Sonntag, 9. Mai 2021

C.K. Chesterton: Der Mann, der Donnerstag war (1908)

G.K. Chesterton war weitaus mehr als nur der Erfinder des behäbigen Ermittlerpriesters Pater Brown. Neben diesen berühmten Kriminalgeschichten verfasste er eine Fülle von weiteren Erzählungen, scharfsinnige und witzige Essay so wie eine Handvoll Romane, von denen The man who was Thursday (1908) am einflussreichsten war. Es ist eine Mischung aus Thriller und Nonsens, welche die Grenzen zwischen Traum und Realität verwischt, und gilt deshalb als Vorläufer von alptraumhaften Visionen eines Kafka oder Borges. Im Untertitel wird der Roman auch als «A Nightmare» bezeichnet – in der deutschen Übersetzung als «eine Nachtmahr». Am Ende entpuppt sich tatsächlich alles als verrückter Traum, wobei es unklar ist, wann genau die Erzählung die Realitätsebene verlässt und in eine zusehends irrwitzige Phantasmagorie schlittert. Es gehört jedoch zur Raffinesse des Erzählers, dass die Ereignisse, so absurd sie auch anmuten, nie unglaubwürdig wirken.

Doch worum geht es: Im Zentrum steht der Dichter Gabriel Syme, der von einer Spezialeinheit der Polizei angeheuert wird, um sich in Anarchistenkreise einzuschleusen, was ihm auch gelingt. Unter dem Decknamen «Donnerstag» dringt er in den inneren Zirkel um den hünenhaften, ominösen «Sonntag» vor, der in ganz England Sprengstoffattentate mit Dynamit plant, die es zu vereiteln gilt. In ständiger Angst aufzufliegen, fühlt sich Syme von Anarchisten aus der Gruppe observiert. Es kommt zu Duellen und rasanten Verfolgungsjagden zu Fuss im Auto und im Ballon, die aber alle in der Pointe münden, dass jeder der vermeintlichen Anarchisten sich in Tat und Wahrheit als verdeckter Ermittler erweist. So stellt sich schliesslich die ganze Anarchistenbande als maskierte Gesetzeshüter heraus, die von der Person namens «Sonntag» rekrutiert worden war. Der Roman mündet schliesslich in einer allegorischen Szene, wo alle Polizisten als Personifikationen der Wochentage figurieren und sich zu einem Show-down versammeln – bis dann die Traumblase zerplatzt und der Protagonist Syme wieder erwacht.

Die faszinierendste Figur des Romans ist jedoch der rätselhafte Sonntag, der als eine Art Übermensch oder Gott geschildert wird: ein Riese, ein halbes Tier, der mit der mythologischen Gestalt des Pan verglichen wird und den Syme an die «kolossale Memnonmaske» im British Museum erinnert. Sonntag ist eine dämonisch-archaische Urgestalt, auch eine karnevaleske Figur im Sinne Bachtins, wenn er etwa seinen Verfolgern seine «unmessbare, unübersehbare Hinteransicht» präsentiert und sie mit Nonsens-Botschaften traktiert. Er ist eine irrationale Kraft, welche das Verständnis der Menschen übersteigt; er ist der Gott, der mit den Menschen spielt und darüber lacht. Kurz vor dem Aufwachen stellt er Syme die Frage: «Vermagst Du aus dem Kelch zu trinken, aus dem ich trinke?» Gemeint damit ist der ‘bittere Kelch’, der «Becher des Zorns», aus der Bibel als Symbol für ein schweres Schicksal, das es zu ertragen gilt. Der Mensch, so die Pointe von Chestertons «Nachtmahr», muss die Absurdität seines Daseins ertragen, auf die nicht einmal ein Gott eine Antwort weiss. Der Roman gibt sich so als eine umgekehrte Theodizee zu erkennen. Chesterton soll einmal gesagt haben: Die Welt sei «die beste aller unmöglichen Welten».

Sonntag, 25. April 2021

Dror Mishani: Drei (2018)

Das ist er also, der Roman, der Finn Canonica solche Angst gemacht hat, wie er in Das Magazin vom 10. April 2021 schreibt: "Ich las das Buch auf einer Reise und musste nachts aus einem Hotelzimmer in Georgien meine Frau anrufen, um ihr zu sagen, dass ich nicht schlafen kann vor Angst." Hoppla. Doch weshalb diese Angst? Weil "das Böse Einzug [hält] in die Geschichte, ohne Ursache, es gibt keine Erklärung". Es ist, um eine Formulierung von Hannah Arendt zu entfremden, also die Banalität des Bösen, die hier angeblich Schrecken einjagt: Es ist das Unbegreifliche, das Canonica ergreift.

Aber worum dreht sich die Geschichte überhaupt? Es geht um Gil, einen Rechtsanwalt in mittelerm Alter, verheiratet mit einer Frau aus vermögender Familie und zwei Kindern, der ein Doppelleben führt und mit labilen Frauen anbandelt, um sie im geeigneten Moment grundlos abzumurksen. Ein Psychopath, ganz offensichtlich. Der Trick des Romans besteht aber darin, die Geschichte aus der Perspektive dreier Frauen zu erzählen. (Daher der Titel Drei, der sich auch auf die Hausnummer der leerstehenden Wohnung beziehen kann, wohin Gil seine Opfer lockt.) Es ist die bittere Pointe des Romans, dass hier narrativ über weite Strecken psychologisch komplexe Frauenfiguren mit ihren Nöten, Sorgen und Alltagsproblemen aufgebaut werden, nur um sie mit wenigen Zeilen wieder auszulöschen.

Wobei - Achtung Spoiler! - die dritte Frau eine verdeckte Ermittlerin ist, die den Mörder schliesslich zu fassen kriegt, ohne jedoch Erklärungen zu erhalten, was eben Finn Canonica so nachhaltig verstört hat: "'Aber warum hat er das getan? Hat er Ihnen erklärt, warum?', fragte Ronen, doch auf seine Frage konnte sie ihm keine Antwort geben, da Gil zu dem Zeitpunkt noch immer alles abstritt." Der Roman endet dann auch, ohne Erklärung und ohne Geständnis. Was bleibt ist eine leicht romantisierende Erinnerung der Ermittlerin an ihre Begegnungen mit Gil, dessen Faszination sie sich nicht ganz entziehen kann und ihm so fast auch zum Opfer gefallen wäre, weil sie ein gefährliches Spiel mit ihm einging. Insofern tatsächlich ein 'teuflischer' Charakter, wie Canonica, schreibt, zumal die Grausamkeit hinter einer einnehmenden Oberfläche lauert... 

Aber wirklich zum fürchten? Eher nicht. Dafür ist der Roman doch zu platt, zu glatt und geschliffen, zu schablonenhaft und zu vorhersehbar und letztlich mit einer poetischen Gerechtigkeit ausgestattet, welche die Gemüter besänftigen will. Nicht allein, dass Gil dingfest gemacht wird, die toten Seelen der zwei ermordeten Frauen wachen am Schluss über den Schlaf der Polizistin. Und so mündet der Thriller letztlich in barem Kitsch, wie überhaupt, die gesamte übersinnliche Ebene, die sich ungefähr in der Hälfte des Romans einschleicht, nicht immer frei vom Kitschverdacht ist. 

Bleibt letztlich nur die offene Frage, auf die nicht einmal die Geister eine Antwort haben: Weshalb? Weshalb nutzt Gil die Frauen erst über längere Zeit emotional aus, um sie schliesslich zu beseitigen? Ein diskreter psychologischer Hinweis bietet der Roman dennoch: Gil leidet offenbar unter einem ausgeprägten Waschzwang, auch scheint er einen Sauberkeitsfimmel zu besitzen, stellt er doch Emilia als Reinigungskraft für seine leerstehende Wohnung ein. Zwangsneurotiker können ihre Impulse schlecht unterdrücken, das ist die einzige Erklärung. So lässt sich auch die Beseitigung der Frauen als erweiterter, pervertierter Auswuchs seiner Zwangshandlung verstehen: der Mord als ultimative Bereinigung. Und so wird auch verständlich, weshalb Gil als Saubermann und eben nicht als Schurke auftritt.


Sonntag, 18. April 2021

Hans Blumenberg und Carter Brown

Ein überraschendes, auch amüsantes Detail aus der im letzten Jahr erschienen Biographie über Hans Blumenberg von Rüdiger Zill ist, dass der Grossphilosoph mit dem unvergleichlich eleganten Wissenschaftstil offenbar auch eine Vorliebe für Groschenliteratur hegte. Zitiert wird eine bereits 1998 publizierte Anekdote von Blumenbergs ehemaligem Assistenten Ferdinand Fellmann an der Universität Giessen, dass er regelmässig den Auftrag bekam, die neuesten Krimis von Carter Brown zu besorgen.

Der heute kam mehr bekannte Autor (mit bürgerlichem Namen: Alan Geoffrey Yates) war damals einer der erfolgreichsten und produktivsten australischen Krimischreiber. Sein Katalog von über 200 Geschichten umfasst auch so vielversprechende Titel wie "Booty for a Babe", "Blonde, Beatiful, and - Blam!", "Cutie wins a Corpse", "The Stripper", "The Sex Clinic", "The Pornbroker" oder "Shamus, Your Slip is Showing". Allein diese kleine Auswahl macht deutlich, dass es sich um eine besonders triviale Variante des nicht zuletzt durch Ian Flemings Bond-Romane popularisierte Genre Sex & Crime handeln muss, an dem sich Brown ganz offensichtlich orientiert. 

Woran lag nun aber die Faszination für Blumenberg. Fellmann, der ehemalige Assistent, meint: "Uns faszinierte er wegen des lockeren Macho-Stils, der die Rollenverteilung der Geschlechter spiegelte, die heute kaum noch jemand nachvollziehen kann." Eine weitere Antwort könnte sein, dass Carter Brown Krimis das Sex & Crime-Genre nicht nur bedienten, sondern zugleich auch parodierten. Es handelt sich also um Meta-Schundromane, was sie intellektuell wieder unterhaltsam und auch goutierbar machen. Tatsächlich soll Carter öfters Anspielungen auf Krimis anderer Autoren wie etwa Raymond Chandler in seinen Texten versteckt haben.

Der Eindruck, dass bei Carter das Trivialgenre in seinen Stereotypen bewusst überboten wird, bestätigt sich bei einer stichprobenartigen Lektüre. Das Lesefrüchtchen hat sich für "Heisse Höschen - Kaltes Blut" (so die frivol-freie deutsche Übersetzung von "The Coffin Bird") entschieden. Bereits der zweite Satz kann eigentlich nicht anders als parodistisch gemeint sein: "Es musste etwa sieben Uhr morgens gewesen sein, als der Hausherr mich eigenhändig hinauswarf, dabei herzlos meine Beteuerungen ignorierend, dass ich die Frau des Hauses nur irrtümlich für eine Nymphomanin unter vielen auf dieser glorreichen Party gehalten hatte."

Damit ist der Hauptdarsteller, der Privatschnüffler Danny Boyd, auch schon vollumfänglich charakterisiert: Ein Playboy, der sich gerne mit leichten Mädchen vergnügt, und nebenher noch ein paar Fälle aufdeckt. Wobei selbst er als Ober-Macho ein gewisses Berufsethos vor sich herträgt, schliesslich wolle er nicht, wie es bei Gelegenheit eines Schäferstündchens heisst, "wie ein Amateur-Lustmolch über sie herfallen". 

Teilweise wirken die Szenen so skurril und surreal, dass sie tatsächlich wie ein Versuch in experimenteller Prosa anmuten, die bewusst Bilder und Metaphern überdehnt. So wird die Situation nach einem Kampf mit einem aufgebrachten Frauenzimmer wie folgt geschildert:

"Ich erhob mich und überblickte ein Feld der Verwüstung. Sonias Gesicht drückte sich immer noch fest in das weisse Couchleder, jetzt allerdings knapp über dem Fussboden, während der hochragende Sitz ihren Rumpf in senkrechter Position hielt. Ihre langen Beine hingen auf der anderen Seite herunter, so dass sie alles in allem etwa die Gestalt eines halb zusammengeklappten Taschenmessers angenommen hatte. Das ergab ein wahrhaft künstlerischen Bild, mit ihrem wohlgerundeten Hinterteil als Mittelpunkt."

Ein tableau vivant à la Picasso... Eine andere Szene schildert, wie die Raumdimensionen schrumpfen, als ein Hüne sich vom Sessel erhebt: "Ein Mann, der bei unserem Eintritt hinter einem wuchtigen Schreibtisch gesessen hatte, erhob sich jetzt, und prompt schrumpfte das Zimmer etwa auf die Hälfte zusammen. [...] Sowei sich die Tür hinter Harris geschlossen hatte, nahm das Zimmer wieder seine normalen Dimensionen an." Die Idee eines dehnbaren Raumes ist durchaus originell - dem Lesefrüchtchen bislang nur aus Boris Vians Schaum der Tage bekannt. 

Sonntag, 5. Juli 2020

Fruttero & Lucentini: Der rätselhafte Sinn des Lebens (1994)

Hätte Dan Brown seine Erfolgsromane früher (bereits vor 1994) geschrieben, könnte man das Gemeinschaftswerk von Fruttero & Lucentini glatt als Parodie auf dessen Mystery-Thriller verstehen. Während Robert Langdon bei Dan Brown dem Heiligen Gral oder den Illuminaten nachjagt, geht es bei beim italienischen Krimi-Duo um nichts geringeres als um den Sinn des Lebens.

In Europa ist eine "metaphysische Krise" im Ausbruch, welche das gesamte Gesellschaftssystem lahmzulegen droht, wenn sich kein Sinn des Lebens auffinden lässt. Deshalb werden die beiden Journalisten Fruttero und Lucentini – die Autoren treten hier selbst als ‘Ermittler’ auf – frühzeitig damit beauftragt, dem Lebenssinn in einem investigativen Einsatz nachzuforschen und werden dabei von diversen Interessegruppen verfolgt und beschattet. Ihr Ziel ist Griechenland als mythologische Wiege der Menschheit. Dort hoffen sie Aufschluss über den Sinn des Lebens.

Stattdessen erleben sie auf ihrer Reise allerhand seltsame Begegnungen und Begebenheiten, allesamt in grösstmöglicher Überzeichnung. Höhepunkt ist dabei die beiläufige Abrechnung mit dem Sightseeing-Tourismus. Die Pauschalurlauber werden von ihren Führern quasi in Geisselhaft genommen und zu allerhand Extratouren gezwungen. Die drangsalierten Touristen fliehen scharenweise ins Hinterland, wo sie von ihren Guides verfolgt und wieder 'gefangen' genommen werden. Satirisch nehmen hier Fruttero & Lucentini die Zwänge und Zumutungen solcher Pauschalangebote zu unterziehen.

Die Suche nach dem Sinn des Lebens mündet schliesslich vor dem Orakel von Delphi, das natürlich längst auch kommerziell ausgeschlachtet wird. Allerdings ertragen die wenigsten Touristen das Nosce te ipsum und stürzen sich aus Schock vor so viel Selbsterkenntnis reihenweise in den Abgrund.

In Delphi treffen die beiden Journalisten zudem auf eine Sybille, die sich als Reinkarnation von Pythagoras Tochter zu erkennen gibt, ausserdem hat sie etliche Metempsychosen als Vögel durchlebt. Am Ende entpuppt sie sich als Eule der Minerva, die – Hegel zitierend – in der Dämmerung zu ihrem Flug ansetzt. So endet der Roman mit der Einsicht, dass philosophische Erkenntnis erst im Nachhinein erfolgt. So erschliesst sich auch der Sinn des Lebens erst in seinem Vollzug (und nicht durch einen orakelhaften Sinnspruch).

Die als "philosophischer Roman" deklarierte Erzählung ist eine kleine intellekturelle Farce mit viel Klamauk und einem Hang ins Groteske. Für Krimileser zu schräg, für Philosophen zu doof, aber zur Erheiterung für einen erschöpften Geist gerade richtig.


Donnerstag, 28. Mai 2020

Ulrich Becher: Kurz nach 4 (1957)


Kurz nach 4 ist Bechers Romandebut, nachdem sein erster Erzählband Männer machen Fehler (1932) der nationalsozialistischen Bücherverbrennung zum Opfer fiel und sein gemeinsam mit Peter Preses verfasstes Theaterstück Der Bockerer (1946) in der Nachkriegszeit große Erfolge feierte. Die Epoche des Zweiten Weltkrieges und des nachfolgenden Kalten Krieges bestimmt auch den zeithistorischen Hintergrund von Kurz nach 4. Es ist die Geschichte des «Romfahrers» Franz Zborowsky, der sich nichts anderes als «Ruhe und Frieden» wünscht, sie aber in der Gaststätte am Borgo Caliban in Piacenza nicht finden kann, weil ihm bis tief in die Nacht nicht nur die Straßengeräusche den Schlaf rauben, sondern auch seine unverarbeiteten Kriegserinnerungen, die durch den nächtlichen Lärm evoziert werden. In cineastisch gekonnten Schnitten wird das «Zrrrr-wwummmm! Tocketocketocketocke! Tocketocketocketocke!» der Motorroller mit Detonationslärm und Maschinengewehrsalven (wie in einem Lautgedicht von Ernst Jandl) überblendet.

Der angehende Künstler Zborowsky nahm als Leutenant Borrón am Spanischen Bürgerkrieg teil, wurde gefangen genommen und sollte ins Schutzhäftlingslager gesteckt werden, renegierte aber unter dem Namen Boric zu einer südslawischen Partisanengruppe. Nach dem Krieg kann er verspätet seine Karriere als Akademieprofessor starten und erlangt als Künstler internationales Renommee. Vor allem ein «Geheimmotiv» kehrt in seinem Werk immer wieder: «ein Priester, ein Zeitungsverkäufer und ein wie ein flügelloser Pegasus durch die Luft sausendes, beflecktes Schaukelpferd». Biographisch verweist die Szene auf eine traumatische Erfahrung im Spanischen Bürgerkrieg: Ein Bombenanschlag verursacht bei Zborowsky in eine Gehirnerschütterung, doch nicht dies ist eigentlich traumatisch, sondern die Zeitungsnachricht, die er kurz vor dem Einschlag noch zur Kenntnis nehmen musste, ihre Wahrheit seither aber anzweifelt: Dass seine Verlobte Lolita Aguirre, deretwegen er überhaupt in den Spanischen Bürgerkrieg zog, von Falangisten exekutiert worden ist.

Am Borgo Caliban «kurz nach 4» in der Nacht wird Zborowsky jedoch die unumstößlich schreckliche Wahrheit bewusst, als er von der Strasse ein Schlurfen und ein Lachparoxysmus – ein «calibanisches Gelächter» – hört, die ihn an seinen ehemaligen Jugendfreund Kostja Kuropatkin erinnert, der für ihn fast wie ein Zwillingsbruder war. «Kuror und Pollax» wurden sie in Anlehnung an Kastor und Pollux genannt. Der Krieg treibt das Gespann jedoch auseinander, als Gummifabrikant macht Kostja Geschäfte mit den Nazis, während Zborowsky in den bewaffneten Widerstand abtaucht. Doch untergründig war der Riss schon vorher vorhanden: Wie Zborowsky sich in der Rückerinnerung wieder ins Bewusstsein ruft und ihm durch die Begegnung einer anderen früheren Geliebten in Parma außerdem deutlich wird, war Kostja rasend eifersüchtig auf den gerade bei Frauen viel beliebteren Freund. Kostja ist ebenfalls in Lolita verliebt, wird von ihr jedoch abgewiesen, weshalb er Zborowsky hinterrücks verleumdet, was Lolita wiederum dazu bewegt, mit ihrem Vater nach Spanien zu ziehen, wo sie als Kriegsopfer dahingemordet wurde.

Wie Zborowsky auf seiner Romfahrt dämmert, hat Kostja, auf dessen Einladung er nach Rom folgt, seine Verlobte letztlich auf dem Gewissen. Die Stadt der verfeindeten Zwillingsbrüder Romulus und Remus deutet darauf hin, dass es bei der Begegnung zu einem Brudermord kommt. Tatsächlich fantasiert Zborowsky wie er Kostja mit seiner «Luger» erschießen wird – so wie er es in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit seinem Peiniger Mehlgruber tat, der ihm als Kriegsgefangener die Nase gebrochen hat. Doch am Ende kommt es nicht soweit. Der Roman endet mit dem Dementi des bekannten Sprichworts, dass alle Wege nach Rom führen: «Es führt kein Weg nach Rom». Es ist also die Geschichte einer gescheiterten respektive abgebrochenen Romfahrt (und damit eine Inversion historischer Italienzüge und Bildungsreisen): Als Geschädigter der «leergeschossenen Generation», wie es in Anlehnung an die Lost Generation rund um Hemingway nach dem Ersten Weltkrieg einmal heißt, ist für Zborowsky jegliche Illusion, auch an diejenige von Rache, verloren.

Ulrich Becher ist mit Kurz nach 4 ein genau konzipierter, motivisch dichter und sprachlich furioser Roman gelungen von zuweilen grotesk-komischen Zügen, die bereits den Autor der Murmeljagd (1969) erkennen lassen.

Dienstag, 12. Mai 2020

Franz Kafka: Blumfeld ein älterer Junggeselle... (1915)


Wie in Die Verwandlung so tritt auch in dieser fragmentarisch gebliebenen Erzählung Franz Kafkas ein ungewöhnliches, surreales Ereignis in den Alltag ein, das der Protagonist aber mühelos zu akzeptieren scheint. Und dies, obwohl es einmal in der Erzählung heißt, dass Blumfeld «kein Phantast» sei. Blumfeld, so der Name des pedantischen, sauberkeitsliebenden und vereinsamten Beamten in einer Wäschefabrik, entdeckt eines Abends beim Nachhausekommen zwei «komische Bälle» in seiner Wohnung, die alternierend permanent auf und ab hüpfen und nicht von Blumfeld weichen. Stets halten sie sich im Rücken des Junggesellen auf, wie er sich auch dreht und wendet, er kann ihnen nicht entkommen, als handle es sich etwa um seine «Lebensbegleiter».

Ähnlich wie die Verwandlung Gregor Samsas in einen Käfer so sind auch diese Bälle als psychisch ausgelagerten Seins- resp. Bewusstseinszustand aufzufassen. Die Bälle treten just in dem Moment in Blumfelds Leben, als er sich zu wiederholten Malen seiner Einsamkeit bewusst wird und sich überlegt einen Hund anzuschaffen. Tatsächlich fühlt es sich für Blumfeld an, «als hätte er einen kleinen Hund», als die Bälle beim Schlafengehen auf den Teppich unter seinem Bett rollen. Andererseits erinnern sie ihn auch an «Kinder» und stehen damit in Bezug, zu den beiden unnützen Praktikanten, die Blumfeld bei der Arbeit zur Seite gestellt werden und sich wie «Kinder» verhalten.

In den Bällen als treue Begleiter manifestiert sich sowohl der Wunsch nach Gesellschaft wie sie auch ein Stresssymptom darstellen, ausgelöst durch den unmäßigen Betreuungsaufwand, den Blumfeld seine beiden Praktikanten bereiten. Jedenfalls ist es ihm unangenehm, mit den Bällen gesehen zu werden, er schämt sich für ihre Anhänglichkeit und versucht sie loszuwerden, indem er sie in einen Schrank sperrt und dem zurückgebliebenen Nachbarjungen die Schlüssel übergibt, um die Bälle zu holen, während er zur Arbeit geht. Ob dieses Manöver gelingt, bleibt ebenso so offen, wie was es genau mit den Bällen auf sich hat.

Indem Blumfeld die Existenz der Bälle schlichtweg akzeptiert anstatt sie zu hinterfragen, gelangt er nicht zu einer tieferen Selbsterkenntnis. Die Bälle bleiben Symptom, ohne Diagnose. Nur einmal kurz fühlt sich Blumfeld durch den «leeren Blick» des Nachbarjungen dazu verleitet, sich preiszugeben: «Ein solcher leerer Blick macht einen wehrlos. Er könnte einen dazu verführen, mehr zu sagen, als man will, nur damit man diese Leere mit Verstand fülle.» In gewisser Hinsicht steht diese Leere auch für die Leere in Blumfelds Leben, das allerdings weniger mit Verstand, sondern mit Unverstand in Gestalt sinnloser Bälle gefüllt wird, die ihm zuerst «Spass» bereiten, ihn aber zusehends auch ärgern und lästig werden.

Sonntag, 26. April 2020

Philip Kerr: Das Wittgenstein-Programm (1992)


Das Lesefrüchtchen gibt zu, dass es sich vom Titel der deutschen Übersetzung dieses Thrillers hat verleiten lassen, der im gewissen Mass eine Irreführung ist. Das englische Original heißt schlicht «A philosophical Investigation» und handelt auch nicht von einem Wittgenstein-, sondern von einem Lombroso-Programm, benannt nach dem italienischen Arzt und Psychiater Cesare Lombrso, der im 19. Jahrhundert kriminalpathologische Studien anstellte, um angeborene Verbrecher (delinquente nato) zu erkennen. Auf krimineller Früherkennung basiert auch das Lombroso-Programm des im Jahr 2013 spieldenden Thrillers. Die Handlung wurde also zwanzig Jahre in die Zukunft versetzt, wo es (à la Minority Report) medizinisch möglich ist, Männer mit potentiellem Gewaltpotential zu identifizieren und Präventivmassnahmen einzuleiten. Ihre Daten werden in einem Computersystem verwaltet, das jeder Person einen Decknamen aus der Philosophie- oder Literaturgeschichte gibt.

Eine davon bekam den Namen von Ludwig Wittgenstein, der - wie sich herausstellen wird – nicht nur ein besonderes Mass an krimineller Energie, sondern auch an technischem Know-how und kaltblütiger Logik besitzt. Wittgenstein gelingt es, das Computersystem zu hacken und an die echten Namen der Lombroso-Verdächtigen zu kommen, die er der Reihe nach – durch sechs gezielte Schüsse mit einer Luftdruckpistole in den Hinterkopf des Opfers – hinrichtet. So hat Wittgenstein u.a. Darwin, Byron, Kant, Thomas von Aquin, Spinoza, Keats, Locke, Charles Dickens, Betrand Russell und René Descartes auf dem Gewissen (nur bei Shakespeare gelingt es nicht, von diesem wird er verkloppt). Außerdem führt der Mörder eine Art Tagebuch, indem er – wie der historische Wittgenstein – zwei Hefte, ein blaues und ein braunes, verwendet. Ohnehin erscheint der Mörder nachgerade als Double des Philosophen, mit dem er nicht nur etliche körperliche und biographische Ähnlichkeiten teilt, sondern darüber hinaus aus Versatzstücken von Wittgensteins Werken ein logisch-philosophische Begründung seiner Taten entwickelt.

Einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhundert als Mörder? Eigentlich eine reizvolle Ausgangslage. Nur ist die Umsetzung in diesem Fall gar nicht gelungen, was nicht nur (aber auch) an der ziemlich miesen Übersetzung liegt. Allein dass der Roman, der ein beeindruckendes und aus heutiger Sicht auch ziemlich realitätsnahes Zukunftsbild entwirft, im Basisplot mit einer absurden Unwahrscheinlichkeit aufwartet, ist nur ärgerlich und stört das Lesevergnügen empfindlich: Es leuchtet partout nicht ein, weshalb ein willkürlich vom Computersystem als Wittgenstein benannter Kerl tatsächlich ein Wiedergänger des berühmten Philosophen sein soll. Das ist ein zu großer Zufall, als dass irgendwie glaubhaft wäre und er wird auch in keinster Weise glaubhaft gemacht. Das ist die große Schwachstelle der Plotkonstruktion, die dummerweise zugleich der zentrale Drehpunkt ist.

Auch sonst besitzt die Geschichte ihre Schwächen und Längen. Die philosophischen Ausführungen und der philosophische Disput, den Wittgenstein mit der Ermittlerin führt, sind nicht wirklich herausfordernd oder kühn, eher langweilig, auch wenn Thomas de Quincey und seine Gesellschaft der Connoisseure des Mords mit ihrem Interesse am perfekten Mord bemüht wird. Die Kommissarin bleibt als Gegenspielerin ihrerseits blass. Fast schon klischeehaft ist es, wie sie im Verlauf der Ermittlungen immer stärkere Faszination für den Mörder empfindet (dessen Ödipus-Komplex strukturell mit ihrem Vater- und Männerhass korrespondiert). Die Idee, dass hier eine junge, traumatisierte Detektivin in ein gefährliches Double-Bind mit einem intellektuell überlegenen Verbrecher gerät, ist allzu deutlich auf der Folie von Thomas Harris' Schweigen der Lämmer entworfen. Das Klischee kippt schließlich in puren Kitsch, wenn die Ermittlerin am Schluss echte Sympathie für Wittgenstein empfindet und ihm sogar eine Blume in die Strafanstalt vorbei bringt, bevor er dort für zwanzig Jahre ins «Strafkoma» versetzt wird, welches im Jahr 2013 als angeblich humaneres Strafmaß die Todesstrafe abgelöst hat.

Trotzdem hat der Roman den deutschen Krimipreis von 1995 gewonnen. Wie beim Wein sind wohl auch dort nicht alle Jahrgänge gleich gut.