Mittwoch, 19. März 2025
André Pieyre de Mandiargues: Das Motorrad (1963)
Dienstag, 4. März 2025
Walter Vogt: Die Talpi kommen! (1973)
Das Buch erschien zuerst 1971 mit dem Untertitel "Ein Miniroman für kluge Kinder" im Berner Verlag "Gute Schriften". Um ein Kinderbuch handelt es sich deswegen bei Weitem nicht. Zumindest machen Illustrationen und sogenannte "Wandtafelsätze" (siehe Peter Bichsel, dessen Kindergeschichten eben auch keine sind) noch lange kein Kinderbuch. Auch das Glossar im Anhang verfolgt keinerlei pädagogische Absichten, auch wenn dort das Lemma "Glossarium, Glossar" ironisch wie folgt erläutert wird: "Worterklärungen für Lehrer und besorgte Eltern". Nicht die Kinder sollen also belehrt, sondern die Erwachsenen beruhigt werden. Auch die restlichen Begriffe werden im Glossar mit ähnlich fröhlichem Unernst erklärt, oft im subversivem Gegensinn bis hin zur kompletten Un- bzw. Blödsinnigkeit: "Einweihungsriten: Riten zur Einweihung Uneingeweihter durch Riten (sog. 'Einweihungsriten')." Besser liesse sich die hilflose Redundanz terminologischer Bemühungen nicht demonstrieren. In ebenso selbstbezüglicher Weise wird der im Text fallende Begriff "Rekombinatorenbank" im Glossar erläutert: "Literatur zum Thema 'Rekombinatorenbank': Vogt, W. 'Die Talpi kommen!' (Sauerländer, Aarau, 1973). Einziges einschlägiges Standardwerk von Bedeutung."
Womit wir beim Thema wären: Worum geht's? Um Ausserirdische, die Talpi. Ja, auch. Vor allem aber um zwei Jungs, den Polizistensohn Alex, der über den sechsten Sinn verfügt, und den Apothekersohn Hans, genannt "Busch", der Alex mit Unmengen von Phosphortabletten versorgt, um dessen sechsten Sinn konstant aufrecht zu erhalten. Beide entdecken im Katzloch (bei Punkt 736 auf der Karte Belpberg 1:25000) ein Höhlensystem, in dem sich auch ein ausserirdischer Talpi verirrt hat. Sie wollen es als eine "Mischung von Räuberlager und Arche Noah" zu einer eigenen Behausung umfunktionieren. Zu diesem Zweck betäuben und entführen sie nicht nur Tiere, sondern auch andere Kinder Lehrer und Haushälterinnen, um eine Art unterirdische - oder wie sie es nennen - "exterritoriale" Gemeinschaft zu bilden. Gleichzeitig sind die wahren Extraterrestrischen, die Talpi, unterwegs Richtung RD (sprich: ErDe) in ihrem Raumschiff "Talgo due", auf dem sie als einziges menschliches Exemplar den Philosophen Ludwig Feuerbach mit an Bord führen, um ihn am Ende gegen ihr im Höhlenloch verirrtes Mitglied austauschen. Doch so linear, wie hier nacherzählt, erfolgt die Geschichte nicht. Sie zeichnet sich vielmehr durch diverse temporale Sprünge und auktoriale Störmanöver aus bis am Schluss, wo der Autor - wie es Roland Barthes in Der Tod des Autors (1967) fordert - den Stab dem Leser übergibt.
Es ist vielleicht Walter Vogts heiterstes und lockerstes Werk. Deshalb stellt das Buch in seiner Unbekümmertheit so manche angestrengte, weil betont sprachgedrechselte und um Relevanz heischende Neuerscheinung bei Weitem in den Schatten. Vogts Anspruch ist alles andere, als gesellschaftlich relevant zu sein - und gerade deshalb ist er es umso mehr. Vordergründig voller Witz und Schabernack, Stil- und Konventionsbrüchen, manchmal scheinbar zu billigen Pointen neigend, die aber doch wieder von einem untergründigen Sarkasmus aufgefangen werden. Im Überhang zum Absurden bleibt die sozialkritische Dimension nicht verborgen, auch nicht im Glossar, das diverse gesellschaftspolitische Begriff explikativ subvertiert und damit einen kritischen Echoraum schafft. Man braucht eigentlich nur das unter dem Titel "Der Autor gibt seine Visitenkarte ab" stehende Vorwort zu lesen, um den satirischen Grundtenor des Textes zu erfassen, sowohl in formaler Hinsicht mit seinem unverfrorenen Umgang jeglicher Erzählkonventionen als auch in kritischer Hinsicht mit allen subversiven Untertönen. Unter dem Strich einfach ein grossartiges Lesevergnügen, bei dem der Spass ebenso wie der Intellekt auf seine Kosten kommt.
Mittwoch, 26. Februar 2025
Virigina Woolf: Mrs Dalloway (1925)
Vor hundert Jahren erschien Mrs Dalloway, in der von Virginia Woolf und ihrem Mann Leonard wenige Jahre zuvor gegründeten Hogarth Press. Es ist ein Gesellschaftsroman im doppelten Sinn. Zum einen schildert der Roman verschiedene Charaktere aus der Londoner Upperclass an exakt einem Tag Mitte Juni 1923, zum anderen die Vorbereitungen zu einer Abendgesellschaft, die Clarissa Dalloway noch Ende des selben Tags (und somit auch des Romans) gibt. In ihrer Vernunftehe mit Richard Dalloway flüchtete sich Clarissa in die Rolle der "perfekten Gastgeberin". Der Titel des Romans, der nicht etwa den Eigennamen der Protagonistin, sondern ihren angeheirateten Ehenamen trägt, verweist damit bereits symbolisch auf ein Grundmotiv: auf die Dominanz der gesellschaftlichen Repräsentativität, die nicht immer mit dem inneren Gefühlsleben in Einklang zu bringen ist. Schon früh im Verlauf des Romans wird sich die Titelheldin bewusst, wie sie in ihrer sozialen Rolle gefangen bleibt: "nur dieses Mrs. Dalloway-Sein; nicht einmal mehr Clarissa; nur dieses Mrs. Richard Dalloway-Sein".
Von Mrs. Dalloway erfahren wir, dass es sich um eine 52jährige Frau mit einer vogelartigen Physiognomie handelt, die unlängst von einer Herz-Krankheit genesen ist und sich in einer ambivalenten Gefühlslage wiederfindet. Zum einen begrüsst sie zu Beginn emphatisch das "Leben", das auch allgemeingesellschaftlich nach Kriegsende wieder aufblühte: "Der Krieg war vorbei". Andererseits wird sie den Eindruck nicht los, ein falsches Dasein zu fristen. Gleich zu Beginn des Romans, auf dem Weg zur Blumenhändlerin, denkt sie sich: "Ach, wenn sie nur ihr Leben nochmals leben könnte!" Ihre Gedanken schweifen schon früh am Tag, als sie das Haus verlässt, in die Vergangenheit, in ihre Jugendtage auf dem Landgut in Bourton, als sie mit ihrer Freundin Sally die Möglichkeit lesbischer Liebe erkundete und den geistreichen, aber erfolglosen Peter Walsh für eine bürgerliche Ehe mit dem grundsoliden Langweiler Richard Dalloway sitzen liess. Die unromantische Tragik dieses Entscheids gelangt in einer Szene zum Ausdruck, als dieser seiner Gattin mit einem Strauss Blumen seine Liebe gestehen will, aber den entscheidenden Satz auch nach mehreren Anläufen partout nicht über die Lippen bringt.
In dieser Diskrepanz zwischen Innenleben und Aussenwahrnehmung verfolgt der Roman verschiedene Charaktere entlang ihrer Tagesgeschäfte durch London und lässt sukzessive die Zusammenhänge zwischen ihnen erkennen, bis alle Fäden im grossen Finale der Abendgesellschaft zusammenlaufen. Insbesondere das Schicksal des traumatisierten Kriegsveteranen Septimus Smith verknüpft sich am Ende überraschend drastisch mit demjenigen der Titelheldin. Während zunächst ohne grösseren Zusammenhang die Wahnvorstellungen von Smith geschildert werden wie auch die Therapieversuche der Ärzte, denen er sich schliesslich aber durch einen Sprung aus dem Fenster zu entziehen weiss, wirft die Nachricht dieses Suizids während der Party Clarissa Dalloway auf ihre eigene Situation zurück: "Irgendwie war es ihr eigenes Unheil - ihre eigene Schmach". Sie entfernt sich einen Moment von der Gesellschaft, erkennt die Ähnlichkeit mit dem Selbstmörder, rettet sich aber schliesslich in den Gedanken, dass er sich stellvertretend quasi als kollektives Opfer umgebracht habe: "Sie war froh, dass er es getan hatte; es weggeworfen hatte, während sie alle das Leben weiterlebten."
Der Roman spielt - wie James Joyces Ulysses, mit dem er viel verglichen worden ist - an exakt einem Tag, ansatzweise in einer Gedankenstromtechnik, die aber nicht so radikal durchgeführt ist wie bei Joyce (oder auch bei Arthur Schnitzler in Leutnant Gustl), da sich eine auktoriale Stimme nach wie vor bemerkbar macht, nicht selten mit salopp dahingeworfenen, zynischen Bemerkungen. Wie aber die verschiedenen Stimmen ineinanderfliessen, die Perspektiven gewechselt, äussere Begebenheiten durch innere Denkvorgänge reflektiert werden, führt zu einer komplexen Erzählprosa, hypotaktisch und von Parenthesen durchschossen, so dass zuweilen innerhalb eines einzigartigen Satzes verschiedene Sichtweisen nahezu kubistisch zusammenfinden. Es entsteht dadurch eine unglaublich reiche, dicht verwobenen Prosa von zuweilen ungeheurer Intensität, in der sich die gesamte Befindlichkeit der Nachkriegszeit reflektiert, die hinter dem scheinbaren Wohlstand und Frieden ihre Abgründe verbirgt. Strukturiert wird der wechselnde Gedankenstrom lediglich durch die Glockenschläge von Big Ben, die wie ein mahnendes Memento Mori den Lauf des Geschehens durchziehen.
Dienstag, 25. Februar 2025
Evo Präkogler: Nicht schon wieder...! (1990)
Oswald Wiener geht trotz (oder gerade wegen) seiner Vielseitigkeit als Ein-Buch-Autor durch. Nachdem sein literarischer Hauptwerk die verbesserung von mitteleuropa zuerst periodisch in der Grazer Zeitschrift manuskripte, dann 1969 in Buchform erschienen ist, trat er vornehmlich als Theoretiker und Essayist in Erscheinung. Seine Beteiligung am skandalträchtigen Auftritt Kunst und Revolution der Wiener Aktionisten, die als "Uni-Ferkelei" in die Annalen einging, nötigte ihn überdies, im Erscheinungsjahr von die verbesserung von mitteleuropa Österreich aufgrund eines drohenden Verfahrens wegen Gotteslästerung zu verlassen. Er liess sich in West-Berlin nieder, wo er als Gastronom bis 1986 das Szene-Lokal Exil führte, das angeblich auch David Bowie frequentiert haben soll.
In Berlin etablierte er sich - neben einem neu in Angriff genommenen Studium in Mathematik und Informatik - als Publizist, u.a. für den Verlag Matthes & Seitz, in dem er verschiedene Bücher herausgab oder benachwortete, z.B. Riten der Selbstauflösung (1982) oder Psychopathia criminalis von Oskar Panizza (1978). 1990 erschienen im selben Verlag unter dem Titel nicht schon wieder...! auch die Aufzeichnungen eines gewissen Zdenko Puterweck, herausgegeben von einem nicht minder ominösen Evo Präkogler, beides literarische Mystifikationen Oswald Wieners, was im Buch aber an keiner Stelle irgendwie angedeutet oder aufgelöst würde (einzig abgesehen von der Anspielung auf das "Wortgenie der Grazer Gruppe"). Der Zeit-Journalist Günter Nenning enthüllte die wahre Autorschaft jedoch in einem Zeitungsartikel und machte dem Versteckspiel vorzeitig ein Ende. Wiener plante eigentlich das Verwirrspiel mit einer Rezension des eigenen Buchs selbst zu lüften.
Der 'Roman', wenn man so sagen will, präsentiert sich zunächst als klassische Herausgeberfiktion, wie bereits der Untertitel mitteilt: "Eine auf einer Floppy gefundene Datei". Auf dieses etwas ausgereizte Genre eines Textes, der sich als manuscrit trouvé ausgibt, reagiert selbstironisch der Titel Nicht schon wieder! Allerdings lässt er sich auf die am Ende aufgeworfene Frage beziehen, ob sich dasselbe Programm stets von Neuem abspielt. Doch der Reihe nach, das heisst: von vorne. Zdenko Puterweck, eine renommierter Wiener Literat und Intellektueller, kommt an einem 26. Oktober wieder im Spital zu sich, nachdem er vier Tage zuvor bereits für tot erklärt wurde. Seine Zeit während der Reha vertreibt er sich mit Tagebuch-Aufzeichnungen, da sein Gedächtnis durch die Nahtoderfahrung den stark gelitten hat. Er bezeichnet sich als "Emmentalerhirn" und "Kopfkrüppel". Deshalb versucht er peinlichst alles zu notieren, damit er sich, wenn schon nicht daran erinnern, es doch extern festhalten kann: "Ich erinnere nur das einmal Geschrieben. Je geschriebener desto besser."
Allmählich dämmert es ihm, dass er in einen Politskandal verstrickt war, nachdem er regelmässig Besuch des Magistraten Prokil bekommt, der ihn nach dem Verbleib von "Altmaterial" befragt. Offenbar wurde von der Regierung radioaktives Material heimlich entsorgt und nur Puterweck kennt den Ort, weshalb nun alle Hoffnung darin liegt, dass sich sein Gedächtnis so rasch wie möglich erholt, zumindest was diese brisante Information betrifft. Doch Puterweck kommt nicht richtig auf die Sprünge. Er ist zu sehr damit beschäftig, sich über seine Situation Klarheit zu verschaffen. Dabei entwickelt er eine komplexe mathematisch-informationswissenschaftliche Theorie vom Unbewussten als "Komplikator" - ein Neologismus, das den Begriff des Computers mit dem französischen Wort für Falte (pli) verschränkt. Das Bewusstsein als komplexe Denkprozesse der Datenfaltungen. Hier deutet sich bereits an, worauf der Roman am Ende hinsteuert: Zdenko Puterweck - in dessen Name nicht zufällig auch ein Computer steckt - gelangt zur Überzeugung, dass er nicht mehr real existiere, sondern lediglich als Programm, das nach seinem Tod aufgesetzt wurde, um sein Gedächtnis zu hacken.
Wiener gelingt damit eine interessante Mischung zwischen Politthriller und Experimentalroman, der streckenweise erstaunlich spannend liest, auch wenn die Durchschnittsleserin den theoretischen Exkursen nicht in allen Details folgen kann. So viel wird aber deutlich: Es geht um die Frage nach künstlicher Intelligenz resp. nach dem Unterschied zwischen Mensch und Maschine. Puterweck durchlebt im Spital sein cartesianisches Moment mit der Frage, ob er ein selbstdenkendes Wesen sei oder ihm alle Gedanken und Wahrnehmung nur durch ein Programm eingegeben werden. Und mehr noch: Was passiert, wenn das Puterweck realisiert, dass er ein Programm ist? Wäre dann die Schwelle erreicht, an der sich sagen liesse, Computer können ein (Selbst-)Bewusstsein entwickeln, also dass er, wie der Name Zdenko suggeriert, tatsächlich denkt? Am Punkt der Selbsterkenntnis bricht der Text jedoch ab. Ob das Programm kollabiert ist oder ob ihm der Stecker gezogen wurde, weil es nicht den erhofften Aufschluss über das "Altmaterial" brachte, bleibt dahingestellt.
Als Leserin verfolgt man quasi diesen maschinellen Evolutionsprozess hin zur künstlichen Intelligenz. Einer der letzten Sätze lautet: "D. ganze Scheisse ist nichts als d. Evolution." Puterweck erhebt an einer Stelle im Text verschieden evolutionäre Hypothesen, eine davon lautet, das Bewusstsein sei bloss "eine Zwischenphase", die in einer komplexere Stufe münde, die rein "algorithmisch" funktioniere: "Mein Pech, unser Pech dass wir die Automaten aus der Zwischenphase sind." Auf diesen Themenkomplex deutet schon der Name des fingierten Herausgebers mit der merkwürdig maskulinen Variante von Eva (Evo) hin, der ursprünglich sogar noch deutlicher Evo Lutz Präkogler lauten sollte. Biblische Ursprungsgeschichte (Eva), biologische Theorie (Evolution) und Futurismus (Präkognition) klingen hier hörbar zusammen an. Wer zudem die "Precogs" aus Philip K. Dicks Minory Report heraushört, liegt ebenfalls nicht falsch, zumal der Autor von Puterweck mehrfach in seiner Datei erwähnt und zitiert wird, insbesondere seine Biographie Only Apparantly Real, deren Titel gleichsam symbolische Bedeutung zukommt.
Sonntag, 23. Februar 2025
William Gibson / Bruce Sterling: Die Differenz Maschine (1990)
Samstag, 22. Februar 2025
Wolf Haas: Verteidigung der Missionarsstellung (2012)
Wolf Haas, bekannt für seine mit Sprachwitz gespickten Brenner-Krimis, legte mit mit die Verteidigung der Missionarsstellung einen Roman ausserhalb seiner Krimi-Serie vor, der alle Register des postmodernen Erzählens zieht, ohne dabei anstrengend zu wirken. Im Grunde ist es schon eher eine Parodie auf postmoderne Erzählverfahren, die hier mit grossem Augenzwinkern zur Schau gestellt werden. Es handelt sich - ganz in der Tradition von Laurence Sterne und seinem Tristram Shandy - um einen Antiroman, der sich dem linearen Fortgang verweigert, den Erzählfluss ständig sabotiert und die Geschichte lediglich entwickelt, um sie wie eine Seifenblase platzen zu lassen. Das beginnt schon damit, dass wir keinen fertigen Roman lesen, sondern gewissermassen einzelne Entwurfsfragmente, deren Lücken erst noch ausgearbeitet werden müssen. Immer mal wieder vermerkt der Autor in Klammern, was bei einer Überarbeitung noch zu ergänzen wäre. Quasi konträr zu dieser Ästhetik des Unfertigen ist der Roman bereits mit diversen typographischen Spielereien ausgestattet, auch da bleibt der Tristram Shandy Vorbild. Mal muss man um die Ecke lesen, dann Querlesen oder ein Textblock bewegt sich wie ein Lift vom oberen Seitenrand nach unten. Auch das besitzt eher ironischen Charakter und fungiert als Parodie auf ähnliche, jedoch symbolisch überladene Verfahren wie etwa in Extrem laut und unglaublich nah (2005) von Jonathan Safran Foer.
Verteidigung der Missionarsstellung ist deshalb nicht nur ein Anti-, sondern auch ein - in der Tradition von Italo Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht (1979) stehender - Metaroman, da er permanent auch über das eigene Verfahren reflektiert und sich auf sich selbst bezieht, bis hin zur Absurdität, wenn dem Autor am Ende des noch unfertigen Romans eine Reiterin begegnet, die das Buch bereits aufmerksam gelesen hat. Auf diese Form der Selbstreferentialität verweist bereits das Cover des Buchs, wo der Autor sein Buch in die Kamera hält. Das Buch erscheint also im Buch und das könnte in einem infiniten Regress so weitergehen. Tatsächlich inszeniert Wolf Haas ungefähr in der Mitte der Geschichte eine solche Mise en abyme, als die lediglich als "die Baum" apostrophierte Figur beginnt, den gesamten Text zu lesen, den wir bereits gelesen haben, wobei der Autor bemerkt: "Ich fragte mich, wie sie es geschafft hatte, aus der Schleife auszusteigen. Sie hätte doch am Ende des Buches wieder an die Stelle kommen müssen, wo ich schlafen gehe und die Baum in meinem Arbeitszimmer sitzt und zu lesen beginnt. Dann hätte die Geschichte ein drittes Mal von vorn beginnen müssen, und wieder wäre sie am Ende zu der Stelle gekommen, wo die Baum in meine Arbeitszimmer geht und zu lesen beginnt, und die Geschichte hätte ein viertes Mal angefangen ..."
Nicht nur praktisch, auch theoretisch ist Wolf Haas mit allen Wassern postmoderner Konzepte gewaschen. Nicht von ungefähr heisst der Protagonist seines Metaromans Benjamin Lee Baumgartner in Anlehnung an den Linguisten Benjamin Lee Whorf, dessen sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese von der sprachlichen Abhängigkeit der Weltsicht die postmoderne Theoriebildung von der Unhintergehbarkeit sprachlicher Strukturen massgeblich mitbestimmte. Haas weiss das alles, drückt es uns aber nicht demonstrativ aufs Auge, sondern spielt mit diesen Theoriemodellen, zu denen auch das Lügnerparadox oder Tarskis Forderung einer strikten Trennung zwischen Objekt- und Metasprache gehören, ein vergnüglich leichtes Spiel. Denn eingebettet sind alle diese Versatzstücke in die amüsante Liebesgeschichte besagten Benjamin Baumgartner, der - obwohl sein Vater entgegen der Behauptung seiner Mutter gar kein Indianer war - dem Chief Bromden aus Einer folg über das Kuckucksnest verblüffend ähnlich sieht - sich immer dann in eine Frau verliebt, als gerade eine Seuche ausbricht (BSE in London, Vogelgrippe in Peking, Schweingrippe in Santa Fee), was ihn zur fixen Idee verleitet, seine Verliebtheit löse jeweils eine solche Epidemie aus. Das ist im Prinzip schon die ganze Geschichte, die vor allem von Wolf Haas' unvergleichlich witzigen Dialogen und Sprachspielen lebt - und hier zusätzlich von einem ausgeklügelten Antinarrativ.
Mittwoch, 29. Januar 2025
Charles Bukowski: Post Office (1971)
Bukowski ist eine Legende. Der Hemingway der Unterschicht und Underdogs. Sein Moniker Henry Chinaski ist hart im Nehmen und nie maulfaul. Einer der abgefuckten Typen, die man im realen Leben eher meidet, in Bukowskis literarischer Darstellung jedoch sofort alle Sympathien entgegenfliegen. So unbekümmert möchte man sich auch durchs Leben schlagen, wenn man nur den nötigen Mumm dazu hätte. Chinaski machts vor und ist dabei fortwährend er selbst, verbiegt sich in keiner Sekunde.
Post Office - auf Deutsch unter dem Titel Der Mann mit der Ledertasche erschienen - war Bukowskis erster Roman, in dem er seine 11jährige Leidenszeit als Briefsortierer beim United States Postal Service verarbeitete. Aus der Ich-Perspektive erzählt sein alter Ego Henry Chinaski, wie er als Aushilfspostbote anfing und sich schliesslich als regulärer Postbeamte bewährte, trotz periodischer Verweise und Ermahnungen wegen seiner Unpünktlichkeit, seiner Trunksucht und seines unsteten Lebenswandels.
Ironisch stellt Bukowski seinem Roman die offizielle Deklaration des "Berufsethos" der amerikanischen Post voran, die auf absolute Integrität ihrer Mitarbeiter pocht. Dem entspricht Chinaski natürlich nicht im Geringsten. Er kümmert sich keinen Deut um seine Reputation und vor unsinnigen Vorschriften und selbstgefälligen Autoritäten hat er schon gar keinen Respekt, erst recht nicht wenn diese ihre Position ausnutzen, um die Angestellten zu schikanieren.
Chinaski lässt sich von nichts und niemandem kleinkriegen. Er ruht in seiner Prolo-Attitüde (Rennbahn, Beischlaf, Alkohol) gewissermassen stoisch in sich selbst. Egal, ob er bei strömendem Regen die Post verteilen muss, einer Nymphomanin zum Opfer fällt, fast von einem Christbaum erschlagen oder von Büffeln über die Weide gejagt wird, stets bewahrt er Haltung und wirkt völlig ernüchtert - wenn dieser Ausdruck beim ständig verkaterten Chinaski nicht total unangebracht wäre.
Wie Hemingway so ist auch Bukowski ein Autor des knappen Stils. Die Sprache ist auf das Äusserste reduziert, gewinnt aber gerade dadurch ihren spröden, sarkastischen Charme. Der böse Witz teilt sich - trotz aller derben Direktheit - oft zwischen den Zeilen mit. In den Leerstellen, dem Ungesagten. So gelingen bei Bukowski selbst abgedroschene Metaphern, die bei anderen Autoren sofort in Kitsch abstürzen würden, wie der Vogel im Käfig, der ganz zum Schluss als Allegorie für die 11 Jahre Frondienst bei der Post aufgerufen wird.