Freitag, 29. Dezember 2023

Abram Terz: Klein Zores (1980)

Unter dem Pseudonym Abram Terz veröffentlichte Andrej Sinjawskij in der Sowjetunion zahlreiche phantastische Geschichten, darunter auch den utopischen Roman Ljubimow (1964), der sich kritisch mit dem kommunistischen Regime auseinandersetzt, was dem Autor 1966 nach einem aufsehenerregenden Schauprozess eine siebenjährige Haftstrafe einbrachte. 1973 entliess man Sinjawskij ins Exil nach Paris, wo er sich als Dozent für russische Literatur an der Sorbonne eine neue Existenz aufbauen konnte. Es erschienen diverse Sachbücher zur russischen Kultur und Literatur sowie diese kleine Erzählung, die an die phantastischen Anfänge seiner Schriftstellerei anknüpft.

Märchen, Parabel, Allegorie, autofiktionale Spielerei und eine Hommage an E.T.A. Hoffmann, den Meister des Phantastischen - die Erzählung ist alles in einem und noch viel mehr, voll von intertextuellen Anspielungen und hermetischer Symbolik. Der Held heisst, wie der Autor mit bürgerlichem Namen, Sinjawskij, wird aber von allen nur "Klein Zores" genannt, weil er ein "Zwerg" ist, nicht mehr Kind, aber auch nicht ganz erwachsen, und vielen wie "Lermontows Dämon" vorkommt. Wie der russische Romantiker in seinem Verspoem den Faust-Stoff aufgreift, so geschieht dies auf inverse Weise auch in Klein Zores. Der Protagonist ist quasi eine anti-mephistophelische Kraft.

Von Mephisto heisst es in Goethes Faust, er sei "Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft". Bei Klein Zores verhält sich genau umgekehrt: Er möchte niemandem etwas Böses und doch unterläuft es ihm ständig: "Es ist mir peinlich, dies auszusprechen, aber ich wünsche den Menschen nur Gutes. Ich liebe sie. Überschlage mich dabei. Aber ich erreiche nur das Gegenteil!" Was er auch anpackt, es führt zu einem Unglück: "Das Böse ist nur ein Nebenprodukt des erhofften Guten ..." Grund dafür ist, dass Klein Zores in Kinderjahren seine "Liebe" opferte, damit ihn eine Fee von seinem Stottern befreite: "So verkaufte ich mich, ohne zu ahnen, was ich tat, dem Teufel."

Wie das Kunstmärchen über den ebenfalls zwergwüchsigen Klein Zaches bei E.T.A. Hoffmann, das Sinjawskij als Vorlage diente, erfolgt auch hier die Sozialisation des Protagonisten durch Feenzauber, der ihm das Sprechen erst ermöglicht. Im Unterschied zu Klein Zaches, der fortan eine glanzvolle Karriere durchläuft, ist Klein Zores jedoch vom Pech verfolgt. Ohne es zu wollen, bringt er der Reihe nach seine fünf Brüder und schliesslich auch seine Mutter ins Grab. Eigentlich unschuldig, trägt er doch die Schuld an ihrem Tod, dabei möchte er, der als "Bastard" geboren wurde, bloss herausfinden, wer sein Vater ist, muss am Ende - in einem überraschenden Perspektivenwechsel der Erzählung - jedoch erfahren, dass er, Zaches, längst gestorben und der Vater wahrscheinlich an seinem Tod verantwortlich ist.

Dieser Dreh, dass eine vermeintlich lebende Person sich plötzlich als Geist erweist, ist zwar nicht neu, hier aber effektvoll eingesetzt: Auf einmal ist klar, weshalb Zaches ein "Zwerg" geblieben ist, weil er schon als Kind verstarb: "Klein Zores ist überhaupt kein Erwachsener geworden." Aus einer jenseitigen Welt wohnt Zaches seinem Leichenschmaus bei, bei dem die Geschwister sich darüber in die Haare geraten, wie und weshalb er gestorben sei. Es werden genau diejenigen Todesarten erörtert, denen die Geschwister angeblich durch Zaches Schuld zum Opfer fielen. Doch erweist sich dies als Illusion, wie am Schluss sich ohnehin die ganze Szenerie als Spuk verflüchtigt. Zurück bleibt ein alter Mann (der Autor selbst?), der seine fünf Finger, stellvertretend für die fünf Brüder, auf einen Stapel vollgeschriebener Blätter legt.

Neben dem alten Mann steht ein zudem Schrank, der sich "auf seinen Hinterbeinen in die Höhe" reckt. Dasselbe Schränkchen traf Klein Zaches in der Geschichte bereits bei der Fee an und er vermeinte, dass es "Ernst Theodor Amadeus Hoffmann persönlich" sei, "der uns auf vier gedrehten Beinchen besucht". Hier rettet sich zum Schluss ein Requisit aus der Fiktion in die Schreib-Szene, die sie hervorgebracht hat - und bestätigt rückwirkend die Vermutung des Protagonisten. Das Kästchen, das in der Erzählung reg- und leblos blieb, bewegt sich plötzlich. Ob tatsächlich der Geist E.T.A. Hoffmanns es belebte, bleibt der Phantasie der Leserschaft überlassen. 

Mittwoch, 27. Dezember 2023

Henry James: The Turn of the Screw (1898)

Henry James 'Geistererzählung' von 1898, The Turn of the Screw, wurde unter verschiedenen Titeln ins Deutsche übersetzt: wörtlich als Die Drehung der Schraube, etwas freier als Der letzte Dreh der Schraube bzw. Schraubendrehungen und komplett anders als Die Tortur, Die Teuflischen oder  Das Geheimnis von Bry - benannt nach dem fingierten Londoner Landsitz, wo sich die unheimlichen Begebenheiten abspielen. Der letzte Titel verpasst dabei die zentrale Metapher, welche den Gang der Ereignisse charakterisiert: Wie eine Schraube windet sich die Erzählung dem unerbittlichen Ende zu, gleich einem Flugzeug, das sich in einer letalen Abwärtsspirale befindet und sich dabei ebenfalls schraublinienförmig bewegt.

Im Zentrum der Geschichte stehen zwei "grässlich artige" Kinder - ein Junge namens Miles und ein Mädchen namens Flora. Die widersprüchliche Formulierung ("grässlich artig") hat Programm: Die Kinder sind von einer fast schon ins Unnatürliche kippenden Anmut. Zumindest werden sie von ihrer Gouvernante so geschildert: Sie erscheinen als unschuldige Engel, geben sich im Umgang zuckersüss und allerliebst, doch mehr und mehr nähert sich ihre Erzieherin der Gewissheit, dass sich hinter ihrer einnehmenden Fassade entsetzliche Abgründe verbergen. Alles nur "Verstellung und Trug". Erste Zweifel beginnen, als die namenlose Gouvernante einen Brief von der Schule bekommt, in dem mitgeteilt wird, dass Miles - ohne nähere Angaben der Gründe - von der Schule geflogen ist.

Zunächst ungläubig, weshalb ein dergleichen artiger Knabe vom Unterricht suspendiert wird, stimmen sie die folgenden Ereignisse zunehmend skeptisch und führen sie zur Überzeugung, dass die beiden Kinder mit den Geistern zweier verstorbener Personen in übersinnlichem Kontakt stehen, die früher auf dem Anwesen in Bry wohnten und damals die Kinder bereits verdorben hätten: ihre vormalige Erzieherin Miss Jessel und Peter Quint, der verrufene Freund des Hausherrn, die zusammen ein lasterhaftes, weil unstandesgemässes Verhältnis pflegten, das von den Kindern gedeckt wurde - und offenbar auch postum weiter gedeckt werden soll. Deshalb versuchen die beiden Toten durch dämonische Mächte die Kinder in ihren Bann zu ziehen.

Das jedenfalls ist die These der namenslosen Gouvernante, aus deren Perspektive die Hergänge geschildert werden und die die Geister selbst zu sehen glaubt. Aufgrund einer raffinierten Erzählführung bleibt es in der Schwebe, ob sich der Spuk tatsächlich wie geschildert abspielt und die engelhaften Kinder wahrhaftig eine dämonische Seite verbergen - oder ob nicht alles Hirngespinste der Erzählerin sind, die sich in eine idée fixe verrannte und davon auch die Haushälterin, die sie ins Vertrauen zog, überzeugen konnte. Immerhin reflektiert sie an einer Stelle kurz die Möglichkeit ihrer eigenen "Besessenheit" in der ganzen Angelegenheit, die in einem übersteigertem Kontroll- und Verfolgungswahn zum Ausdruck kommt. Das Verhältnis zu den Kindern kippt zusehends von anfänglicher Entzückung in unverhohlenes Misstrauen.

Am Ende weiss man daher nicht, ob es sich bei dem Bericht bloss um den Rechtfertigungsversuch einer paranoid gewordenen Erzieherin handelt, die sich in eigene Wahngebilde verstrickte und dadurch den Tod ihres Zöglings verschuldete. Als sie in der finalen Szene Miles zur Rede stellt und endlich erfahren will, weshalb er aus der Schule flog, sieht sie den Geist von Peter Quint erneut, triumphiert aber, weil sie glaubt, den Jungen beschützen zu können. In diesem Moment fällt Miles, der sich zu weit aus dem Fenster lehnte, um sich nach Quint umzusehen, vom Sims und dem realen "Abgrund" zu, von dem ihm die Gouvernante im übertragenen Sinn bewahren wollte. Doch ihr Rettungsgriff erweist sich als Todesgriff. Es wird zwar nicht ausgesprochen, doch ist Miles zweifelsohne dabei erstickt. Nach dieser letzten Drehung der Schraube liegt er tot in ihren Armen.

Die unzuverlässige Erzählsituation gewinnt einen zusätzlichen Dreh dadurch, dass der Bericht, der zwar von der Gouvernante stammt, von einem Mann verlesen wird, der ihr früher als Knabe in kindlicher Liebe verfallen war und dem sie später als einziger Person schliesslich ihr Geheimnis anvertraute: in Form eines handgeschriebenen Berichts, der detailgenau die Gespenstergeschichte wiedergibt. Wie das Kindermädchen vormals der Haushälterin ihr Hirngespinst glaubhaft zu vermitteln vermochte, so will sie offensichtlich auch künftige Leserinnen und Leser von ihrer Version der Geschichte überzeugen und über die Deutung der Geschehnisse die letzte Kontrolle behalten.

Standen die Kinder tatsächlich unter dem Bann des Bösen oder wurde der arme Miles durch den Wahn seiner Gouvernante in den Tod getrieben? Ihr Bericht plädiert innerdiegetisch klar für die erste Variante, die Erzählung von Henry James lässt die Frage insgesamt offen. Das Lesefrüchtchen würde jedenfalls folgende Übersetzung des Titels bevorzugen: Das Durchdrehen der Schraube, weil damit schon angedeutet wäre, dass es die 'Schraube' (ugs. für Frau) ist, die durchdreht (ugs. für wahnsinnig werden). Zumindest hat sie sicher eine Schraube locker. Auf Englisch besitzt das Wort screw umgangssprachlich hingegen eine sexuelle Konnotation und meint den Koitus.

Dieser Subtext dürfte bei James tatsächlich angelegt sein, da es sich im Grunde auch um eine Sublimationsgeschichte handelt, die Wahnvorstellungen also auf unerfülltes sexuelles Verlangen zurückzuführen sind. Das Kindermädchen nimmt die Stelle auf Bly überhaupt deshalb an, weil sie dem Zauber des Hausherrn verfallen war, der sie jedoch nur unter der Bedingung anstellte, dass "sie ihn niemals behelligen dürfe". Ihre unterdrückten Gefühle und Triebe projiziert sie fortan auf das angeblich unmoralische Verhältnis zwischen Quint und Miss Jessel, das jedoch als grosses Tabu behandelt, niemals direkt, sondern stets als "Teufelswerk" und "Verderbnis" angesprochen wird. Wie sehr der Bericht gegen den Willen der Erzählerin subkutan durch sexuelle Motive bestimmt ist, zeigt sich an einer Stelle besonders deutlich, als sie schildert, wie Flora mehrfach versucht, einen Ast in das Loch eines anderen Holzstückes zu stecken, sie daran aber "nichts Doppelsinniges" erkennen kann. - Das Lesefrüchtchen hingegen schon. :)

Dienstag, 26. Dezember 2023

Jeremias Gotthelf: Das Erdbeeri Mareili (1851)

Es ist die Geschichte eines "bsonderbaren Kindes", eines "gespässigen Meitschis", das lieber "erdbeeren" geht, als sich in grosse Gesellschaft begibt: "Mag das Gred und Gstürm nicht mehr hören und das Weltschen nicht". Ein Mädchen, das abgewandt von der Welt ein blühendes Innenleben hegt. Beschrieben wird es als "ein schöneres, reineres Gemüt". Mit Goethe könnte man auch von einer "schönen Seele" sprechen. Hat uns der Pfarrer Albert Bitzius unter seinem nom de plume Jeremias Gotthelf eine Heilige vor Augen gestellt? Oder liegt die "Besonderheit", die "Gespässigkeit" des Kindes in ganz anderer, verquerer Richtung?

Wie so oft bei Gotthelf ist auch diese Geschichte in eine Rahmenhandlung eingebettet: Der junge, etwas stolze und eingebildete Gerichtsäss Peter Hasebohne wird ans Totenbett des Erdbeeri Mareili bestellt, die ihm Tschaggeneigraben wohnte - einer wüsten, wahrlosten Gegend abseits des Dorfes, dort wo sich - wie es im Volksmund heisst - "Füchse und Hasen einander gute Nacht sagen". Umso mehr erstaunt Hasebohne, als er sieht, wie ordentlich, sauber und offenbar auch wohlhabend das Mareili lebte. Er entdeckt nicht nur schöne Kleider, Schmucksachen und Kleinodien; auch Geld ist ausreichend vorhanden. Der Dorfpfarrer, der auch Bitzius selbst sein könnte, erzählt dem verdutzten Amtmann, wie das Mareili zu diesem unvermuteten Reichtum kam.

Zusammen mit zwei jüngeren Geschwistern lebte es einst mit seiner Mutter im besagten Tschaggeneigraben in grösster Armut. Die Mutter fürchtet schon früh um den Tod es Kindes, da es im Unterschied zu seinen beiden Geschwistern weltabgewandt und mit einer blühenden Phantasie ausgestattet ist. Und doch besitzt es eine besondere Gabe, die der Familie hilft, sich über Wasser zu halten. Bei seinen Streifzügen durch den Wald entdeckt es die schönsten und schmackhaftesten Erdbeeren, welche die Mutter im Dorf den wohlhabenden Leuten feilbieten kann. Jeden Winter wartet das Mareili sehnsüchtig auf den Frühling, um wieder Erdbeeren pflücken zu gehen. 

Eines Tages übermannt es beim Erdbeeren der Schlaf, auch "Vetter Schläfli" genannt, und es kommt zum wohl schönsten Satz der gesamten Erzählung: "Meister Schläflein ist ein gar mächtiger Mann, kann schlafen, wo er will, Könige zwinget er, geschweige denn Kinder". Im Traum erscheint dem Mareili ein schöner weisser Engel, doch wie sich später herausstellt, handelt es sich um gar kein überirdisches Wesen, sondern um einen "Engel auf Erden" in "Menschengestalt". Als es Jahre später einem vornehmen Fräulein begegnet, erkennt es in ihm auf ein Mal ihren Engel im Schlaf - und auch das Fräulein erkennt das Mareili wieder, das für es ebenso engelhaft erschienen ist.

Zwischen den beiden entwickelt sich eine Art Liebesgeschichte. Führt es zu weit, wenn man vermutet, Gotthelf erzähle uns verklausuliert die Geschichte einer lesbischen Liebe? Die Erdbeere ist nicht zufällig auch das Symbol sündhafter Lust und kann sogar das weibliche Geschlechtsteil symbolisieren. Zudem ist es auffällig, wie in der Erzählung das "Verhältnis zum Fräulein" betont wird, und wie stark die emotionale Ergriffenheit bei der ersten bewussten Begegnung war: die "magnetische Kraft in den Augen" des Fräuleins "bewegten" dem Mareili "das Herz", "fast wie der Engel das Wasser im Teiche Bethesda, mit dem Unterschied jedoch, dass es Mareili nicht trüb ward im Herzen, sondern hell und licht, eine klare Freudenflamme loderte".

Während sich Mareili unverkennbar sofort über beide Ohren verliebt, dauert das 'Coming-Out' beim Fräulein länger, denn es lebt in "konventionellen Schranken". Gotthelf nennt es den "Schnürleib": "In einem solchen Schnürlieb stak das arme Fräulein, fühlte ihn vielleicht oft lange nicht, er schien ihm zur andern Natur geworden, bis bei besondern Anlässen oder besondern Stimmungen die Gefühle schwollen, gegen die Bande drängten, Kopf und Herz zu platzen drohten, endlich in eine Schwäche bis zum Tod der Brand verlief."

Erst im Alter "fiel der Schnürleib ab" und das Fräulein "begann sich vor allem der Liebe zu Mareili bewusst zu werden, welche eigentlich schon lange in ihm war, bis es aber, solange der Schnürleib seine Gefühle in alter Gemessenheit erhielt, nicht bemerkt, an die Möglichkeit ihrer Existenz gar nicht gedacht hatte." Das klingt heutigen Ohren, wo sich zahllose junge Menschen ebenfalls von den gesellschaftlichen Fesseln der Genderkonventionen befreien wollen, höchst vertraut. Das Fräulein nimmt Mareili bei sich zu Hause auf, wo sie "ähnlich zwei Nonnen" lebten, welche "die Welt hinter sich gelassen und über die Welt zu Schwestern geworden waren".

Während heute Lesben im Jargon auch Betschwestern genannt werden, wird hier eine lesbische Liebe in vergleichbarer Logik zu einer heiligen Schwesternschaft verklärt, die - auch das wird eigens betont - kinderlos bleiben wird. Ist denn dem Pfarrer Bitzius so viel Queerness wirklich zuzutrauen? Die Rahmen-Geschichte endet jedenfalls wieder in konventionellerem Rahmen, allerdings nicht ohne Augenzwinkern auf die herkömmlichen Geschlechterverhältnisse. Der Pfarrer schliesst seine Erzählung damit, dass das Fräulein stirbt und das Mareili nun zwar wohlhabend trotzdem wieder in ihr altes Häuschen im Tschaggeneigraben zieht, wo es unter all den Reichtümern schliesslich vom Gerichtsäss auch tot aufgefunden wurde. 

Dieser scheint von der ganzen Erzählung wenig beeindruckt, vor allem versteht er nicht, weshalb der Pfarrer das Mareili so hochschätzt und gar behauptet, "das Erdbeeri Mareili sei besser gewesen als Ihr und ich". Darauf kontert Hasebohne mit einer Behauptung, die seine misogyne Haltung klar zum Ausdruck bringt: "Aber, ob es dann imstande gewesen, Pfarrer zu sein oder gar Grichtsäss, selb müsste ich doch zwyfle, drzu bruchts Verstand, wo me hinger emene Wybervölchli nit fingt." Auf welch schwachen Beinen diese Meinung steht, lässt Gotthelf durchblicken, als sich Hasebohne schliesslich verabschiedet: "Aber jetzt muss ich heim. Meine wird luege, wo ich herkomme, die gibt mir eine Kappe, es ist e Handligi!" So viel sich der Gerichtsäss auch auf das Männerprimat einbildet, zuhause hat immer noch die Frau die Hosen an. Selbst wenn Gotthelf als Erzähler das Predigen selten lassen kann, mitunter ist er doch witzig, der Pfarrer Bitzius.

PS: Ausserdem erkannte Albert Bitzius schon lange vor Michel Foucault, dass die einfachen Leute keine offizielle Geschichte und kein Recht auf Historiographie besitzen, dass dies seit jeher nur ein Privileg der besser gestellten Klassen war. Diesem Missstand will er als Erzähler Jeremias Gotthelf entgegenwirken und dem Bauernvolk eine starke Stimme verschaffen. Dieses narrative Programm und Selbstverständnis leitet sich direkt aus einem auktorialen Kommentar ab: "Kornjahre und Weinjahre kennt man, nicht bloss jedes Kind weiss, was sie zu bedeuten haben, sondern sie haben grosse Bedeutung in der Weltgeschichte. Von Erdbeerjahren redet kein Mensch, kein Geschichtsschreiber zeichnet sie auf, und doch haben sie grosse Bedeutung für arme Kinder und arme Weibchen. Nun, das wird eben daher kommen, dass die Geschichtsschreiber sich mehr kümmern um Weinherren und Kornwucherer als um arme Kinder und arme Weiber."

Die Geschichte vom Erdbeeri Mareili ist somit Gegenhistoriographie im doppelten Sinn: Die Erdbeere steht im Vergleich zu Korn und Wein nicht nur für die Existenz der kleinen, unbedeutenden Leute, sie steht als erotisches Symbol überdies für die gleichgeschlechtliche Liebe, für die es ebenfalls keine offizielle Geschichtsschreibung gab, zu Gotthelfs Zeiten schon gar nicht, als Kinderlosigkeit und Frauengemeinschaften entweder als "gespässig" oder bei Nonnen als "heilig" galten.

 

Mittwoch, 6. Dezember 2023

Heinrich Zschokke: Hans Dampf in allen Gassen (1814)

Heinrich Zschokke, ein äusserst produktiver Vielschreiber und engagierter Politiker um 1800, ist heute kaum noch dem Namen nach bekannt. Vielleicht weiss man noch, dass sich Zschokke als Grossrat des Kantons Aargau stark für eine moderne Verfassung der Schweiz einsetzte und dass er in jüngeren Jahren zusammen mit Heinrich von Kleist und Christoph Martin Wielands Sohn Ludwig einen Schreibwettbewerb durchführte. Als er 1802 noch in Bern wohnte, hing in seinem Zimmer ein Kupferstich mit dem Titel La cruche cassé, zu dem jeder der drei Freunde eine Geschichte erfinden sollte. Kleist schrieb sein noch heute berühmtes Lustspiel Der zerbrochene Krug, Zschokke eine gleichnamige Erzählung, die wie sein gesamtes Oeuvre mittlerweile als vergessen gelten muss.

Literarisch überlebte von Zschokke lediglich die sprichwörtlich gewordene Gestalt des Hans Dampf in allen Gassen. Sie entstammt einer Erzählung gleichen Titels, die lose an die frühneuzeitlichen Schwankgeschichten der Schildbürger aus dem Lalebuch von 1597 anknüpfen, die später wiederum als Vorbild für Gottfried Kellers Seldwyler-Geschichten dienten. Aus dem Dorf Schilda im Lalebuch wird bei Zschokke die Stadt Lalenburg und bei Keller schliesslich das Zürcherische Seldwyla. Möglicherweise kannte Keller sogar Zschokkes Adaption, jedenfalls klingt seine ebenfalls sprichwörtlich gewordene Seldwyler-Erzählung Kleider machen Leute bei Zschokke bereits an: "Das Kleid macht den Mann!"

Multum non multa lautet eine lateinische Spruchweisheit, die besagt, man soll sich auf eine Gesamtheit konzentrieren, anstatt sich in Vielerlei zu verzetteln. Genau letzteres macht aber Hans Dampf aufgrund der ihm angeborenen "Schmetterlingshaftigkeit seines Gemüts". Er ist ein unruhiger Geist: "Zu sogenannter Gründlichkeit des Wissens fehlten ihm ohnehin Laune und Beruf. Er war rastlos tätig, man möchte sagen, ein quecksilberner Mensch, mischte sich in alles, wollte alles wissen, alles sagen, alles tun -". Bei den einfältigen Lalenburger gelten diese Eigenschaften gerade umgekehrt für "Universalgenialität" und Hans Dampf, der Sohn des Bürgermeisters gar als "Alkibiades", dem die Frauenherzen nur so zufliegen.

Doch im Unterschied zum historischen Alkibiades erweist sich Hans Dampf, wenn wundert's, alles andere als ein grossartiger Staatsmann von Format. Vielmehr vergnügt er sich als Schürzenjäger, da er es partout vermeiden will, mit der ihm zugedachten Rosina liiert zu werden, die zwar aus reichem Elternhaus stammt, leider aber bucklig ist. Als er bei einem seiner nächtlichen Abenteuer direkt aus dem Fenster auf das kostbare Geschirrladung des unten in der Gasse durchfahrenden Töpfers kracht, bringt er die Bevölkerung gegen ihn auf und landet als "Stifter alles Übels" im Kerker, aus dem er aber mit einer List wieder entfliehen kann. Die Stimmung im Dorf ändert sich schlagartig wieder, als Hans Dampf vom Fürst Nikodemus an den Hof gerufen wird, weil er angeblich Tieren das Sprechen beibringen kann.

Mit dieser Kunst ist es genauso wenig weit her wie mit allen anderen Fähigkeiten Hans Dampfs. Er ist nicht einmal in der Lage die soignierten französischen Einsprengsel in der Rede des Fürsten richtig zu verstehen. Als er mit "mon cher" angesprochen wird, meint er, es gehe um seine 'Scher' (Schere). Mehr als ein kläffendes "Ma Ma" vermag er dem Hund auch nicht antrainieren, trotzdem zeigt sich der mindestens ebenso naive Fürst beeindruckt, als der Hund coram publico vollkommen korrekt die Frage beantwortet, wen ein Kind zuerst im Leben erblickt (eben seine 'Mama'). Immerhin erweist hier Hans Dampf einen Restwert an Bauernschläue, getreu nach dem Motto: Im Reich der Idioten gilt selbst ein schwaches Licht als helle Birne.

Nach diesem Muster reihen sich Episoden an Episoden, die allesamt dem Grundsatz sancta simplicitas verpflichtet sind. Als Ouvertüre beginnt die Erzählung mit eine satirischen Absage an die Aufklärung: Eine lalenburgische Maxime besteht darin, "dass Aufklärung und Kenntnisse die tödlichsten Gifte sind, welche man einem Volke beibringen kann. Europa hat den grössten Teil seiner Übel nur der Selbstdenkerei zu verdanken." Zschokkes Geschichte entpuppt sich damit als eine weitere Variante von Erasmus' Lob der Torheit, das unter ironischem Deckmantel die Vorzüge der Dummheit preist und damit eigentlich eine Gesellschaftskritik qua Affirmation vornimmt. Die Geschichte endet denn auch mit einer längeren Rede von Hans Dampf, der kurz vor seiner Ernennung zum Konsul seine 'Klugheitslehre' zum Besten gibt, die nichts anderes als ein Lob der Einfalt ist: "Selig sind die Armen im Geiste. Die sehen in ihrer Einfalt mehr als die von Weisheit Verblendeten."

Donnerstag, 30. November 2023

Chris Kraus: I love Dick (1997)

Nachdem das Lesefrüchtchen mit G. einen Roman gelesen hat, der die unbeholfene Strichzeichnung eines Pimmels enthält, scheint ihm ein Buch mit dem Titel I love Dick die folgerichtige Lektüre zu sein. Der Titel ist natürlich zweideutig zu verstehen - oder mehr noch ist der Titel zunächst nichts anderes als eine plakative Provokation. Denn 'Dick' bezeichnet auf der Erzählebene weniger das männliche Gliedteil als ein erfolgreicher Universitätsprofessor namens Dick, der aber tatsächlich als Sinnbild des inkarnierten Phallogozentrismus figuriert, seinen Namen symbolisch folglich zurecht trägt. 

Das Buch gilt als Referenzwerk, ja als Klassiker feministischer Literatur. Um das zu begreifen, braucht es einige Zeit. Erst in der zweiten Hälfte entfaltet das Buch sein wahres Potential und beginnt wütend, kontrovers und politisch zu werden. Die Geschichte hebt damit an, dass die Ich-Erzählerin, die weitgehend identisch mit der Autorin Christ Kraus ist, und ihr Mann bei Dick eingeladen sind, wo sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Was sich zwischen den beiden an diesem Abend abspielt, nennt Kraus einen "Konzeptfick". Wie bei der Konzeptkunst geht es wohl auch da weniger um die tatsächlich Ausführung, sondern um die reine Idee. 

Aus dem Konzeptfick entwickelt sich daher naheliegender Weise ein Kunstprojekt. Chris und ihr Mann Sylvère beginnen Liebesbriefe an Dick zu schreiben, die sie jedoch nicht abschicken. Was als Spass anfängt, wird für Chris immer ernster, so dass sie sich schliesslich von ihrem Mann trennt, unter anderem weil sie erkennt, dass sie nicht mehr als eine bessere Partybegleitung ihres angesehenen Gatten ist, in dessen Schatten ihre eigene Existenz als Regisseurin gleichsam "ausgelöscht" wurde. Sie übergibt Dick die Briefe und verbringt sogar eine Nacht mit ihm, was jedoch nur zu erneuter Enttäuschung führt, als sie post coitum feststellen muss, dass für Dick der "subtilste, psychowissenschaftliche Blowjob überhaupt", den sie ihm verpasste, nicht mehr als eine willkommene Nummer war, weil er beschlossen habe, "niemals mehr Nein zu sagen".

Selbst beim romantisch idealisierten Dick fühlt sich Chris also einmal mehr als Frau ausgenutzt, gedemütigt und beschämt. Scham ist ein entscheidendes Stichwort für den zweiten Teil des Buches, wo Kraus die Frage erörtert, weshalb für Frauen sooft schambehaftet sei, was Männer berühmt mache, zum Beispiel das Schreiben "in der 1. Person", sich selbst zum Thema zu machen. Gerade dies verfolgt Chris Kraus jedoch konsequent in ihrem Buch, das nicht nur die radikale Ich-Perspektive wählt, sondern überdies mit Klarnamen arbeitet. Alle Personen sind leicht als ihre realen Vorbilder identifizierbar, selbst Dick, dessen Nachname zwar nie genannt wird, hinter dem jedoch unverkennbar der Medientheoretiker Dick Hebdige steht. Die autofiktionale Vermischung zwischen Text und Lebenswelt führt sogar so weit, dass das Buch im Verlag von Sylvère Lotringer, der Edition Semiotext(e), erschienen ist.

Obschon die Desillusionierung mit Dick quasi die feministische Wende bei Chris Kraus initiiert, hört sie nicht auf, Dick Briefe zu schreiben. Bloss sind es nun keine Liebesbriefe im eigentlichen Sinne mehr, sondern ein "Manifest" mit dem provokanten Titel "Jeder Brief ist ein Liebesbrief", das sich insbesondere mit feministischer Kunst auseinandersetzt, mit Ausstellungen von Eleanor Antin, Miriam Shapiro, Hannah Wilke, Judy Chicago u.a. oder mit feministischen Vordenkerinnen wie Simone Weil. Aber auch die Marginalisierung durch das eigene Judentum (das "Itzig"-Sein) kommen zur Sprache und vor allem die fehlende öffentliche Anerkennung von Frauen. Die Frage: "Wer darf sprechen und warum?" ist leitend und die von der Autorin gezogene Bilanz ernüchternd: nach wie vor werde der weibliche Diskurs strukturell unterdrückt. 

Aus dieser Bilanz, dass es "nicht genug niedergeschriebene weibliche Unbändigkeit gibt", leitet Chris Kraus das Kernanliegen ihres Buches ab, das sich in einer Schlüsselpassage verdichtet, die es verdient, ausführlich zitiert zu werden: "Ich habe mein Schweigen und alles Verdrängte mit dem Schweigen des gesamten weiblichen Geschlechts zusammengeführt, und mit all dem, was es verdrängt. Ich glaube, dass es sich bei der blossen Existenz von sprechenden, seienden, paradoxen, unerklärlichen, schnoddringen, selbstzerstörerischen, doch in allererster Linie öffentlichen Frauen um das überhaupt Allerrevolutionärste auf der ganzen Welt handelt." Aus diesem Statement erklärt sich auch die radikale Selbstentblössung, die sich die Autorin gibt. Ihr Ziel ist es, eine "Ehrlichkeit" zu erreichen, welche - einem zitierten Wort René Crevels zufolge - die "Ordnung bedroht".

Ordnung - gemeint ist in diesem Kontext selbstredend die patriarchale Ordnung, mit der das Buch auf eine fulminante, schamlose und deshalb mitunter auch exhibitionistische Weise abrechnet. Doch ist die Autorin zu klug, als dass sie dies nicht mit in ihre Erzählstrategie einkalkuliert, denn erst die Tabuverletzung vermag ihrer Ansicht nach eine Enttabuisierung herbeizuführen. Ist das Experiment gelungen? Dem Buch selbst ist - als ironische Volte - das eigene Scheitern eingeschrieben. Dick liest die an ihn gerichteten Briefe, insbesondere das "Manifest", erst gar nicht, dann nur flüchtig, ignoriert die Absenderin und ihr Anliegen also weitgehend, und bequemt sich erst durch die nachdrückliche Bitte des Ex-Partners Sylvère endlich zu einer Antwort. Diese ist denn auch an Sylvère direkt und nicht etwa an Chris gerichtet - sie bekommt lediglich dasselbe Schreiben in Kopie. Krasser könnte der postulierte weibliche Diskursausschluss nicht demonstriert werden.


Donnerstag, 16. November 2023

John Berger: G. (1972)

G. - so lautet das Initial des Protagonisten, der - wenn es nach seinem Vater gegangen wäre - Giovanni heissen würde. Den wirklichen Namen erfahren wir nie, dafür wissen wir, dass der Junge in der Schule den Übernamen Garibaldi (nach dem italienischen Freiheitskämpfer) erhielt, weil sein (unehelicher) Vater Italiener war. Im Deutschen besitzt G. - ausgesprochen als 'G-Punkt' - freilich noch eine weitere, sexuelle Bedeutung: Gemeint ist damit landläufig die sogenannte Gräfenberg-Zone, die erogene Zone der weiblichen Vagina. Ob diese Allusion auch im Englischen, der Original-Sprache des Romans, mitschwingt, weiss das Lesefrüchtchen nicht. Ganz unpassend wäre es jedenfalls nicht, zumal dieser G., dieser ungenannte Giovanni, seinem Namen mehr als nur gerecht wird: Handelt es sich doch um "Don Juan" höchstpersönlich.

Wer nun einen erotischen Roman erwartet, liegt falsch, obschon es explizite Szenen gibt, ja sogar pennälerhafte Strichzeichnungen von Geschlechtsteilen, was aber niemals pornographisch wirkt, da die Prosa durchwegs durch- und metareflektiert ist, was den Roman zu einem (frühen) Vertreter der literarischen Postmoderne macht. Wie schon in den klassischen Bearbeitungen des Don Giovanni-Stoffes ist auch hier die Verführer-Geschichte eingebettet in einen zeithistorischen Kontext. Der Roman bietet ein episches Panorama vom Burenkrieg in Südafrika bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Im mittleren und zentralen Teil wohnen wir der ersten Überquerung der Alpen in einem Flugzeug bei. Ein historisch verbürgtes Spektakel, das anno 1910 der Luftfahrtpionier Jorge Chavez unternahm, der im Roman unter der Schweizer Variante seines Klarnamens auftaucht: Geo Chavez. Auch er ein G.

Nicht von ungefähr: Das Schicksal dieses Flugpioniers ist in mehrerer Hinsicht mit demjenigen des Protagonisten G. verknüpft. Nicht allein, dass G. beim Start des Flugzeugs in Brig ein Zimmermädchen kurz vor ihrer Heirat vernascht, und nach der Bruchlandung in Domodossola einem wohlsituierten Herrn die Ehefrau ausspannt (der ihn sodann mit der Pistole verfolgt), nein, worin sich Geo und G. vor allem gleichen, ist die Sorglosigkeit ihres Tuns: "Wie der Flieger mochte auch er sorglos gewesen sein." Beide riskieren alles, um auf den G-Punkt zu gelangen - wahlweise die sexuelle Erfüllung oder die maximale Flughöhe - und beide gehen schliesslich an ihrem Wagemut zu Grunde. Geo Chavez erliegt nach dem Absturz im Spital den Verletzungen, G. wird Jahre später in Triest zum Opfer eines Überfalls kurz vor dem Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg, weil er fälschlicherweise als österreichischer Agent und Aufwiegler verdächtig wird.

Wie Zeno Cosini bei Italo Svevo findet sich auch G. ähnlich unbeteiligt von den politischen Geschehnissen bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Triest. So geht er auch seltsam gleichgültig in den Tod: Weder setzt er sich gegen seine Angreifer zur Wehr, noch legt beweist er eine heroische Todesbereitschaft. Er lässt es mit sich geschehen. Entsprechend lapidar wird der Tathergang erzählt. G. spürt noch den "Geschmack der Milch" als "Wolke des Unwissens" in seinem Mund. Dann wird er ins Meer geworfen. In einem filmreifen Schwenk führt der Blick hinaus ins offene Meer, wo sich die untergehende Sonne in den glitzernden Wellen spiegelt. Der letzte Satz lautet: "Der Horizont ist nur wie die gerade Bodenkante eines Vorhanges, der willkürlich plötzlich am Ende einer Vorstellung herabgelassen wird." Aufführung vorbei. Schluss.

Ein rätselhafter Tod, der sich vielleicht narratologisch dadurch erklärt, dass G. als Don Juan längst zur "Legende" geworden ist, was aber sich so anfühlt, wie es gegen Ende des Romans heisst, als sei man "lebendig begraben". G. erkennt intuitiv, dass seine "Zeit" vorbei ist, dass er sein sozialrevolutionäres Potential als ewiger Verführer eingebüsst hat. "Es war nicht mehr die Zeit an sich, die ihn weiterbringen konnte, denn die Zeit war bedeutungslos geworden." Deshalb entscheidet er sich, gleichsam in einem acte gratuit, sein Image abzulegen, indem er die Frau eines österreichischen Bankiers entgegen der ursprünglichen Absicht gerade nicht verführt (wohl auch weil es für ihn uninteressant wurde, da sie sich als Nymphomanin geradezu aufdrängt und ihr Mann, der in Anlehnung an Tolstois Ehebruch-Roman Anna Karenina, kein "Karenin" sein will, es sogar gönnerhaft zulässt). Stattdessen hilft er einer jungen Slowenien - und besiegelt damit sein Schicksal.

Neben seiner thematisch komplexen Verknüpfung von Sexualität, sozialen Fragen und zeitgeschichtlichen Hintergründen besticht der Roman durch seine chronologisch lose Erzählweise, die durch die vielen mit Leerzeilen getrennten Abschnitte auch visuell erkennbar ist. Es sind Bausteine, die eher mosaikartig als kontinuierlich, die Ereignisse umkreisen, mit Wiederholungen, Disruptionen, Pro- oder Metalepsen und ständig durchsetzt mit Reflexionen des Erzählers, der Probleme der Darstellbarkeit diskutiert oder die Geschicke seines Helden kommentiert. Jedoch nicht als souveräne auktoriale Stimme, der über alles beredt Auskunft gibt, sondern quasi aus der Position eines aussenstehenden Beobachters, dem vieles, was sich ereignet, genauso erklärungsbedürftig scheint wie den Lesenden. 

Samstag, 11. November 2023

Edgar Allan Poe: Der wahre Sachverhalt im Falle Valdemar (1845)

Eine späte Kurzgeschichte des Godfathers of Grusel in Form eines Rechenschaftsberichts: Ein anonymer Ich-Erzähler, der sich seit einiger Zeit mit dem Phänomen des Mesmerismus, eine bis ins 19. Jahrhundert virulente Heilmethode, beschäftigt, schildert eine sonderbare Begebenheit. Der Mesmerismus - begrifflich abgleitet von Franz Anton Mesmer, dem Entdecker des sogenannten 'animalischen Magnetismus' - basiert auf Hypnosetechniken, die dem Körper zu neuer Vitalität verhelfen sollen. Doch wie dem Erzähler auffällt, wurde bislang kein Mensch "in articulo mortis mesmeriert". 

Zufälligerweise kennt der Erzähler einen Freund, Ernest Valdemar, der aufgrund seines nervösen Charakters schon früh ein dankbares Versuchskaninchen für magnetische Experimente war und der nun im Sterben liegt. Es soll deshalb der Versuch gewagt werden, ob der Mesmerismus auch als lebensverlängernde Massnahme taugt. Als die Ärzte erstaunlich präzise die Todesstunde bestimmen können, eilt der Erzähler zu seinem Freund und mesmeriert ihn auf dem Sterbebett, indem er ihm - wie es die Regeln der Kunst verlangen - mit Handstrichen magnetische Energie zuführt.

Zuerst scheint die Übung wirkungslos, Valdemar ist im Begriff dahinzuscheiden, sein Puls lässt nach, sein Atem erlischt, dann jedoch zeigen sich "unleugbare Anzeichen des mesmerischen Einflusses". Er befindet sich nun in Hypnose und der Erzähler versucht eine erste Kontaktaufnahme. Auf die Frage, ob er schlafe, antwortet er im Flüsterton: "Ja, ich schlafe jetzt - wecken Sie mich nicht. - Lassen Sie mich so sterben." Als im Verlauf des Abends die Frage wiederholt wird, antwortet Valdemar erneut, nun aber mit einer schauerlichen Stimme, die wie "aus weiter Ferne", "aus einer tiefen Höhle im Innern der Erde" zu kommen scheint: "Ja - nein - ich habe geschlafen - und nun - nun - bin ich tot."

Obschon diese Nachricht und vor allem der "schauerliche" Ton, in dem sie vorgebracht wird, allen Anwesenden "zähneklapperndes Grauen" erregt, beschliesst man den Sterbenden weiterhin in seinem hypnotischen Zustand zu belassen, da man der allgemeinen Überzeugung ist, der Eintritt des Todes sei "durch den magnetischen Prozess" aufgehalten worden. Ganze sieben Monate observieren die Ärzte und der Erzähler den "Schlafwachenden", dessen Zustand unverändert apathisch bleibt, und einzig "im Vibrieren der Zunge" noch "Anzeichen einer magnetischen Einwirkung" erkennen lässt. 

Endlich entscheidet man sich, den Hypnotisierten wieder zu wecken und damit ins Leben zurückzurufen. Doch entgegen aller Erwartung steht Valdemar nicht wieder auf, sondern verfault vor den entsetzend Augen aller Anwesenden. Die Erzählung schliesst mit einer Gore-Szene par excellence: Als der Erzähler seine "magnetischen Striche" macht, "schrumpfte, zerbröckelte, verfaulte sein ganzer Körper unmittelbar, im Verlauf einer einzigen Minute oder nicht einmal einer Minute, unter meinen Händen. Auf dem Bett, vor den Augen der ganzen Gesellschaft, lag eine nahezu flüssige Masse von ekelhafter, abscheuerregender Fäulnis."

Valdemar war schon lange tot, der Magnetismus hat lediglich den physischen Verfall seines Körpers aufgehalten, der nun in Sekundenschnelle abläuft. Den Geist weiterhin am Leben bzw. im Körper zu halten, vermochte er jedoch nicht. Die Antworten mit der schauerlichen Stimmen kamen bereits aus dem Totenreich.


Mittwoch, 1. November 2023

Blaise Cendrars: L'Eubage. Aux Antipodes de l'Unité (1917)

Nachdem das Lesefrüchtchen mit Terra! kürzlich eine Space Opera par excellence gelesen hat, folgt hier erneut ein Weltraum-Abenteuer, das jenes um einiges überbietet, obschon es wesentlich kürzer ist. L'Eubage (auf deutsch: Im Hinterland des Himmels, 1987) ist ein ultraknappes Buch, manche Kapitel sind lediglich eine Seite lang, man hat es in Windeseile gelesen, ja man muss es fast in einem Zug lesen, weil es einen solchen Sog erzeugt. Denn trotz des geringen Umfanges ist es unendlich reich, lebt von seiner urwüchsigen, visionären Kraft und seiner zugleich präzisen wie pulsierenden Beschreibungskunst.

Man begleitet den "Wissenschaftler" (oder etwa "Hochstapler?") Eubage - so nannten die Gallier früher ihre Astronomen - auf seiner rasanten Reise ins All. In Sekundenschnelle wird man in kosmische Sphären katapultiert, durchläuft Äonen und Lichtjahre, taucht in die unbekannten Tiefen des Alls ein mit seinen Planeten, Gestirnen und gigantischen Urwesen, bis die fulminante Fahrt jäh endet und - ehe man es sich's versieht - zu reinster Sonnenmaterie zerstäubt sich mit dem Elementaren verbindet. Der letzte Satz, bevor das Raumschiff wieder in die Atmosphäre eindringt, ist so atemlos und orgiastisch wie der gesamte Text: "Fragezeichen? Zickzacklinie! Explosion."

Ein Buch wie ein Urknall: äusserst verdichtet, doch breitet sich darin ein ganzer Kosmos aus. Tatsächlich wohnen wir in den beiden längsten und wohl auch zentralsten Kapiteln der Geburt der Sternzeichen und der Sterne (in Form von Getreidenamen!) bei. Die faktische Reise dauert zwar nur ein Jahr - die einzelnen Kapitel sind eingeteilt von März bis Februar -, durchmessen wird dabei ein ganzes Weltalter. Der Ich-Erzähler, der den Tractatus Secundus von Robert Fludd stets mit sich führt, ist dabei eine Mischung zwischen Genie und Hasardeur. Mitunter kann er das Gelingen seines tollkühnen Unternehmens selbst nicht richtig fassen, dann wiederum stürzt er sich mit Wonne ins All.

Die interstellare Reise ist (wie in Terra! und so vielen anderen SF-Geschichten) auch hier eine Reise in die Vergangenheit: "Die Uhr - die Uhr läuft unerbittlich rückwärts. 1000 Jahre, 10'000 Jahre, 100'00 Jahre." Mehr noch ist es eine Reise ins Innere der Hirnrinde. An einer Stelle sagt der Ich-Erzähler: "Ich bin nur noch Geistesschärfe!" Insofern gibt sich die Erzählung auch unumwunden als reine Phantasmagorie zu erkennen - als eine Art eine Schöpfungsgeschichte, die sich quasi selbst hervorbringt. Oder wie es der Autor in einem Brief an seinen Förderer, den Modeschöpfer Jacques Doucet, erwähnt: "das Hinterland des Himmels sozusagen, wo die Gewalten und Formen entspringen, was man Geist und Leben nennt".

Blaise Cendrars schrieb diese Weltraum-Rhapsodie, die er selber ein "kleines Büchlein über gar nichts" nannte, 1917 in einer Scheune ausserhalb von Paris, als er als Kriegsfreiwilliger von der französischen Front heimkehrte - auf dem Feld hatte er seinen rechten Arm verloren. Es handelt sich um seinen ersten Prosatext, der bereits die ersten Akzente für seine späteren Romane setzt: die Durchdringung des Textes mit purer Lebenskraft, die Sprachgewalt und die schier enzyklopädische Fülle. Die deutsche Ausgabe enthält im Anhang eigens ein Glossar zur Erklärung der biologischen und astronomischen Fachbegriffe. Reinste "Hirnsaat".




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Sonntag, 22. Oktober 2023

Stefano Benni: Terra! (1983)

Bennis Debütroman ist ein schräges, vollkommen durchgeknalltes Weltraum-Abenteuer. Wer nun einen astreinen Science-Fiction-Roman erwartet, liegt falsch, denn die 'Space Opera' dient eigentlich nur als Kulisse für eine grossangelegte Parodie und Gesellschaftssatire. Der Hauptplot ist denn auch rasch nacherzählt. Die Erde im Jahr 2157 wird von drei Grossmächten regiert: der Sinneuropäischen Föderation, dem Aramerussischen Reich (einem Zusammenschluss von arabischen Scheichs mit den Russen und den Amerikanern) und dem japanischen Militärreich SAM. Alle drei sind auf der Suche nach einem neuen bewohnbaren Planeten, da die Erde nach sechs Atomkriegen von einer dicken Eisschicht überzogen und an der Oberfläche nicht mehr bewohnbar ist. Die Bevölkerung lebt in gigantischen Stollenanlagen unter der Erde. 

Als nun eine Meldung des Weltraum-Wikingers Van Cram die Regierung der Sinneuropäischen Föderation erreicht, er habe einen natürlichen Planeten entdeckt, schickt diese sofort eine Sondereinheit mit dem Raumschiff Proteus Tien ins All, um Van Crams Entdeckung nachzuspüren. Zugleich heften sich auch Raumfahrt-Delegationen der anderen beiden Supermächte an ihre Fersen. Der Kampf um die Eroberung von "Erde 2" beginnt. Während die Trupps im All ein Abenteuer nach dem anderen bestehen, läuft auf der Erde die geheime Ausgrabung einer alten Inka-Stätte, weil man dort eine verborgene Energiequelle vermutet. Am Ende steuert die Proteus in ein schwarzes Loch und verschwindet, derweil man bei der Ausgrabung auf eine Art Batterie stösst, die solare Energie in so starker Konzentration enthält, das alle Probleme auf der Erde gelöst sind.

Es stellt sich heraus - und das ist eine Parodie auf die Theorien über urzeitlichen Astronauten des Schweizer Ufologen Erich von Däniken -, dass diese Batterie von der Besatzung der Proteus angelegt wurde, als sie durch das schwarze Loch, das sich als Zeitloch erwies, in die Vergangenheit katapultiert wurden und auf der Erde bei den Inkas landeten. Den Planeten, den Van Cram entdeckt zu haben glaubte, als auch er durch das Zeitloch flog, war nichts anderes als die frühere Erde. Den Inkas erschienen diese Besucher aus dem Weltraum als Ausserirdische oder Götter, die ausserdem über ein überlegenes technisches Wissen verfügten. Unter ihrer Anleitung konstruierten sie den Energietank und verwahrten das Geheimnis für die Zukunft. Die Erdlinge im Jahr 2157 haben somit entdeckt, was ihnen die Zeitreisenden in der Vergangenheit auf der Erde hinterlassen haben. 

Doch dieser Handlungsstrang ist, wie gesagt, nurmehr das Gerüst für eine wilde Weltraum-Burleske, die ähnlich gelagerte Unternehmen wie Mel Brooks Komödie Spaceballs von 1987 vorwegnimmt und in vielfacher Hinsicht auch überbietet. Der Erfindungsreichtum, die Fabulierfreude und die überbordende Phantasietätigkeit des Autors sind berauschend. Alles wird in grellen Farben ausgemalt, in comicartige Episoden gegossen und in übertriebener Weise dargestellt. Vor allem die unzähligen Binnengeschichten, in die der Roman zerfällt, sind kleine Meisterstücke in Parodie und Satire. Im Grunde ist der gesamte Roman eine Anthologie solcher humorvoll gesellschaftskritischer Miniaturen, mit denen sich der Autor später auch einen Namen machte, u.a. mit dem Erzählband Es gibt keine schlechten Menschen, sagte der Bär, wenn sie gut zubereitet sind (ital. Original: L'ultima lacrima, 1996).

In diesen Binnensatiren beweist der Autor, dass er tatsächlich alle Register beherrscht: vom Liebesbrief über Märchen, Mythen und Sagen bis hin zu Predigten, wissenschaftlichen Referaten, Stegreif-Reden, Fussball-Livekommentaren, Werbesendungen, und sogar Speisekarten wird nichts ausgelassen und alles durch den parodistischen Fleischwolf gedreht. Auch literarische Anspielungen gibt es zuhauf. Besonders schön der Auftritt des Astronauten Kook an Bord der Proteus Tien: "Kook stieg die Treppen zu dem kleinen Beobachtungsturm des Raumschiffs hinauf, in den Händen ein Seifenbecken, einen Spiegel und ein Rasiermesser." So beginnt auch der wohl berühmteste Roman des 20. Jahrhunderts - Ulysses von James Joyce, mit dem Unterschied freilich, dass dort Buck Mulligan mit den genannten Utensilien auf einen Turm steigt.

Es wäre witzlos, die komischen Erzählstücke irgendwie paraphrasieren zu wollen, denn der Witz, vor allem eben der Sprachwitz, entzündet sich am besten bei der Lektüre des Romans selbst. In dieser Hinsicht hat auch die Übersetzerin Pieke Biermann ein grosses Verdienst, wie sie die Sprachspielereien aus dem Italienischen ins Deutsche gebracht oder im Deutschen nachgebildet hat, wobei ihr mitunter originäre Wortspielerein im Deutschen gelingen, die das italienische Original nicht aufweisen kann, wie etwa, wenn von der "heiligen Dreifeistigkeit - Sahne, Stips und Schokolade" die Rede ist. Eine besondere Sprachleistung markiert ausserdem der Besuch bei der Weltraum-Hexe, die alle Sprachen des Alls in einem fürchterlichen Kauderwelsch gleichzeitig spricht, was schliesslich auch auf andere abfährt, so dass "all of uns speak geschnitzelt et zungensaladesk".

Angesicht der Energieproblematik handelt es sich bei Terra! um ein hochaktuelles Buch und kann ein Stück weit auch als Climate Fiction gelesen werden. Hier zeigt sich Benni in seiner politischen Haltung sehr deutlich: Es sind die skrupellosen und raffgierigen Machthaber, welche die irdische Biosphäre durch Kapitalismus, Krieg und Technologie kaputtmachen. Ad absurdum bringt diese Dynamik die Aussage eines Scheichs auf der Krisenkonferenz: "Die militärtechnologische Zivilisation des dritten Jahrtausends braucht diese Energie, und das genügt. Wenn wir diese Erde retten sollen, dann müssen wir sie zerstören ..."




Montag, 16. Oktober 2023

Antonio Tabucchi: Erklärt Pereira (1994)

"Es gibt kein richtiges Leben im falschen." So lautet eine berühmte Sentenz aus Adornos Minima Moralia, von Robert Gernhardt auch parodiert als: "Es gibt kein richtiges Leben im valschen." Diese Maxime trifft auf den Antihelden aus Tabucchis Roman zu, den portugiesischen Feuilletonredaktor Pereira der neu gegründeten Tageszeitung Lisboa. Er lebt scheinbar unbeteiligt und konform unter der Salazar-Diktatur, doch verspürt er - isoliert in seiner Redaktionskammer - innerlich ein Unbehagen, das immer deutlicher zutage tritt, als er zufällig mit einer Gruppe von Widerstandskämpfern in Kontakt gerät.

Pereira ist Witwer, kinderlos, ernährt sich bevorzugt von Kräuteromeletten und gezuckerter Limonade und ist entsprechend "fett und herzkrank" - letzteres in doppeltem Sinne: Tatsächlich leidet er an Herzproblemen, doch diese sind quasi nur die kardiologische Realmetapher für seine seelischen Nöte, seinen Herzensleiden rein psychologischer Natur. Er lebt nicht das Leben, das er eigentlich möchte. Nicht zufällig wird ihn während eines Kuraufenthalts ein Kardiologe, der gleichzeitig auch als Psychiater ausgebildet ist, auf den leib-seelischen Zusammenhang aufmerksam machen und ihm die Augen öffnen.

Pereiras Problem besteht darin, dass seit dem Tod seiner Frau nurmehr in der Vergangenheit lebt: Die Weltgeschichte zieht unbemerkt an ihm vorbei. Obwohl er seit dreissig Jahren für die Zeitung schreibt, ist er über das Zeitgeschehen gänzlich uniformiert und verlässt sich lediglich darauf, was ihm der Kellner seines Stammlokals berichtet. Das einzige, was ihn beschäftigt ist die Literatur; er flüchtet sich nachgerade aus der Realität in die Welt der französischen Romanciers, bevorzugt Schriftsteller der Renouveau catholique, wie François Mauriac oder Georges Bernanos. Daneben beschäftigt sich Pereira vorwiegend mit dem Tod, so dass er irgendwann selbst auf den "groteske[n] Gedanken" kommt, dass "er vielleicht gar nicht lebte, sondern schon so gut wie tot war."

So treffen wir den Protagonisten zu Beginn des Romans an, wie er über den Tod sinniert, genauer über die Frage der Auferstehung. Pereira glaubt an die Auferstehung der Seele, ist hingegen überzeugt, "das ganze Fleisch, das Fett, das seine Seele umschloss, das würde nicht auferstehen". Pereira hat sich einen Fettmantel, einen Körperpanzer angefressen, hinter dem sein Ich genauso wie sein krankes Herz verborgen liegt. Das Fett umhüllt und schützt ihn vor der Gegenwart, es hindert aber auch sein Herz daran, sich frei zu bekennen. Erst durch eine schicksalshafte Begegnung beginnt sich die unter der Korpulenz erstickte Herzensstimme allmählich wieder zu regen.

In einer katholischen Avantgardezeitschrift wird der Redakteur auf die neue Dissertation eines gewissen Monteiro Rossi aufmerksam, die den Tod behandelt, was natürlich Pereira Interesse weckt, weshalb er umgehend beschliesst, den Verfasser zu kontaktieren. Obwohl dieser umstandslos eingesteht, dass ihn das Leben viel mehr als der Tod interessiere und er bei der Dissertation auch grösstenteils bei anderen Philosophen abgeschrieben habe, will Pereira dem jungen Menschen eine Chance geben und ihn als Praktikant im Feuilleton engagieren. Als promovierter Todesexperte bekommt er die Aufgabe, im Voraus Nachrufe auf berühmte Schriftsteller zu verfassen.

Doch das Resultat fällt zunächst nicht nach Pereiras Vorstellungen aus. Anstelle seiner katholischen Favoriten, wählt Rossi stets dezidiert politisch engagierte Schriftsteller wie García Lorca oder Filippo Marinetti, so dass seine Nekrologe weniger eine Würdigung des Lebenswerks als richtiggehende Pamphlete sind, die - wie sich später herausstellt - auf das Konto von Rossis rothaariger Freundin Marta gehen. Sowohl ihre Haarfarbe wie auch sein Name deuten überdeutlich an, dass es sich um Revolutionäre handelt, die von Portugal aus die Freiheitskämpfer im Spanischen Bürgerkrieg unterstützen. Entsprechend wird Lorca als "Umstürzler" gelobt, während Marinetti als Gewalttäter Kriegstreiber verurteilt wird.

Pereira versucht Rossi klarzumachen, dass er solche Artikel mit politischer Schlagseite in einer 'unabhängigen' Tageszeitung keinesfalls veröffentlichen könne, macht ihm zugleich aber auch Mut, auf die "Stimme des Herzens" zu hören, obwohl er ihm lieber den gegenteiligen Rat erteilen möchte, da er weiss: wenn man "mit dem Herzen schreiben" will, wird man "grosse Schwierigkeiten" bekommen. Doch Rossi ist ihm sympathisch: In dem jungen Mann erkennt er einen Teil von ihm selbst, sein jüngeres Ich bzw. seinen nie geborenen Sohn, den sich Pereira so sehr gewünscht hatte. Entgegen allen Vernunftgründen unterstützt Pereira daher den jungen Rebellen finanziell, trifft sich mit ihm zu konspirativen Treffen im Café Orquídea und hilft sogar, einen Cousin Rossis heimlich unterzubringen.

Pereira ist eine ambivalente Figur: Zunächst scheint sie vollkommen naiv und weltfremd, doch unterschwellig entfaltet sie ein subversives Potential, indem Pereira etwa seine Übersetzungen fürs Feuilleton so wählt, dass sie für den aufmerksamen Leser eine "Flaschenpost", also eine versteckte Botschaft, enthalten. So endet eine Erzählung La dernière classe von Alphonse Daudet mit dem freiheitlichen Ausruf: "Vive la France!" Eine Provokation im diktatorischen Portugal. Balzacs Erzählung Honorine wiederum wählt Pereira, weil er sie als Bedürfnis zu Reue versteht, die er auch selber verspürt: "ich sehne mich nach Reue", sagt der zum Kardiologen. Es sei "eine merkwürdige Empfindung, die sich am Rande meiner Persönlichkeit befindet".

Diese Denkfigur einer "Reue auf 'periphere' Art" gibt Situation eines verdrängten (wahren) Lebens im falschen sinnfällig wieder. Für Pereira gilt sie in doppelter Hinsicht: Zum einen biographisch, weil er sein Leben verpasste und sich nicht nach seinem Wunsch selbst verwirklichen konnte, zum anderen politisch, weil er in einem Land lebt, das die freie Meinungsäusserung systematisch unterdrückt. Pereira gehen in dem Moment die Augen auf, als er erfährt, dass sich seine Lieblingsschriftsteller Bernanos und Mauriac sich beide politisch äusserten und gegen den Faschismus protestierten. Eine Schlüsselstelle diesbezüglich bildet der Besuch bei Pater António, Pereiras Vertrauensmann und Beichtvater, der ihn unverblümt mit der Wahrheit konfrontiert.

Pater António nimmt kein Blatt vor den Mund. Über Paul Claudel, der sich auf die Seiten des Faschismus schlug und eine hetzerische Propagandaschrift verfasste, sagt er: "dieser Claudel ist ein Hurensohn, genau das ist er, und es tut mir leid, dass ich diese Worte an einem heiligen Ort aussprechen muss, denn ich würde sie dir gern in aller Öffentlichkeit sagen". Doch das geht eben nicht, weil der öffentliche Diskurs kontrolliert und zensiert wird, was Pereira bald selbst erfahren muss, als ihm der Herausgeber der Zeitung künftig untersagt französische Schriftsteller zu bringen und ihm stattdessen traditionelle portugiesische Dichter aufdrängt. Der Raum, dessen was man sagen darf, wird immer enger, und die Situation spitzt sich dramatisch zu.

Eines Abends als Pereira für Rossi zum Abschied Spaghetti kochen will, wird seine Wohnung von Schergen der Geheimpolizei gestürmt. Im Dialog mit dem Rädelsführer entpuppt sich die ganze Perfidie und Niedertracht der Diktatur. Nach dem Wortduell mit Pereira wird die Truppe handgreiflich. Zwei Schläger verpassen Rossi, der die Drangsalierung tapfer erduldet, einen dermassen brutalen 'Denkzettel', dass er auf der Stelle stirbt. Pereira, entsetzt über das wahre Gesicht der portugiesischen Regierung, beschliesst am nächsten Tag einen Artikel in die Zeitung zu schmuggeln mit dem Titel "Journalist ermordet". Darin beschreibt er nicht nur den Tathergang, sondern klagt auch die Täter an.

Am Ende setzt sich Pereira mit einem gefälschten Pass nach Frankreich ab. Dass ihm die Flucht glückt, lässt der Untertitel des Romans vermuten, der da lautet: "Eine Zeugenaussage". Kein Verhör, wie wenn er geschnappt und wieder dem Regime in die Hände gefallen wäre, sondern die Aussage eines Augenzeugen, der aus der Diktatur entkommen ist und nun Zeugnis ablegt. "Pereira erklärt" fungiert deshalb als Inquit-Formel, welche den Text nicht nur eröffnet, sondern ihn insgesamt rhythmisiert. Es handelt sich demnach nicht um einen Bericht aus erster Hand, der in Ich-Form gehalten wäre, sondern um eine Art protokollarische Mitschrift, die festhält, wie Pereira den Hergang der Ereignisse schildert und sie (nicht nur sich) zu erklären versucht.

Ein sehr fein gearbeiteter Roman, bei dem jeder Dialog, jede intertextuelle Anspielung genau gesetzt ist. Der Text liest sich leicht, ist zuweilen fast humoristisch erzählt, und neigt vielleicht hie und da ein wenig zum Kitsch, weil an der Oberfläche doch allzu viel geglättet wird. 

Sonntag, 15. Oktober 2023

Luigi Malerba: Die fliegenden Steine (1992)

Es gibt eine Fotografie von Man Ray, La Prière von 1930, die eine betende Frau von hinten zeigt: tief kniend und vornübergebeugt, den nackten Podex direkt in Richtung Kamera gestreckt, lediglich ihre Hände bedecken die Scham. Ein ähnliches Bild bietet sich auch dem Ich-Erzähler von Malerbas Roman. Dort ist es eine direkte Aufforderung der betenden Muslimin zum Geschlechtsverkehr. Sie heisst Ayse und vertritt die Ansicht, dass der Koran im Unterschied zur katholischen Kirche die Sexualität nicht unterdrücke oder verurteile, sondern die freie Liebe zwischen Mann und Frau sogar während dem Gebet zulasse. Bei den Katholiken hingegen sei Sex nur als Sünde denkbar, was allerdings oft "die Lust" nur noch "steigert": "Die Sodomie wäre längst nicht so weit verbreitet, wenn es die Sünde nicht gäbe." Und auch die Päderastie, müsste man angesichts der systemischen Fälle von klerikalem Kindsmissbrauch hinzufügen. Die katholische Kirche hat sich ihr eigenes perverses Lustprinzip geschaffen.

Doch wir kommen vom Thema ab. Der Ich-Erzähler gerät angesichts von Ayses wohlgeformten Hinterteil jedenfalls auf andere Gedanken. Sie erinnern ihn an die Interpretationstheorie des Doppel- und des Einzelhinterns, die ein Kunstkritiker einst entwickelt hatte, und leitet daraus seine eigene Theorie der Wahrheit ab: Es gibt die einfachen Wahrheiten, aber es gibt auch doppelte, ambigue Wahrheiten: "Der Einzelhintern interessiert mich nicht, ich bin für die zwei Seiten der Wahrheit." An dieses Diktum sollte man sich erinnern, wenn der Erzähler an anderer Stelle bekennt, er wolle nichts als "die nackte Wahrheit" berichten. Was landläufig als übertragener Ausdruck für absolute Offenheit gilt, muss hier offensichtlich im Wortsinn verstanden werden: als die zwei nackten Pobacken, welche die doppelte Wahrheit verkörpern. Eine Wahrheit, welche die Dinge nicht nur gleichsam von hinten, sondern auch in ihrer Bivalenz, oder gar Ambivalenz, betrachtet. Tatsächlich wimmelt es in dem Roman nur so von "sinnlosen Symmetrien": von Wiederholungen, Parallelereignissen und Doppelexistenzen, auf die sich der Erzähler (vergebens) einen Reim zu machen versucht. "Klarheit" sei für ihn jedenfalls "kein Merkmal der Wahrheit".

Erzählt wird der Roman aus der Perspektive von Ovidio Romer, einem renommierten Maler - reales Vorbild für die Figur war der mit Malerba befreundete Künstler Fabrizio Clerici -, der sich in die Schweiz zurückzieht, in sein "Schweizer Versteck", um dort "verschanzt" in einem Hotel seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Er hofft, dass ihm "der neutrale Charakter der Schweiz helfen würde", um über sein Leben und dessen Rätsel nachzudenken, das (wie sich herausstellt) vor allem in einem unverarbeiteten Vater-Trauma besteht. Seit sich Ovidio erinnern kann, war der Vater mehrheitlich abwesend. Wie er sukzessive erfährt, führte er ein Doppelleben mit einer anderen Frau, mit der er nach dem Bankrott seiner Firma in Vancouver untertaucht. Durch eine unwahrscheinliche Verkettung von Zufällen erscheint in einer ägyptischen Zeitung jedoch die Falschmeldung, der Vater sei im Nil ertrunken. Ovidio, der während dem Zweiten Weltkrieg in Ägypten im Aktivdienst war, ist frappiert, denn sein General erzählte ihm damals exakt dieselbe Geschichte über seinen Vater. (Eine Parallele findet diese Koinzidenz in der Szene, als Ovidio in der Kartei der Gefallenen seinen eigenen Namen entdeckt.)

Um der Sache auf die Spur zu gehen, reist Ovidio nach Luxor, trifft dort auf Ayse, die ihm später gesteht, dass sie für die Falschmeldung verantwortlich war, und macht sich gemeinsam mit ihr auf die Suche nach dem verstorbenen Vater. Es versteht sich von selbst, dass die Suche ins Leere führt. Stattdessen entdeckt Ovidio in der Wüste einen grossen Stein mit einem Loch in der Mitte, der haargenau wie eines seiner Gemälde aussieht: "Dieses Bild hatte ich vor fünf Jahren zunächst im Kopf zusammengefügt, und jetzt fand ich es in Wirklichkeit wieder." Für den Künstler, ein weiterer Beweis, dass sich auf der Welt alles wiederholt. Sinnbildlich für diese ewige Wiederkehr steht nicht nur das Gemälde des Steinkreises - wie Clericis Corpus Hermeticum (1972), der im Anhang zum Roman auch abgebildet ist -, sondern auch die Namensinitiale O, mit dem der Vater, selbst Onforio genannt, alle "seine legitimen und legitimierten Söhne brandmarken wollte": Ovidio, Oscar und Oliviero.

Wie sich herausstellt, ist auch Ovidios Jugendfreund Vittorio ein weiterer Abkömmling seines Vaters, der ihn später, als er sich mit dessen Mutter nach Vancouver absetzt, folgerichtig in Oliviero umbenennen wird. Als Jugendliche standen sich die beiden Freunde nahe, ohne zu ahnen, dass sie denselben Mann zum Vater haben. Ovidio fertigt sogar eine Aktzeichnung von Oliviero an, die allerdings Fragment bleibt, weil Oliviero nicht mehr zur zweiten Sitzung erscheint, was eine dauerhafte Kränkung beim Erzähler hinterlässt. Am Ende des Romans begegnen sich die beiden Halbbrüder wieder. Oliviero ist unterdessen im Kunsthandel tätig und so ergibt sich ein Treffen in Vancouver, das jedoch distanziert und unergiebig bleibt. Ein weiteres Treffen kommt nicht mehr zustande. Als späte Vergeltung für die unfertige Aktzeichnung, beschliesst Ovidio, der es seinem Halbbruder überdies nicht verzeihen kann, dass er all die Jahre nie über die neue Identität des Vaters informierte, abschiedslos wieder abzureisen.

Die Beweggründe des Vaters für sein Doppelleben, seinen "Hang zum Versteckspiel, zur Verstellung, zur Verlogenheit, zum Geheimnis" vermag Ovidio so nicht zu ergründen. Er empfindet seine Situation im Schweizer Versteck am Ende deshalb als "Flucht" und als "Niederlage". Aus seinen Aufzeichnungen geht jedoch hervor, dass das Geheimnis des abwesenden Vaters letztlich die Ursache ist, weshalb Ovidio sich in seinen Gemälden in die Leblosigkeit und in die Versteinerung flüchtet, weshalb er Bilder malt, auf denen kaum Körper, sondern nur tote Gegenstände zu sehen sind, welche zwar hyperreal wirken und doch leblos sind, einen "Friedhofsgedanken" zum Ausdruck bringen. Sie sind die ins Bild gebannte "Theologie des Negativen" seines Vaters. Als kleines, an sich sinnloses Signal bleibt dieses Negative sogar an dessen Grabinschrift haften, da der Steinmetz seinem Namen ein überflüssiges O anhängt: Romero statt Romer. Es ist dieser "der Null so ähnliche Vokal", der sowohl die ewige Wiederkehr wie auch das Nichts, das Negative, die Leere, den Verlust und letztlich auch die Sinnlosigkeit symbolisiert. Der Kreis, so belehrt Ovidio einmal seinen Kunstlehrer, ist eine Figur zusammengesetzt aus unendlichen vielen Punkten: aus "Null-Längen".

Malerbas vielschichtiger und komplexer Roman, für den er 1992 den Premio Viareggio erhielt, bietet wesentlich mehr, als in einer knappen, auf die Plotstruktur konzentrierten Zusammenfassung wiedergegeben werden könnte. Der Text zieht ein wirbelndes Beziehungsnetz, in dem sich einzelne Handlungssequenzen oder Motive auf unterschiedliche Weise (mythologisch und historisch) spiegeln, verdoppeln, wiederholen, wie überhaupt die Frage nach dem Abbild-Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit leitend ist. Wer imitiert hier wen? Die Kunst die Natur oder umgekehrt? Oder am Ende die Kunst sich selbst? Am Zenit seiner Karriere beginnt Ovidio seine eigene Malerei "zu fälschen", das heisst, er erfindet keine neuen Bilder mehr, sondern malt stets wieder von Neuem, was sich gut verkaufen lässt, während er heimlich einen komplett anderen, persönlichen und intimen (mehr an der Mutter orientierten) Malstil entwickelt, den er jedoch als "Verrat an [s]einer Malerei" begreift und deshalb verborgen hält. Auch Ovidio flüchtet sich, zumindest in künstlerischer Hinsicht, in ein Doppelleben, bei dem die äussere Erscheinung über die wahre Identität hinwegtäuscht. Gegen aussen reproduziert er nurmehr, was die Leute (in ihm) sehen wollen. Hier gelangt die ewige Wiederholung an ihren zwar merkantil lukrativen, aber kreativ stagnierenden Nullpunkt.

Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit ist ausserdem auch auf der Meta-Ebene des Romans angesiedelt. Malerba weist in einer Nachbemerkung eigens daraufhin, dass Bilder von Farbrizio Clerici die Arbeit an dem Roman zwar angestossen haben, und gewisse Bildbeschreibungen im Roman sind eindeutig als Ekphrasen von Clericis Gemälden erkennbar, dennoch betont Malerba ausdrücklich, "dass die erzählten Umstände in keinerlei Beziehung zu Personen oder Ereignissen aus dem Leben und Werk Fabrizio Clericis stehen". Weshalb referiert der Autor zunächst auf eine ausserliterarische Wirklichkeit, nur um im Anschluss jegliche Bezüge wieder zu dementieren? Dadurch wird die Bezugnahme nicht einfach gelöscht, sondern sie bleibt in merkwürdiger Schwebe bestehen. 

Insgesamt wirkt der Roman verworren und unausgeglichen. Er kann sich nicht entscheiden, ob er Künstler-, Abenteuer- oder Familienroman sein will. Letztlich leidet er auch an symbolischer Überfrachtung, an Bedeutungsüberschuss, der sich nicht schlüssig auflösen lässt. Einzelne Szenen und Reflexionen sind durchaus gelungen und originell, wie der eingangs erwähnte Gebetssex, doch insgesamt fällt der Text auseinander wie der Steinkreis auf Clericis Gemälde Un instate dopo (1978).


Montag, 9. Oktober 2023

Lars Gustafsson: Der Tod eines Bienenzüchters (1978)

Wenn Du einen Brief aus der Klinik bekommst, der möglicherweise ein letale Diagnose enthält, würdest Du ihn öffnen, um Gewissheit zu haben? Ein interessantes Gedankenexperiment. Der Protagonist aus Gustafssons Buch entscheidet sich dagegen.

Dieser fünfte und letzte Teil aus Lars Gustafssons Roman-Pentalogie Risse in der Mauer geht von einer ähnlichen Ausgangslage aus wie die ein Jahr später erschienene Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän von Max Frisch. In beiden Fällen handelt es sich um Aufzeichnungen sozial entfremdeter, sterbender Männer, um Endzeit-Monologe. Während sich bei Frisch ein Rentner namens Geiser in den hintersten Winkel eines Tessiner Bergdorfs zurückzieht, ist es bei Gustafsson der frühpensionierter Lehrer Lars Lennart Westin, von allen nur 'Wiesel' genannt, der im schwedischen Hinterland von Vertrana ein einsiedlerisches Leben führt und sich der Bienenzucht widmet. Beide leben sie alleine und getrennt von der menschlichen Gesellschaft und sehen sich in ihrer Einsamkeit nochmals mit den zentralen Fragen des Lebens und des Menschseins konfrontiert.

Geiser leidet unter fortschreitender Demenz und versucht sein Wissen, das erodiert wie draussen der Erdboden aufgrund heftiger Unwetter, auf unzähligen Zetteln festzuhalten. Westin hingegen laboriert, wie man gleich Zu Beginn erfährt, an einem tödlichen Krebsgeschwür, das ihm zuweilen heftige Schmerzen verursacht, einen tiefen, "weissglühenden" Schmerz. Er selber kennt die Ursache seiner Schmerzen nicht, da er sich weigerte, den Brief vom Krankenhaus mit der Diagnose zu öffnen. Stattdessen bleibt er lieber im Ungewissen und benutzt den Brief als Fidibus für seine Pfeife. Eine letztlich zwar letale, dennoch aber glückliche Entscheidung. Denn Westin hat die "Pause", die ihm vor seinem Tod noch vergönnt war, wie er selber meint, "gut genutzt". Er findet im Kampf mit dem Schmerz immer mehr zu sich selbst, während sich Geiser in seinem Bergdorf immer stärker abhanden kommt. Nicht allein darin liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen den von der Ausgangsidee ähnlichen Texten.

Einen Roman in konventionellen Sinne kann man Der Tod es Bienenzüchters nicht nennen. Er präsentiert sich vielmehr als Nachlass-Konvolut verschiedener Hefte mit verstreuten Einträgen: Es gibt ein gelbes, ein blaues und ein beschädigtes Notizbuch, aus denen der als Herausgeber fungierende Lars Gustafsson in loser Reihenfolge Auszüge unter sprechenden Kapitelüberschriften zusammenstellt. Die Farbterminologie der Notizbücher erinnert an die Diarien eines anderen grossen Schweden: August Strindberg nannte seine (erst postum publizierte) Notizensammlung das 'Blaubuch' und bezeichnete es als die "Synthese seines Lebens". Das gilt nun auch für Westins Aufzeichnungen in besonderem Maße: Angesichts des nahen Todes zieht er nochmals Bilanz über seine Existenz im Persönlichen wie im Allgemeinen. Er übt sich in der ars moriendi, wobei er eine gänzlich neue Praxis für sich reklamiert: "Oder vielleicht ist es eine neue Art des Sterbens, die ich gerade erfinde?" Genau genommen ist es keine Sterbekunst, sondern vielmehr die "Kunst, Schmerzen zu ertragen" - eine Kunstart mithin, "deren Schwierigkeitsgrad so hoch ist, daß es niemanden gibt, der sie ausübt." Außer Westin.

Westin, der zeitlebens zu wenig gewollt hatte, sich zu wenig 'wirklich' fühlte, findet nun im Schmerz zu einer Art ekstatischer Erfahrung, die er einem paradiesischen Zustand gleichsetzt, in dem Lust- und Schmerzempfinden in einander übergehen. Der Schmerz "ist ein Reich, in dem endgültige Wahrheit herrscht." Weil der Schmerz nichts anderes als real ist. In einer an die Akademie von Lagado (aus Gullivers Reisen von Jonathan Swift) angelegten Parabel entwirft Westin die Utopie einer "Welt, in der die Wahrheit herrscht". Die Bewohner dieser Welt kommunizieren nicht mit Sprache oder Symbolen, sondern mit den Gegenständen respektive Handlungen selbst. Sie sagen es nicht, sondern tun es direkt, was sie mitteilen wollen. Zwei Konsequenzen resultieren daraus: Zum einen, sind Lügen nicht möglich, zum anderen bleibt der Horizont dessen, was überhaupt ausgedrückt werden kann, beschränkt. Einen Begriff von 'Welt' kann es in dieser Utopie nicht geben, weil die Welt als solche müsste aufgeboten werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Schmerz: Auch er ist absolut real, echt und ohne Falschheit und entzieht sich letztlich jedem sprachlichen Zugriff.

Hier macht sich der Sprachphilosoph Gustafsson bemerkbar, der - im selben Jahr wie Tod eines Bienenzüchters - über das Thema "Sprache und Lüge" habilitierte und dabei neben Fritz Mauthner und Alexander Bryan Johnson auch Friedrich Nietzsche behandelte. Dessen Einfluss zeigt in einer anderen, weitaus kühneren Utopie in Westins Notizheften. Anders als Nietzsche, dessen Zarathustra den Tod Gottes verkündete, entwirft Westin eine Parabel vom erwachenden Gott. Gott ist nicht tot, er schläft nur 20 Millionen Jahre lang tief und fest in einem fernen Winkel des Universums und kümmert sich nicht um seine Schöpfung, bis eines Tages seltsame Klänge an sein Ohr dringen. Gott wacht auf und bemerkt, dass es sich um Gebete der Menschen handelt. Sofort eilt Gott herbei, hilft den Bedürftigen, sorgt für ewigen Frieden und soziale Gerechtigkeit und liest den Menschen alle heimlichen Wünsche von den Lippen. Mit dem Effekt, dass die ganze Welt in Saus und Braus aufgeht. Es wird fröhlich pokuliert und kopuliert, es herrschen Zustände wie in Sodom und Gomorrha. Der Beweis für die Güte und Allmacht Gottes ist erbracht, jedoch ganz zum Ärger des Klerus und der Kirche, die sich die göttliche Obhut gänzlich anders ausgemalt haben. Weshalb sie das Volk dringend dazu aufrufen, weniger zu beten, damit die katholische Welt nicht noch mehr aus den Fugen gerät.

Wie in der Geschichte des Großinquisitors bei Dostojewski sieht die Kirche ihre Vormachtstellung auch hier durch die Realpräsenz des Göttlichen bedroht - und will es lieber wieder aus dem Weg schaffen. Gustafssons Parabel endet jedoch nicht mit dem Sieg der Kirche, sondern sie mündet wiederum in die Sprachlosigkeit. Die Erfüllung aller Wünsche durch Gott führt zu einem Dasein, "für das keine Worte gab" und es "begann das Sterben der Sprache". Das utopische Ideal einer Welt ohne Lüge und grenzenlosem Glück ist für Gustafsson nur als Bereich jenseits der Sprache denkbar. Das gilt für das Paradies ebenso wie für die göttliche Offenbarung. Wo sich die Sprache dazwischen mischt, da entstehen Missverständnisse und es kommt zu Konflikten. Obwohl Westin seinen Schmerz als einen  Zustand kat exochen erlebt, will er sich ihm doch nicht ergeben, sondern er kämpft täglich dagegen an. Sein Credo lautet: "Wir fangen noch einmal an. Wir geben nicht auf." Er erweist sich dadurch als ein spezieller Typus eines Atheisten: Er negiert nicht Gott, sondern stellt sich ihm als Antithese entgegen: "Wenn es einen Gott gibt, ist es unsere Aufgabe, nein zu sagen." Und Westins nachgelassene Aufzeichnungen stehen unter dem dezidierten Vorsatz, "ein großes, deutliches Nein zu sein".




Freitag, 6. Oktober 2023

Tom Kummer: Blow up (2007)

1996 erscheint in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit Pamela Anderson, das sich deutlich von der Belanglosigkeit gewöhnlicher Star-Gespräche abhebt. Pamela zeigt viel Esprit, spricht ebenso aus dem Nähkästchen und gibt Vertraulichkeiten preis wie sie sich auch zu luziden Selbstanalysen aufschwingt und auch um pointierte Statements nicht verlegen ist. Das Feuilleton ist begeistert. Endlich hat es einer geschafft, das Star-Interview auf eine neues Niveau zu heben und den Promis mehr als nur ein paar Floskeln und Plattitüden zu entlocken. Tom Kummer heisst der Mann der Stunde, der sein Erfolgsrezept bei der Crème-de-la-crème des Showbusiness fortsetzt: Sharon Stone, Bruce Willis, Phil Collins und vielen mehr verhilft dieser Kummer zu den erstaunlichsten Aussagen und Reflexionen ...

... bis vier Jahre später die Blase platzt und Kummer vorgeworfen wird, seine Interviews seien alle nur erstunken und erlogen. Es folgen verschiedene Berichte und Stellungnahmen, die schliesslich dazu führen, dass Kummer seinen Job los wird und auch die Chefredakteure bei der Süddeutschen Zeitung ihre Posten räumen müssen. Eigentlich merkwürdig: Obwohl das Unwahrscheinliche dieser Interviews allen in die Augen stach, hinterfragte man sie nicht, sondern brach in kollektive Begeisterung aus. Der Glaube an die schiere Möglichkeit war stärker als jede kritische Reflexion. Die Grenze zwischen Betrug und Selbstbetrug verläuft hier fliessend. Der ehemalige Tennisprofi Kummer hat mit seinen Fälschungen das System des People-Journalismus selbst an die Wand gespielt. Von den einen deswegen als Genie gefeiert, gilt er in der schreibenden Zunft der Journalisten seither freilich als Verräter.

Kummer selbst hat seine Sichtweise auf diese Episode in dem autobiographischen Bericht Blow up aufgearbeitet. Es ist weniger eine Rechtfertigung als eine Rekonstruktion der Ereignisse, die Kummer zunächst verdrängte. Das Motiv des Vergessens durchzieht den Text von Anbeginn, wo Kummer mittlerweile als Tenniscoach Tomàs in einem Privatclub der High Society untergetaucht - und damit just in einem Milieu angekommen ist, das er in seinen Fake-Interviews nur prätentierte. Im Jonathan Club bei Pacific Palisades verkehren echte Hollywoodgrössen wie Johnny Depp, Scarlett Johanson oder Gwyneth Paltrow. Inmitten dieser Prominenz beschleichen Kummer Gewissenbisse und er beginnt sich der Vergangenheit zu stellen. Mithilfe von Tonband-Aufnahmen, u.a. mit Tapes seines alten Telefonbeantworters, will er seine verschüttete Erinnerung wieder schichtweise freilegen.

Das Buch bietet somit einen interessanten Abriss des frühen Lebenslaufs des Autors und seiner journalistischen Karriere, von den Anfängen bei der Szene-Zeitschrift Tempo bis hin zu seinem Aufstieg als Hollywood-Reporter für die Süddeutsche, stets mit viel name-droping garniert, was wohl unterstreichen soll, dass Kummer dick im Geschäft war, obwohl er sich selbst stets als Randfigur und Aussenseiter wahrnahm, der eher nolens als volens in den Journalismus rutschte und deshalb stets einen scheelen Blick auf diesen wirft. Hier liegt ein interessanter Aspekt des Buchs, da Kummer eine Argumentationsfigur aufbaut, um sich weniger für seine Fake-Interviews zu entschuldigen, sondern ihre Systemnotwendigkeit quasi zu begründen. Da die ganze Presselandschaft nichts anderes als eine Scheinwirklichkeit konstituiert, ist es eigentlich ehrlicher oder zumindest konsequenter, wenn man sich gar nicht mehr an die Wirklichkeit hält.

Dabei verläuft sein Argument in zwei Richtungen: Zum einen verweist Kummer en passant immer wieder auf die Künstlichkeit nicht nur der Gesellschaft, sondern auch des Redaktionshabitus, und spricht den Zeitungen ihren Wahrheitsanspruch ab. Das sei alles nur Augenwischerei oder wie es mit Rekurrenz auf Jean-François Lyotard an einer Stelle heisst: "die Realität als Show". Es fallen Sätze wie: "Wie so oft im Journalismus waren die gesprochenen Worte und die gedruckten Texte zweierlei." Oder: "Jede journalistische Strategie, die darauf abzielt, Authentizität und Objektivität glaubwürdig zu simulieren, ist im Grunde faszinierend und einen Versuch wert. Nur hat es mit der Wahrheit nichts zu tun." Näher an die Wahrheit gelangt man hingegen, so suggeriert es Kummer zwischen den Zeilen, wenn man sie wie er erfindet.

Der zweite Teil von Kummers Argumentationsstruktur streicht deshalb seine schon früh entwickelte Freude am Erfinden von Geschichten hervor. Sich die Realität, die in Kummers Augen ohnehin nicht authentisch zu vermitteln ist, wenigstens zu erschreiben. Bereits während seiner schliesslich gescheiterten Tenniskarriere gelangte er zur Erkenntnis: "Die Wirklichkeit ist enttäuschend. Stattdessen amüsiere dich über den Wirbel, den Du verursachst." Bei seinen ersten Reportagen gewann er ebenso rasch die Gewissheit, "dass man nicht alles mit eigenen Augen erleben musste, um über die sogenannte Wirklichkeit zu schreiben". Was schliesslich dazu führte, wie Kummer schreibt, "dass ich einen Pop- oder Hollywoodstar für eine semifiktive Figur halte - und als solche müsste sie es sich eigentlich gefallen lassen, wenn die Rezeption die Fiktion weiterspinnt". Die Stossrichtung all dieser Statements ist klar: In einer Welt, wo Ansehen und Schein alles zählen, kommt dem Fake letztlich mehr Wahrheitsgehalt zu.

Die Frage bleibt nach der Lektüre, welchen Status nun Kummers Memoiren haben. Fällt da der Vorwurf des Fake auch auf sie zurück? Ein Autor, der so offen zugibt, dass er es mit der Wahrheit nicht allzu genau nimmt, der sich gerne alternative Wirklichkeiten ausdenkt, ist zwangsläufig ein unzuverlässiger Erzähler. ("Tom Kummer, schon der Name klingt erfunden.") Und das obwohl er eine absolut glaubwürdig klingende Prosa schreibt: offen, direkt, persönlich, ehrlich, unverstellt. Kummer versteht es exzellent diese stilistischen Register zu ziehen, damit seine Memoiren authentisch klingen. Ob sie es auch tatsächlich sind, ist - gemessen an den Maximen des Autors - vielleicht gar nicht die entscheidende Frage.


Donnerstag, 5. Oktober 2023

Mike Johansen: Die Reise des gelehrten Doktor Leonardo ... (1932)

Im Jahr 1959 plante der polnische Schriftsteller und Journalist Jerzy Giedroyc, der bis zu seinem Tod die bedeutende Exilzeitschrift Kultura herausgab, eine Anthologie mit Texten von ukrainischen Autoren, die in den 1930er Jahren Opfer des Stalinismus wurden, im Gefängnis landeten oder gar im Gulag umkamen. Als Titel wählte Giedroyc den Namen Rosstriljane widrodschennja, was auf Deutsch unterschiedlich mit 'erschossene Renaissance' (oder 'hingerichtete Wiedergeburt' bzw. 'Regeneration') übersetzt wird. Die Anthologie kam nie zustande, doch der Titel wurde zur feststehenden Bezeichnung für jene Generation ukrainischer Schriftsteller, die den kulturellen Aufbruch und ihr progressives Literaturverständnis mit dem Leben büssten.

Zu dieser Generation gehörte auch der 1985 in Charkiw geborene und 1937 in Kiew ermordete Mike Johansen, dessen Werk dank der Initiative des Münchner Staatsbibliothekars Johannes Queck erstmals im deutschen Sprachraum bekannt wird. Hier zeigt sich der zumindest kulturelle Kollateralnutzen des anhaltenden Ukraine-Kriegs: Es gelangt eine bislang weitgehend unbekannte, weil unbeachtete literarische Landschaft ins Blickfeld. Die Metapher der 'Literaturlandschaft' ist bei Johansen sogar beim Wort zu nehmen, denn wie es im vorangestellten Motto zu seinem Romans heisst, wolle er eine "Landscape-novel", einen "Landschaftsroman", schreiben.

Die Reise des gelehrten Doktor Leonardo und seiner zukünftigen Geliebten, der schönen Alceste, in die slobidische Schweiz - wie der vollständige Titel des Romans lautet - zählt Johannes Queck zu den "Schlüsselwerken der Ukrainischen Avantgarde der 1910er-1930er Jahre". Die im Titel genannten Landschaft, die slobidische Schweiz, existiert nicht wirklich; sie ist eine Phantasielandschaft, die natürlich wieder auf die Realität verweist. Gemeint ist die Region um Johansens Geburtstadt Charkiw, als 'Schweiz' wird sie (in Analogie zur Fränkischen oder Sächsischen Schweiz) deshalb bezeichnet, weil ihre Topographie an den helvetischen Kleinstaat erinnert, wie Alceste im Roman einmal begeistert ausruft:

Hier beginnt die Seenschweiz. Ich habe den Vierwaldstätter See und den Genfer See in jener Schweiz gesehen, die früher die Welt mit Portiers versorgt hat und sie heute mit Toblerone versorgt. Jene Seen sind wunderschön und weitaus größer als diese hier, das Wasser in ihnen ist klar und azurblau.

Doch unter Landschaftsroman versteht Johansen mehr als nur das Genre des nature writing. Er beabsichtigt damit, das Verhältnis herkömmlicher Erzählweisen überhaupt umzukehren. Nicht mehr das Personal, sondern die Landschaft soll die Handlung bestimmen: "Nirgends steht geschrieben, dass ein Autor eines literarischen Werkes sich dazu verpflichtet, lebendige Menschen durch dekorative Landschaften zu führen. Er kann im Gegenteil versuchen und dekorative Menschen durch lebendige und reichhaltige Szenerien zu führen." Im Resultat führt dieses Vorhaben auf eine metafiktionale Spielerei, bei der die Romanfiguren wie Pappkameraden hin- und hergeschoben werden, mitunter die Identitäten wechseln und sich vor allem auch ihres fiktionalen, unwirklichen Charakters bewusst sind.

Verschiedentlich sprechen die Romanfiguren miteinander über den Autor, als wäre er ein Gott, der ihr Schicksal lenkt, oder sie führen kurze erzähltheoretische Exkurse, wobei für sie, wie es an einer Stelle heisst "Gesetze der Handlung" so "unumstößlich und unerschütterlich" sind wie anderweitig "Naturgesetze". Tatsächlich entwickelt sich die Handlung ohne ersichtliche Motivation, vielmehr sind es äussere Ereignisse, welche den Ablauf bestimmen, und Naturwunder, wie die finale "Zaubernacht", welche das Geschehen lenken. Den Bahnhof, den die  beiden Protagonisten Leonardo und Alceste von Anbeginn ansteuern, erreichen sie nie, stattdessen versinken sie am Ende im Tartaros, der sich in einem Erdwall (Prysba) auftut.

Am Schluss pafft der Schlosser Scharaban, eine mythologische Gestalt, der über die Gestirne und den Tageslauf verfügt, seine Pfeife "und durch die blauen Schriftrollen aus Rauch zeichneten sich bereits die unglaublichen Konturen der Slobidischen Schweiz ab." Mit diesem Satz endet der Roman und unterstreicht somit nochmals den fiktiven Status der Geschichte, die nichts anderes als blauer Dunst ist. Das Bild von den Schriftrollen aus Rauch verweist dabei auf eine Szene ungefähr in der Mitte des Buchs, wo ein Baumpflanzer sich aus einem Gedichtblatt eine Zigarette rollt und sie genüsslich verpafft. Auch da steigt "ein Strom bläulichen, süßlichen Rauchs" in den Himmel. 

Literatur besitzt keinen Ewigkeitswert, sondern dient dem momentanen Genuss, der sich auch wieder verflüchtigt wie der Rauch einer Zigarette. Dies zumindest war die Einstellung von Mike Johansen, der die Auffassung vertrat: "Der soziale Wert der Kunst entspricht in etwa dem Wert von Eis und Schnee im Sommer und dem von heißem Tee im Winter. Die sozial produktive Funktion der Kunst ist dieselbe, wie die eines Karussells oder eines harmlosen Spiels; das Wort ist eine der Möglichkeiten, sich zu erholen."



Sonntag, 17. September 2023

Ulrich Becher: Das Profil (1973)

Ulrich Becher war seit jeher ein wortmächtiger, saft- und kraftvoller Erzähler, der seine Lebenswirklichkeit in skurrile, groteske, zuweilen karikierende Geschichten packte - geschult an seinem frühen Mentor, dem Karikaturisten George Grosz, der in diesem späten Roman dem Maler Altdorfer Pate stand. Wie Grosz so wohnt auch Altdorfer - er wählt diesen Übernamen als Referenz an den historischen Künstler, den er zusammen mit Matthias Grünewald als Proto-Expressionisten verehrt - als exilierter Künstler auf Long Island bei New York - und zwar, wie es an einer Stelle heisst, in unmittelbarer Nachbarschaft von George Grosz. Hier trifft die Realperson auf ihr fiktionales Alter Ego Altdorfer und die Wirklichkeit vermengt sich mit der Erfindung, wie es typisch für Bechers Prosa ist.

Altdorfer schlägt sich mehr schlecht als recht im New Yorker Kunstbetrieb durch. Umso erfreuter zeigt er sich, als sich ein Reporter von der Manhattan Review bei ihm meldet, um einen ausführlichen Beitrag über ihn zu schreiben - ein "Profil", wie die Rubrik heißt. Eine Woche lang interviewt Dennis Howndren, so der Name des Journalisten, den Künstler, doch dann geraten beim Dinner am letzten Abend die Dinge ausser Kontrolle. Howndren entpuppt sich als trockener 'dipsomaniac', als ehemaliger Quartalssäufer, der den Anonymen Alkoholikern beigetreten ist und den Spirituosen seither abgeschworen hat. Da ihm Altdorfer jedoch nachgerade ein Glas Beaune Villages aufdrängt, entfesselt sich die alte Trinklust wieder und Howndren schlägt über die Stränge.

Howndren ist die eigentliche Hauptfigur des Romans. Er wird als Hüne geschildert, als Enakskind, mit phosphorgrünen Augen und einem roten Bürstenhaarschnitt. Eine clowneske, gar mythologische Figur, die gleichzeitig mit dem Tornado Greta Garbo wie eine Urgewalt über Altdorfer und seine Familie hereinbricht. Im Suff beginnt er mit Schüttelbecher Baseball zu spielen, zerdeppert dabei eine Whiskeyflasche, entkleidet sich bis auf die Unterhose, verbrennt seine Schuhe und gerät zusehends ausser Kontrolle, so dass Walt, der eine Sohn der Familie, ihn in eine Zwangsjacke steckt. Mit seinen Riesenkräften vermag sich Howndren jedoch wieder daraus zu befreien, rennt in den Garten und klettert dort auf eine Ulme, von der er nicht mehr herunter will.

Hier liegt ganz offensichtlich eine Anspielung auf den irischen Kultroman At-Swim-Two-Birds (1939) von Flann O'Brien vor, wo die Sage vom König Sweeny in den Bäumen erzählt wird und auch der Alkohol (wie überhaupt bei O'Brien) eine dominante Rolle spielt. Nicht zufällig wird Howndren bei Becher als Ire eingeführt, und je länger die Erzählung andauert, umso mehr verwandelt sich der Journalist in eine sagenhafte, überlebensgroße Figur, bis er am Ende als König Triton nackt am Sund vor New York posiert. Er zählt damit zum Geschlecht anderer literarischerer Riesenfiguren, welche den Lauf der Dinge durcheinander bringen, so zum Beispiel der "sichere Mann" bei Eduard Mörike oder der Riese Sonntag bei G. K. Chesterton.

Erzähltechnisch raffiniert werden die Lesenden unvermittelt auf die mitunter abrupten Wendungen der Geschichte vorbereitet, als nach der anfänglichen Dinner-Szene, wo Howndren seine sozialistischen Exkurse verbreitet, plötzlich ein anderes Kapitel aufgeschlagen wird und der Erzähler sich einlässlich über das geheime Sexleben von Evelyn "Evie" Lampbell ausbreitet, die zuvor als keusche "Defregger-Schönheit" eingeführt wird (in Anlehnung an den biederen Tiroler Genremaler Franz Defregger), in Wahrheit aber, wenngleich emotional stets unbeteiligt, nichts anbrennen lässt und selbst vor Orgien und schwarzen Messen nicht zurückschreckt. Die geneigte Leserin wird von solchen Offenbarungen derart überrumpelt und vor den Kopf gestossen, dass sie in der Folge selbst die wildesten Kapriolen der Geschichte nicht mehr wundern kann.

Der Hang zur Überzeichnung ist Bechers Prosa allgemein eigen. In diesem Spätwerk scheint er es streckenweise jedoch zu übertreiben, oder aber die Lust am schieren Fabulieren verkommt hier mitunter zum reinen Selbstzweck. Ein verrückter Einfall jagt den nächsten, stets in überbordender, sprachgewaltiger Schilderung, was zu Lesen eine wahre Freude ist, auch wenn einem bisweilen die Geschichte entgleitet. Doch wie könnte es bei einem Delirium auch anders sein. Zwischen den Eskapaden der äußeren Handlung flirren jedoch immer wieder enzyklopädische Polit- und Kunstdiskurse durch, welche um das Fanal des Zweiten Weltkriegs kreisen, der nicht nur George Grosz, sondern auch Ulrich Becher ins amerikanische Exil getrieben hat.