfs ab so viel kruder Liebes-Syllogistik.

Definitiv ein Kultbuch. Vielleicht weniger wegen der – heute ohnehin komplett harmlosen – Darstellung von Sex, Crime & Violence, mit der Serner damals aber haarscharf an der Zensur vorbeischrammte. Das Buch besticht vor allem durch die mit Versatzstücken aus dem Gaunerwelsch gespickten Irrsinns-Dialoge zwischen dem Schwadronör Fec und der kaltschnäuzigen Bichette. Darin ist es mit Quentin Tarantinos Kulterfolgsfilm Pulp Fiction vergleichbar.

Walter Serner machte sich, bevor er sich als Kriminalschriftsteller versuchte, in Zürich 1916/17 anfänglich auch einen Namen als Dadaist. Ist es Zufall, ironisches Zitat oder schlichte Überbietung des Dadaismus, wenn es an einer Stelle im Roman heißt: „Da, da, da, da...“?

Thomas Mann: Tristan (1903)

Diese Erzählung gehört mit zu den bekanntesten von Thomas Mann; eine ausführliche Inhaltsangabe erübrigt sich deshalb. Das Lesefrüchtchen möchte nur auf eine grossartige Szene inmitten der zentralen Passage hinweisen, die der Erzählung ihren Titel verleiht: als der Dichter Detlev Spinell und die anämische Klöterjahn am Klavier des Sanatoriums Einfried gemeinsam das „Sehnsuchtsmotiv“ aus Richard Wagners Tristan und Isolde anstimmen. Die gegenseitige Zuneigung, die sie sich nicht offen eingestehen können, findet ihren Ausdruck sublimiert im Medium der Musik, und zwar auf solch leidenschaftliche Weise, als würde ein ganzes Orchester mit ihnen erklingen.

Mitten im erhabensten Moment jedoch, geschieht etwas gänzlich Unerwartetes. Es öffnet sich die Tür und die marode Pastorin Höhlenrauch schlurft durch den dunklen Raum. Leise und unheimlich, ein Schreckgespenst, eine Todesbotin und Schicksalsgöttin. Denn in der Kranken, „die neunzehn Kinder zur Welt gebracht hatte und keines Gedankens mehr fähig war“, erkennt die Klöterjahn ihr eigenes trauriges Los. Auch sie hat eine postnatale Auszehrung ins Sanatorium gebracht, während ihr neugeborener Sohn, ganz zur Freude des Vaters, vor Vitalität nur so strotzt.

Der exzentrische Spinell insinuiert seiner Angebeteten zudem, dass letztlich auch die Ehe mit dem unsensiblen Unternehmer Klöterjahn an ihrem bedauernswerten Zustand schuld sei, der ihr Talent und ihre musische Ader vollkommen erstickt habe. Spinell geht letztlich so weit, dass er Klöterjahn in einem Brief offen vorwirft, seine Frau, die erhabene "Todesschönheit", zu Unrecht für profane eheliche Pflichten missbraucht zu haben. Darauf folgt der lustigste Teil der Erzählung: Wie Klöterjahn, fassungslos vor Wut, den Dichterling verbal zusammenstaucht, der es feigerweise wagte, ihn auf diese niederträchtige Art zu beleidigen.

Bester Spruch: "ich habe das Herz auf dem rechten Fleck, während sie das Ihre wohl meistens in den Hosen haben". Köstlich!