Freitag, 6. Oktober 2023

Tom Kummer: Blow up (2007)

1996 erscheint in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit Pamela Anderson, das sich deutlich von der Belanglosigkeit gewöhnlicher Star-Gespräche abhebt. Pamela zeigt viel Esprit, spricht ebenso aus dem Nähkästchen und gibt Vertraulichkeiten preis wie sie sich auch zu luziden Selbstanalysen aufschwingt und auch um pointierte Statements nicht verlegen ist. Das Feuilleton ist begeistert. Endlich hat es einer geschafft, das Star-Interview auf eine neues Niveau zu heben und den Promis mehr als nur ein paar Floskeln und Plattitüden zu entlocken. Tom Kummer heisst der Mann der Stunde, der sein Erfolgsrezept bei der Crème-de-la-crème des Showbusiness fortsetzt: Sharon Stone, Bruce Willis, Phil Collins und vielen mehr verhilft dieser Kummer zu den erstaunlichsten Aussagen und Reflexionen ...

... bis vier Jahre später die Blase platzt und Kummer vorgeworfen wird, seine Interviews seien alle nur erstunken und erlogen. Es folgen verschiedene Berichte und Stellungnahmen, die schliesslich dazu führen, dass Kummer seinen Job los wird und auch die Chefredakteure bei der Süddeutschen Zeitung ihre Posten räumen müssen. Eigentlich merkwürdig: Obwohl das Unwahrscheinliche dieser Interviews allen in die Augen stach, hinterfragte man sie nicht, sondern brach in kollektive Begeisterung aus. Der Glaube an die schiere Möglichkeit war stärker als jede kritische Reflexion. Die Grenze zwischen Betrug und Selbstbetrug verläuft hier fliessend. Der ehemalige Tennisprofi Kummer hat mit seinen Fälschungen das System des People-Journalismus selbst an die Wand gespielt. Von den einen deswegen als Genie gefeiert, gilt er in der schreibenden Zunft der Journalisten seither freilich als Verräter.

Kummer selbst hat seine Sichtweise auf diese Episode in dem autobiographischen Bericht Blow up aufgearbeitet. Es ist weniger eine Rechtfertigung als eine Rekonstruktion der Ereignisse, die Kummer zunächst verdrängte. Das Motiv des Vergessens durchzieht den Text von Anbeginn, wo Kummer mittlerweile als Tenniscoach Tomàs in einem Privatclub der High Society untergetaucht - und damit just in einem Milieu angekommen ist, das er in seinen Fake-Interviews nur prätentierte. Im Jonathan Club bei Pacific Palisades verkehren echte Hollywoodgrössen wie Johnny Depp, Scarlett Johanson oder Gwyneth Paltrow. Inmitten dieser Prominenz beschleichen Kummer Gewissenbisse und er beginnt sich der Vergangenheit zu stellen. Mithilfe von Tonband-Aufnahmen, u.a. mit Tapes seines alten Telefonbeantworters, will er seine verschüttete Erinnerung wieder schichtweise freilegen.

Das Buch bietet somit einen interessanten Abriss des frühen Lebenslaufs des Autors und seiner journalistischen Karriere, von den Anfängen bei der Szene-Zeitschrift Tempo bis hin zu seinem Aufstieg als Hollywood-Reporter für die Süddeutsche, stets mit viel name-droping garniert, was wohl unterstreichen soll, dass Kummer dick im Geschäft war, obwohl er sich selbst stets als Randfigur und Aussenseiter wahrnahm, der eher nolens als volens in den Journalismus rutschte und deshalb stets einen scheelen Blick auf diesen wirft. Hier liegt ein interessanter Aspekt des Buchs, da Kummer eine Argumentationsfigur aufbaut, um sich weniger für seine Fake-Interviews zu entschuldigen, sondern ihre Systemnotwendigkeit quasi zu begründen. Da die ganze Presselandschaft nichts anderes als eine Scheinwirklichkeit konstituiert, ist es eigentlich ehrlicher oder zumindest konsequenter, wenn man sich gar nicht mehr an die Wirklichkeit hält.

Dabei verläuft sein Argument in zwei Richtungen: Zum einen verweist Kummer en passant immer wieder auf die Künstlichkeit nicht nur der Gesellschaft, sondern auch des Redaktionshabitus, und spricht den Zeitungen ihren Wahrheitsanspruch ab. Das sei alles nur Augenwischerei oder wie es mit Rekurrenz auf Jean-François Lyotard an einer Stelle heisst: "die Realität als Show". Es fallen Sätze wie: "Wie so oft im Journalismus waren die gesprochenen Worte und die gedruckten Texte zweierlei." Oder: "Jede journalistische Strategie, die darauf abzielt, Authentizität und Objektivität glaubwürdig zu simulieren, ist im Grunde faszinierend und einen Versuch wert. Nur hat es mit der Wahrheit nichts zu tun." Näher an die Wahrheit gelangt man hingegen, so suggeriert es Kummer zwischen den Zeilen, wenn man sie wie er erfindet.

Der zweite Teil von Kummers Argumentationsstruktur streicht deshalb seine schon früh entwickelte Freude am Erfinden von Geschichten hervor. Sich die Realität, die in Kummers Augen ohnehin nicht authentisch zu vermitteln ist, wenigstens zu erschreiben. Bereits während seiner schliesslich gescheiterten Tenniskarriere gelangte er zur Erkenntnis: "Die Wirklichkeit ist enttäuschend. Stattdessen amüsiere dich über den Wirbel, den Du verursachst." Bei seinen ersten Reportagen gewann er ebenso rasch die Gewissheit, "dass man nicht alles mit eigenen Augen erleben musste, um über die sogenannte Wirklichkeit zu schreiben". Was schliesslich dazu führte, wie Kummer schreibt, "dass ich einen Pop- oder Hollywoodstar für eine semifiktive Figur halte - und als solche müsste sie es sich eigentlich gefallen lassen, wenn die Rezeption die Fiktion weiterspinnt". Die Stossrichtung all dieser Statements ist klar: In einer Welt, wo Ansehen und Schein alles zählen, kommt dem Fake letztlich mehr Wahrheitsgehalt zu.

Die Frage bleibt nach der Lektüre, welchen Status nun Kummers Memoiren haben. Fällt da der Vorwurf des Fake auch auf sie zurück? Ein Autor, der so offen zugibt, dass er es mit der Wahrheit nicht allzu genau nimmt, der sich gerne alternative Wirklichkeiten ausdenkt, ist zwangsläufig ein unzuverlässiger Erzähler. ("Tom Kummer, schon der Name klingt erfunden.") Und das obwohl er eine absolut glaubwürdig klingende Prosa schreibt: offen, direkt, persönlich, ehrlich, unverstellt. Kummer versteht es exzellent diese stilistischen Register zu ziehen, damit seine Memoiren authentisch klingen. Ob sie es auch tatsächlich sind, ist - gemessen an den Maximen des Autors - vielleicht gar nicht die entscheidende Frage.


Donnerstag, 5. Oktober 2023

Mike Johansen: Die Reise des gelehrten Doktor Leonardo ... (1932)

Im Jahr 1959 plante der polnische Schriftsteller und Journalist Jerzy Giedroyc, der bis zu seinem Tod die bedeutende Exilzeitschrift Kultura herausgab, eine Anthologie mit Texten von ukrainischen Autoren, die in den 1930er Jahren Opfer des Stalinismus wurden, im Gefängnis landeten oder gar im Gulag umkamen. Als Titel wählte Giedroyc den Namen Rosstriljane widrodschennja, was auf Deutsch unterschiedlich mit 'erschossene Renaissance' (oder 'hingerichtete Wiedergeburt' bzw. 'Regeneration') übersetzt wird. Die Anthologie kam nie zustande, doch der Titel wurde zur feststehenden Bezeichnung für jene Generation ukrainischer Schriftsteller, die den kulturellen Aufbruch und ihr progressives Literaturverständnis mit dem Leben büssten.

Zu dieser Generation gehörte auch der 1985 in Charkiw geborene und 1937 in Kiew ermordete Mike Johansen, dessen Werk dank der Initiative des Münchner Staatsbibliothekars Johannes Queck erstmals im deutschen Sprachraum bekannt wird. Hier zeigt sich der zumindest kulturelle Kollateralnutzen des anhaltenden Ukraine-Kriegs: Es gelangt eine bislang weitgehend unbekannte, weil unbeachtete literarische Landschaft ins Blickfeld. Die Metapher der 'Literaturlandschaft' ist bei Johansen sogar beim Wort zu nehmen, denn wie es im vorangestellten Motto zu seinem Romans heisst, wolle er eine "Landscape-novel", einen "Landschaftsroman", schreiben.

Die Reise des gelehrten Doktor Leonardo und seiner zukünftigen Geliebten, der schönen Alceste, in die slobidische Schweiz - wie der vollständige Titel des Romans lautet - zählt Johannes Queck zu den "Schlüsselwerken der Ukrainischen Avantgarde der 1910er-1930er Jahre". Die im Titel genannten Landschaft, die slobidische Schweiz, existiert nicht wirklich; sie ist eine Phantasielandschaft, die natürlich wieder auf die Realität verweist. Gemeint ist die Region um Johansens Geburtstadt Charkiw, als 'Schweiz' wird sie (in Analogie zur Fränkischen oder Sächsischen Schweiz) deshalb bezeichnet, weil ihre Topographie an den helvetischen Kleinstaat erinnert, wie Alceste im Roman einmal begeistert ausruft:

Hier beginnt die Seenschweiz. Ich habe den Vierwaldstätter See und den Genfer See in jener Schweiz gesehen, die früher die Welt mit Portiers versorgt hat und sie heute mit Toblerone versorgt. Jene Seen sind wunderschön und weitaus größer als diese hier, das Wasser in ihnen ist klar und azurblau.

Doch unter Landschaftsroman versteht Johansen mehr als nur das Genre des nature writing. Er beabsichtigt damit, das Verhältnis herkömmlicher Erzählweisen überhaupt umzukehren. Nicht mehr das Personal, sondern die Landschaft soll die Handlung bestimmen: "Nirgends steht geschrieben, dass ein Autor eines literarischen Werkes sich dazu verpflichtet, lebendige Menschen durch dekorative Landschaften zu führen. Er kann im Gegenteil versuchen und dekorative Menschen durch lebendige und reichhaltige Szenerien zu führen." Im Resultat führt dieses Vorhaben auf eine metafiktionale Spielerei, bei der die Romanfiguren wie Pappkameraden hin- und hergeschoben werden, mitunter die Identitäten wechseln und sich vor allem auch ihres fiktionalen, unwirklichen Charakters bewusst sind.

Verschiedentlich sprechen die Romanfiguren miteinander über den Autor, als wäre er ein Gott, der ihr Schicksal lenkt, oder sie führen kurze erzähltheoretische Exkurse, wobei für sie, wie es an einer Stelle heisst "Gesetze der Handlung" so "unumstößlich und unerschütterlich" sind wie anderweitig "Naturgesetze". Tatsächlich entwickelt sich die Handlung ohne ersichtliche Motivation, vielmehr sind es äussere Ereignisse, welche den Ablauf bestimmen, und Naturwunder, wie die finale "Zaubernacht", welche das Geschehen lenken. Den Bahnhof, den die  beiden Protagonisten Leonardo und Alceste von Anbeginn ansteuern, erreichen sie nie, stattdessen versinken sie am Ende im Tartaros, der sich in einem Erdwall (Prysba) auftut.

Am Schluss pafft der Schlosser Scharaban, eine mythologische Gestalt, der über die Gestirne und den Tageslauf verfügt, seine Pfeife "und durch die blauen Schriftrollen aus Rauch zeichneten sich bereits die unglaublichen Konturen der Slobidischen Schweiz ab." Mit diesem Satz endet der Roman und unterstreicht somit nochmals den fiktiven Status der Geschichte, die nichts anderes als blauer Dunst ist. Das Bild von den Schriftrollen aus Rauch verweist dabei auf eine Szene ungefähr in der Mitte des Buchs, wo ein Baumpflanzer sich aus einem Gedichtblatt eine Zigarette rollt und sie genüsslich verpafft. Auch da steigt "ein Strom bläulichen, süßlichen Rauchs" in den Himmel. 

Literatur besitzt keinen Ewigkeitswert, sondern dient dem momentanen Genuss, der sich auch wieder verflüchtigt wie der Rauch einer Zigarette. Dies zumindest war die Einstellung von Mike Johansen, der die Auffassung vertrat: "Der soziale Wert der Kunst entspricht in etwa dem Wert von Eis und Schnee im Sommer und dem von heißem Tee im Winter. Die sozial produktive Funktion der Kunst ist dieselbe, wie die eines Karussells oder eines harmlosen Spiels; das Wort ist eine der Möglichkeiten, sich zu erholen."



Sonntag, 17. September 2023

Ulrich Becher: Das Profil (1973)

Ulrich Becher war seit jeher ein wortmächtiger, saft- und kraftvoller Erzähler, der seine Lebenswirklichkeit in skurrile, groteske, zuweilen karikierende Geschichten packte - geschult an seinem frühen Mentor, dem Karikaturisten George Grosz, der in diesem späten Roman dem Maler Altdorfer Pate stand. Wie Grosz so wohnt auch Altdorfer - er wählt diesen Übernamen als Referenz an den historischen Künstler, den er zusammen mit Matthias Grünewald als Proto-Expressionisten verehrt - als exilierter Künstler auf Long Island bei New York - und zwar, wie es an einer Stelle heisst, in unmittelbarer Nachbarschaft von George Grosz. Hier trifft die Realperson auf ihr fiktionales Alter Ego Altdorfer und die Wirklichkeit vermengt sich mit der Erfindung, wie es typisch für Bechers Prosa ist.

Altdorfer schlägt sich mehr schlecht als recht im New Yorker Kunstbetrieb durch. Umso erfreuter zeigt er sich, als sich ein Reporter von der Manhattan Review bei ihm meldet, um einen ausführlichen Beitrag über ihn zu schreiben - ein "Profil", wie die Rubrik heißt. Eine Woche lang interviewt Dennis Howndren, so der Name des Journalisten, den Künstler, doch dann geraten beim Dinner am letzten Abend die Dinge ausser Kontrolle. Howndren entpuppt sich als trockener 'dipsomaniac', als ehemaliger Quartalssäufer, der den Anonymen Alkoholikern beigetreten ist und den Spirituosen seither abgeschworen hat. Da ihm Altdorfer jedoch nachgerade ein Glas Beaune Villages aufdrängt, entfesselt sich die alte Trinklust wieder und Howndren schlägt über die Stränge.

Howndren ist die eigentliche Hauptfigur des Romans. Er wird als Hüne geschildert, als Enakskind, mit phosphorgrünen Augen und einem roten Bürstenhaarschnitt. Eine clowneske, gar mythologische Figur, die gleichzeitig mit dem Tornado Greta Garbo wie eine Urgewalt über Altdorfer und seine Familie hereinbricht. Im Suff beginnt er mit Schüttelbecher Baseball zu spielen, zerdeppert dabei eine Whiskeyflasche, entkleidet sich bis auf die Unterhose, verbrennt seine Schuhe und gerät zusehends ausser Kontrolle, so dass Walt, der eine Sohn der Familie, ihn in eine Zwangsjacke steckt. Mit seinen Riesenkräften vermag sich Howndren jedoch wieder daraus zu befreien, rennt in den Garten und klettert dort auf eine Ulme, von der er nicht mehr herunter will.

Hier liegt ganz offensichtlich eine Anspielung auf den irischen Kultroman At-Swim-Two-Birds (1939) von Flann O'Brien vor, wo die Sage vom König Sweeny in den Bäumen erzählt wird und auch der Alkohol (wie überhaupt bei O'Brien) eine dominante Rolle spielt. Nicht zufällig wird Howndren bei Becher als Ire eingeführt, und je länger die Erzählung andauert, umso mehr verwandelt sich der Journalist in eine sagenhafte, überlebensgroße Figur, bis er am Ende als König Triton nackt am Sund vor New York posiert. Er zählt damit zum Geschlecht anderer literarischerer Riesenfiguren, welche den Lauf der Dinge durcheinander bringen, so zum Beispiel der "sichere Mann" bei Eduard Mörike oder der Riese Sonntag bei G. K. Chesterton.

Erzähltechnisch raffiniert werden die Lesenden unvermittelt auf die mitunter abrupten Wendungen der Geschichte vorbereitet, als nach der anfänglichen Dinner-Szene, wo Howndren seine sozialistischen Exkurse verbreitet, plötzlich ein anderes Kapitel aufgeschlagen wird und der Erzähler sich einlässlich über das geheime Sexleben von Evelyn "Evie" Lampbell ausbreitet, die zuvor als keusche "Defregger-Schönheit" eingeführt wird (in Anlehnung an den biederen Tiroler Genremaler Franz Defregger), in Wahrheit aber, wenngleich emotional stets unbeteiligt, nichts anbrennen lässt und selbst vor Orgien und schwarzen Messen nicht zurückschreckt. Die geneigte Leserin wird von solchen Offenbarungen derart überrumpelt und vor den Kopf gestossen, dass sie in der Folge selbst die wildesten Kapriolen der Geschichte nicht mehr wundern kann.

Der Hang zur Überzeichnung ist Bechers Prosa allgemein eigen. In diesem Spätwerk scheint er es streckenweise jedoch zu übertreiben, oder aber die Lust am schieren Fabulieren verkommt hier mitunter zum reinen Selbstzweck. Ein verrückter Einfall jagt den nächsten, stets in überbordender, sprachgewaltiger Schilderung, was zu Lesen eine wahre Freude ist, auch wenn einem bisweilen die Geschichte entgleitet. Doch wie könnte es bei einem Delirium auch anders sein. Zwischen den Eskapaden der äußeren Handlung flirren jedoch immer wieder enzyklopädische Polit- und Kunstdiskurse durch, welche um das Fanal des Zweiten Weltkriegs kreisen, der nicht nur George Grosz, sondern auch Ulrich Becher ins amerikanische Exil getrieben hat.

Sonntag, 9. Mai 2021

C.K. Chesterton: Der Mann, der Donnerstag war (1908)

G.K. Chesterton war weitaus mehr als nur der Erfinder des behäbigen Ermittlerpriesters Pater Brown. Neben diesen berühmten Kriminalgeschichten verfasste er eine Fülle von weiteren Erzählungen, scharfsinnige und witzige Essay so wie eine Handvoll Romane, von denen The man who was Thursday (1908) am einflussreichsten war. Es ist eine Mischung aus Thriller und Nonsens, welche die Grenzen zwischen Traum und Realität verwischt, und gilt deshalb als Vorläufer von alptraumhaften Visionen eines Kafka oder Borges. Im Untertitel wird der Roman auch als «A Nightmare» bezeichnet – in der deutschen Übersetzung als «eine Nachtmahr». Am Ende entpuppt sich tatsächlich alles als verrückter Traum, wobei es unklar ist, wann genau die Erzählung die Realitätsebene verlässt und in eine zusehends irrwitzige Phantasmagorie schlittert. Es gehört jedoch zur Raffinesse des Erzählers, dass die Ereignisse, so absurd sie auch anmuten, nie unglaubwürdig wirken.

Doch worum geht es: Im Zentrum steht der Dichter Gabriel Syme, der von einer Spezialeinheit der Polizei angeheuert wird, um sich in Anarchistenkreise einzuschleusen, was ihm auch gelingt. Unter dem Decknamen «Donnerstag» dringt er in den inneren Zirkel um den hünenhaften, ominösen «Sonntag» vor, der in ganz England Sprengstoffattentate mit Dynamit plant, die es zu vereiteln gilt. In ständiger Angst aufzufliegen, fühlt sich Syme von Anarchisten aus der Gruppe observiert. Es kommt zu Duellen und rasanten Verfolgungsjagden zu Fuss im Auto und im Ballon, die aber alle in der Pointe münden, dass jeder der vermeintlichen Anarchisten sich in Tat und Wahrheit als verdeckter Ermittler erweist. So stellt sich schliesslich die ganze Anarchistenbande als maskierte Gesetzeshüter heraus, die von der Person namens «Sonntag» rekrutiert worden war. Der Roman mündet schliesslich in einer allegorischen Szene, wo alle Polizisten als Personifikationen der Wochentage figurieren und sich zu einem Show-down versammeln – bis dann die Traumblase zerplatzt und der Protagonist Syme wieder erwacht.

Die faszinierendste Figur des Romans ist jedoch der rätselhafte Sonntag, der als eine Art Übermensch oder Gott geschildert wird: ein Riese, ein halbes Tier, der mit der mythologischen Gestalt des Pan verglichen wird und den Syme an die «kolossale Memnonmaske» im British Museum erinnert. Sonntag ist eine dämonisch-archaische Urgestalt, auch eine karnevaleske Figur im Sinne Bachtins, wenn er etwa seinen Verfolgern seine «unmessbare, unübersehbare Hinteransicht» präsentiert und sie mit Nonsens-Botschaften traktiert. Er ist eine irrationale Kraft, welche das Verständnis der Menschen übersteigt; er ist der Gott, der mit den Menschen spielt und darüber lacht. Kurz vor dem Aufwachen stellt er Syme die Frage: «Vermagst Du aus dem Kelch zu trinken, aus dem ich trinke?» Gemeint damit ist der ‘bittere Kelch’, der «Becher des Zorns», aus der Bibel als Symbol für ein schweres Schicksal, das es zu ertragen gilt. Der Mensch, so die Pointe von Chestertons «Nachtmahr», muss die Absurdität seines Daseins ertragen, auf die nicht einmal ein Gott eine Antwort weiss. Der Roman gibt sich so als eine umgekehrte Theodizee zu erkennen. Chesterton soll einmal gesagt haben: Die Welt sei «die beste aller unmöglichen Welten».

Sonntag, 25. April 2021

Dror Mishani: Drei (2018)

Das ist er also, der Roman, der Finn Canonica solche Angst gemacht hat, wie er in Das Magazin vom 10. April 2021 schreibt: "Ich las das Buch auf einer Reise und musste nachts aus einem Hotelzimmer in Georgien meine Frau anrufen, um ihr zu sagen, dass ich nicht schlafen kann vor Angst." Hoppla. Doch weshalb diese Angst? Weil "das Böse Einzug [hält] in die Geschichte, ohne Ursache, es gibt keine Erklärung". Es ist, um eine Formulierung von Hannah Arendt zu entfremden, also die Banalität des Bösen, die hier angeblich Schrecken einjagt: Es ist das Unbegreifliche, das Canonica ergreift.

Aber worum dreht sich die Geschichte überhaupt? Es geht um Gil, einen Rechtsanwalt in mittelerm Alter, verheiratet mit einer Frau aus vermögender Familie und zwei Kindern, der ein Doppelleben führt und mit labilen Frauen anbandelt, um sie im geeigneten Moment grundlos abzumurksen. Ein Psychopath, ganz offensichtlich. Der Trick des Romans besteht aber darin, die Geschichte aus der Perspektive dreier Frauen zu erzählen. (Daher der Titel Drei, der sich auch auf die Hausnummer der leerstehenden Wohnung beziehen kann, wohin Gil seine Opfer lockt.) Es ist die bittere Pointe des Romans, dass hier narrativ über weite Strecken psychologisch komplexe Frauenfiguren mit ihren Nöten, Sorgen und Alltagsproblemen aufgebaut werden, nur um sie mit wenigen Zeilen wieder auszulöschen.

Wobei - Achtung Spoiler! - die dritte Frau eine verdeckte Ermittlerin ist, die den Mörder schliesslich zu fassen kriegt, ohne jedoch Erklärungen zu erhalten, was eben Finn Canonica so nachhaltig verstört hat: "'Aber warum hat er das getan? Hat er Ihnen erklärt, warum?', fragte Ronen, doch auf seine Frage konnte sie ihm keine Antwort geben, da Gil zu dem Zeitpunkt noch immer alles abstritt." Der Roman endet dann auch, ohne Erklärung und ohne Geständnis. Was bleibt ist eine leicht romantisierende Erinnerung der Ermittlerin an ihre Begegnungen mit Gil, dessen Faszination sie sich nicht ganz entziehen kann und ihm so fast auch zum Opfer gefallen wäre, weil sie ein gefährliches Spiel mit ihm einging. Insofern tatsächlich ein 'teuflischer' Charakter, wie Canonica, schreibt, zumal die Grausamkeit hinter einer einnehmenden Oberfläche lauert... 

Aber wirklich zum fürchten? Eher nicht. Dafür ist der Roman doch zu platt, zu glatt und geschliffen, zu schablonenhaft und zu vorhersehbar und letztlich mit einer poetischen Gerechtigkeit ausgestattet, welche die Gemüter besänftigen will. Nicht allein, dass Gil dingfest gemacht wird, die toten Seelen der zwei ermordeten Frauen wachen am Schluss über den Schlaf der Polizistin. Und so mündet der Thriller letztlich in barem Kitsch, wie überhaupt, die gesamte übersinnliche Ebene, die sich ungefähr in der Hälfte des Romans einschleicht, nicht immer frei vom Kitschverdacht ist. 

Bleibt letztlich nur die offene Frage, auf die nicht einmal die Geister eine Antwort haben: Weshalb? Weshalb nutzt Gil die Frauen erst über längere Zeit emotional aus, um sie schliesslich zu beseitigen? Ein diskreter psychologischer Hinweis bietet der Roman dennoch: Gil leidet offenbar unter einem ausgeprägten Waschzwang, auch scheint er einen Sauberkeitsfimmel zu besitzen, stellt er doch Emilia als Reinigungskraft für seine leerstehende Wohnung ein. Zwangsneurotiker können ihre Impulse schlecht unterdrücken, das ist die einzige Erklärung. So lässt sich auch die Beseitigung der Frauen als erweiterter, pervertierter Auswuchs seiner Zwangshandlung verstehen: der Mord als ultimative Bereinigung. Und so wird auch verständlich, weshalb Gil als Saubermann und eben nicht als Schurke auftritt.


Sonntag, 18. April 2021

Hans Blumenberg und Carter Brown

Ein überraschendes, auch amüsantes Detail aus der im letzten Jahr erschienen Biographie über Hans Blumenberg von Rüdiger Zill ist, dass der Grossphilosoph mit dem unvergleichlich eleganten Wissenschaftstil offenbar auch eine Vorliebe für Groschenliteratur hegte. Zitiert wird eine bereits 1998 publizierte Anekdote von Blumenbergs ehemaligem Assistenten Ferdinand Fellmann an der Universität Giessen, dass er regelmässig den Auftrag bekam, die neuesten Krimis von Carter Brown zu besorgen.

Der heute kam mehr bekannte Autor (mit bürgerlichem Namen: Alan Geoffrey Yates) war damals einer der erfolgreichsten und produktivsten australischen Krimischreiber. Sein Katalog von über 200 Geschichten umfasst auch so vielversprechende Titel wie "Booty for a Babe", "Blonde, Beatiful, and - Blam!", "Cutie wins a Corpse", "The Stripper", "The Sex Clinic", "The Pornbroker" oder "Shamus, Your Slip is Showing". Allein diese kleine Auswahl macht deutlich, dass es sich um eine besonders triviale Variante des nicht zuletzt durch Ian Flemings Bond-Romane popularisierte Genre Sex & Crime handeln muss, an dem sich Brown ganz offensichtlich orientiert. 

Woran lag nun aber die Faszination für Blumenberg. Fellmann, der ehemalige Assistent, meint: "Uns faszinierte er wegen des lockeren Macho-Stils, der die Rollenverteilung der Geschlechter spiegelte, die heute kaum noch jemand nachvollziehen kann." Eine weitere Antwort könnte sein, dass Carter Brown Krimis das Sex & Crime-Genre nicht nur bedienten, sondern zugleich auch parodierten. Es handelt sich also um Meta-Schundromane, was sie intellektuell wieder unterhaltsam und auch goutierbar machen. Tatsächlich soll Carter öfters Anspielungen auf Krimis anderer Autoren wie etwa Raymond Chandler in seinen Texten versteckt haben.

Der Eindruck, dass bei Carter das Trivialgenre in seinen Stereotypen bewusst überboten wird, bestätigt sich bei einer stichprobenartigen Lektüre. Das Lesefrüchtchen hat sich für "Heisse Höschen - Kaltes Blut" (so die frivol-freie deutsche Übersetzung von "The Coffin Bird") entschieden. Bereits der zweite Satz kann eigentlich nicht anders als parodistisch gemeint sein: "Es musste etwa sieben Uhr morgens gewesen sein, als der Hausherr mich eigenhändig hinauswarf, dabei herzlos meine Beteuerungen ignorierend, dass ich die Frau des Hauses nur irrtümlich für eine Nymphomanin unter vielen auf dieser glorreichen Party gehalten hatte."

Damit ist der Hauptdarsteller, der Privatschnüffler Danny Boyd, auch schon vollumfänglich charakterisiert: Ein Playboy, der sich gerne mit leichten Mädchen vergnügt, und nebenher noch ein paar Fälle aufdeckt. Wobei selbst er als Ober-Macho ein gewisses Berufsethos vor sich herträgt, schliesslich wolle er nicht, wie es bei Gelegenheit eines Schäferstündchens heisst, "wie ein Amateur-Lustmolch über sie herfallen". 

Teilweise wirken die Szenen so skurril und surreal, dass sie tatsächlich wie ein Versuch in experimenteller Prosa anmuten, die bewusst Bilder und Metaphern überdehnt. So wird die Situation nach einem Kampf mit einem aufgebrachten Frauenzimmer wie folgt geschildert:

"Ich erhob mich und überblickte ein Feld der Verwüstung. Sonias Gesicht drückte sich immer noch fest in das weisse Couchleder, jetzt allerdings knapp über dem Fussboden, während der hochragende Sitz ihren Rumpf in senkrechter Position hielt. Ihre langen Beine hingen auf der anderen Seite herunter, so dass sie alles in allem etwa die Gestalt eines halb zusammengeklappten Taschenmessers angenommen hatte. Das ergab ein wahrhaft künstlerischen Bild, mit ihrem wohlgerundeten Hinterteil als Mittelpunkt."

Ein tableau vivant à la Picasso... Eine andere Szene schildert, wie die Raumdimensionen schrumpfen, als ein Hüne sich vom Sessel erhebt: "Ein Mann, der bei unserem Eintritt hinter einem wuchtigen Schreibtisch gesessen hatte, erhob sich jetzt, und prompt schrumpfte das Zimmer etwa auf die Hälfte zusammen. [...] Sowei sich die Tür hinter Harris geschlossen hatte, nahm das Zimmer wieder seine normalen Dimensionen an." Die Idee eines dehnbaren Raumes ist durchaus originell - dem Lesefrüchtchen bislang nur aus Boris Vians Schaum der Tage bekannt. 

Sonntag, 5. Juli 2020

Fruttero & Lucentini: Der rätselhafte Sinn des Lebens (1994)

Hätte Dan Brown seine Erfolgsromane früher (bereits vor 1994) geschrieben, könnte man das Gemeinschaftswerk von Fruttero & Lucentini glatt als Parodie auf dessen Mystery-Thriller verstehen. Während Robert Langdon bei Dan Brown dem Heiligen Gral oder den Illuminaten nachjagt, geht es bei beim italienischen Krimi-Duo um nichts geringeres als um den Sinn des Lebens.

In Europa ist eine "metaphysische Krise" im Ausbruch, welche das gesamte Gesellschaftssystem lahmzulegen droht, wenn sich kein Sinn des Lebens auffinden lässt. Deshalb werden die beiden Journalisten Fruttero und Lucentini – die Autoren treten hier selbst als ‘Ermittler’ auf – frühzeitig damit beauftragt, dem Lebenssinn in einem investigativen Einsatz nachzuforschen und werden dabei von diversen Interessegruppen verfolgt und beschattet. Ihr Ziel ist Griechenland als mythologische Wiege der Menschheit. Dort hoffen sie Aufschluss über den Sinn des Lebens.

Stattdessen erleben sie auf ihrer Reise allerhand seltsame Begegnungen und Begebenheiten, allesamt in grösstmöglicher Überzeichnung. Höhepunkt ist dabei die beiläufige Abrechnung mit dem Sightseeing-Tourismus. Die Pauschalurlauber werden von ihren Führern quasi in Geisselhaft genommen und zu allerhand Extratouren gezwungen. Die drangsalierten Touristen fliehen scharenweise ins Hinterland, wo sie von ihren Guides verfolgt und wieder 'gefangen' genommen werden. Satirisch nehmen hier Fruttero & Lucentini die Zwänge und Zumutungen solcher Pauschalangebote zu unterziehen.

Die Suche nach dem Sinn des Lebens mündet schliesslich vor dem Orakel von Delphi, das natürlich längst auch kommerziell ausgeschlachtet wird. Allerdings ertragen die wenigsten Touristen das Nosce te ipsum und stürzen sich aus Schock vor so viel Selbsterkenntnis reihenweise in den Abgrund.

In Delphi treffen die beiden Journalisten zudem auf eine Sybille, die sich als Reinkarnation von Pythagoras Tochter zu erkennen gibt, ausserdem hat sie etliche Metempsychosen als Vögel durchlebt. Am Ende entpuppt sie sich als Eule der Minerva, die – Hegel zitierend – in der Dämmerung zu ihrem Flug ansetzt. So endet der Roman mit der Einsicht, dass philosophische Erkenntnis erst im Nachhinein erfolgt. So erschliesst sich auch der Sinn des Lebens erst in seinem Vollzug (und nicht durch einen orakelhaften Sinnspruch).

Die als "philosophischer Roman" deklarierte Erzählung ist eine kleine intellekturelle Farce mit viel Klamauk und einem Hang ins Groteske. Für Krimileser zu schräg, für Philosophen zu doof, aber zur Erheiterung für einen erschöpften Geist gerade richtig.