Donnerstag, 28. November 2024

George Tabori: Son of a bitch (1981)

George Tabori, ursprünglich aus Ungarn stammender Drehbuchautor, Dramatiker, Übersetzer, Schriftsteller und Schauspieler, arbeitete mit Bert Brecht und Alfred Hitchcock zusammen und schrieb am Wiener Burgtheater sowie am Berliner Ensemble Theatergeschichte - eine Koryphäe, ja fast schon eine Legende des Nachkriegstheaters. Er gehört zu jenen Gestalten, die den Holocaust hautnah miterlebt haben - Taboris Vater ist in Auschwitz gestorben, er selbst konnte sich durch einen vorgetäuschten Selbstmord unter dem Decknamen George Turner in die britische Armee einschleusen -, sich davon aber nicht abschrecken oder in die Knie zwingen liessen, sondern erst recht ihre kreative Lebensenergie daraus zogen. Ein bekanntes Bonmot von Tabori ist die Frage, welches der kürzeste Witz sei. Die Antwort: Auschwitz. Diese durch nichts zu erschütternde Schwarzhumorigkeit fliesst auch ungefiltert in Taboris literarische Prosa ein, speziell auch in diesen "Roman eines Stadtneurotikers", wie es in der deutschen Übersetzung im Untertitel heisst.

Stadtneurotiker, bei diesem Wort denkt man sofort an Woody Allen. Und diesen Vergleich kann man durchaus ziehen, wenngleich Taboris Protagonist die Figuren aus Allens Filmen bei Weitem übersteigt. Das Fahrige, Nervöse und Konfuse weicht bei Tabori einer zynischen Gesellschaftsanalyse und einem ätzenden Sarkasmus. Ein richtiger "Son of a bitch" eben. So nennt sich der Protagonist selbst mit der Begrünung, Schmerzen machen einen "ganz bösartig, zum son of a bitch" - und er wird auch von anderen so bezeichnet. Es handelt sich um Arthur, einen New Yorker Lebensversicherungsagent für die Upper Class, der ironischerweise aber selbst an einer Krankheit laboriert, was er sich um keinen Preis anmerken lassen will, um nicht unglaubwürdig zu wirken. Doch seine Schmerzen nehmen fortlaufend zu, auch wenn er es verleugnen will - vor sich und erst recht vor seiner Umgebung. Längst schon ist die Epoche "V.S., Vor meinen Schmerzen" passé.

Ein gesellschaftssatirisches Glanzstück, in dem Prestigedenken, Machtgebaren und Dekadenz herrlich seziert werden, bildet das Diner bei einem Klienten, mit dem er es keinesfalls verderben will, weshalb er alles daran setzt, dass der Abend gut - und dass heisst zur Zufriedenheit des Gastgebers - über die Bühne geht. Arthur motiviert seine Frau nicht nur dazu, ihre "Titten" vorteilhaft im Dekolleté zu richten, er zwingt sich selbst sogar trotz heftiger Schmerzen das Essen herunterzuwürgen, obschon im bereits ein "Stück harter Kot" die Speiseröhre hinaufkriecht. Allein aus Angst den Gastgeber, der sich als wahrer Egozentriker und Sadist herausstellt, zu verstimmen, was auch beinahe geschieht, als Arthur zunächst dankend seine Portion ablehnt. Wie er dann aber schwitzend an seinem monströsen Beefsteak kaut und vor dem geistigen Auge all die Dinge durchrechnet, wie ein Strandhäuschen in Easthampton, die er sich dank seinem Kunden leisten kann, ist von schneidender Komik. 

Sonntag, 17. November 2024

Dino Buzzati: Die Mauern der Stadt Anagoor. Erzählungen (1987)

Das Grauen nimmt kein Ende. Nachdem das Lesefrüchtchen zu Hanns Heinz Ewers und H.P. Lovecraft griff, zieht es nun Dino Buzzati aus dem Regal, der freilich eine ganz andere Art von Schauergeschichten verfasste, die weniger dem blanken Horror, sondern - wenn man so will - eher einem metaphysischen Gruseln verpflichtet sind. Meistens fungieren die Erzählung zwar ebenfalls nach dem Prinzip, dass etwas Unerklärliches oder Übersinnliches in den Alltag tritt und die Geschehnisse fortan schicksalhaft bestimmt, Buzzati im Unterschied zu Ewers und Lovecraft jedoch mehr an der psychologischen Seite solcher Phänomene interessiert ist, weshalb seine Erzählungen oft ins Allegorische und Parabelhafte driften. Die mitunter phantastischen Geschehnisse wollen sich als Gleichnisse verstanden wissen. Nicht völlig zu Unrecht ist der 1906 in Belluno bei St. Pellegrino geborene Autor und Journalist daher schon zum 'italienischen Kafka' erklärt worden.

Die Titelgeschichte des vorliegenden Bandes Die Mauern der Stadt Anagoor mit Erzählungen aus den 1940er und 1950er Jahren liesse etwa sich leicht als Variante von Kafkas Türhüter-Parabel begreifen. Ein namenloser Ich-Erzähler wird in der Sahara an einen Ort geführt, der auf keiner Landkarte verzeichnet ist: eine mit hohen Mauern umgebene Stadt mitten in der Wüste. Dort lagern unzählige Menschen und warten bereits seit Jahren darauf, dass sich das Tor öffnet, um eingelassen zu werden. Dabei steht nicht einmal fest, ob die Stadt auch wirklich bewohnt ist. Es kursiert lediglich die Legende, dass einst ein "einziger Mensch", ein Pilger der sich zufällig vor den Toren aufhielt und nicht einmal wusste, dass es sich um die begehrte Stadt Anagoor handelt, Einlass erhielt. Das allein verschafft den Wartenden ein den Glauben einer "nahen Glückseligkeit". Dem Erzähler jedoch reisst nach 25 Jahren der Geduldsfaden und er bricht sein Lager ab, was von den anderen mit der Bemerkung quittiert wird: "Du verlangst zuviel vom Leben".

Die Anspielung auf Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" ist zu offensichtlich, auf deren Folie sich auch die Schlusspointe der Erzählung erschliesst: Der Mann vom Lande bei Kafka wurde erst bei seinem Tod eingelassen. Das Warten vor dem Tor ist ein existentielles Gleichnis. Auch sonst scheint Buzzati intertextuell eng mit einigen Klassikern der phantastischen Moderne verknüpft. Ein übermütiger Mensch präsentiert eine Art Bartleby-Figur, in Der Hund, der Gott gesehen hatte stirbt ein Eremit ausgestreckt wie Robert Walser im Schnee (der Text erschien allerdings zwei Jahre vor Walser Tod) und eine Erzählung trägt mit Der Mantel denselben Titel wie Gogols berühmte Novelle. Auch Jorge Luis Borges liesse sich als literarischer Anverwandter nennen, weisen seine dichten, paradoxen Kurzgeschichten doch etliche Parallelen mit Buzzatis Prosa auf. Ohne dass damit eine bewusste Bezugnahme auf die genannten Autoren behauptet werden soll, lässt sich Buzzatis Prosa motivgeschichtlich in diesem Kontext verorten, auch wenn sein Name im Vergleich weniger bekannt sein dürfte. Als Entdeckung lohnt sich Buzzati aber allemal.

Wie Borges geht auch Buzzati meist von einer abstraktem, metaphysischem Problem aus, das er zu einer parabolischen, gleichnishaften Erzählung ausgestaltet. So etwa in der Eingangserzählung Wenn es dunkelt. Ein erfolgreicher Mann in seinen besten Jahren wird auf dem Dachboden mit seinem kindlichen Alter Ego konfrontiert. Während er von seinem früheren Ich Bewunderung und Achtung vor seiner Lebensleistung erwartet, zeigt sich das Kind eher enttäuscht von seinem späteren Selbst. Die Frage nach dem Sinn des Lebens, das Streben nach einem erfüllten Dasein, aber auch die sich wandelnde Selbstwahrnehmung im Laufe der Zeit wird hier in eine spannungsreiche Konstellation gebracht. Ebenfalls auf einem Dachboden spielt die mitunter längste Erzählung Die Bodenkammer. Hier taucht plötzlich eine Kiste mit Äpfeln auf, so verlockend, dass ein Maler nicht widerstehend kann und durch den Biss in den Apfel in ekstatische Rauschzustände gerät, die er fortan stets wieder aufsuchen will. Was folgt ist - unter dem Motiv des biblischen Sündenfalls - das drastische Gleichnis einer Sucht, die den Betroffenen selbstquälerisch zwischen auferlegten Verboten und permanenter Selbstüberlistung oszillieren lässt.

Das Einbrechen des Irrationalen oder Übersinnlichen in das Leben eines Menschen bildet ein wiederkehrendes Motiv bei Buzzati. Aus dieser Grundkonstellation entwickelt er in einer präzisen, schnörkellosen Sprache die Psychogramme seiner Figuren. Das kann eine Kiste Äpfel sein, aber auch der Tod, eine unheilbare Krankheit wie Aussatz oder ein Tier wie ein gigantischer Igel oder - wie in der zweiten längeren Erzählung - ein herumstreunender Hund, von dem die gesamte Bevölkerung annimmt, es handle sich um den Vierbeiner des kürzlich verstorbenen Heiligen auf dem Hügel. Sie verfallen deshalb auf die fixe Idee, dass Gott höchstpersönlich sie durch dieses Tier observiere, weshalb sie in seiner Gegenwart ein gänzlich anderes Verhalten an den Tag legen und auf ihre heimlichen Sünden verzichten. Sie steigern sich sogar richtiggehend in einen Kult des Hundes hinein und verehren ihn wie ein Totemtier, bis sie auf das Grab des Heiligen pilgern und dort ein Hundeskelett erblicken, das ihnen schlagartig vor Augen führt, dass sie einem falschen Glauben aufgesessen sind: Das angebetete Tier war irgendein Strassenköter, der Hund des Heiligen ist längst mit seinem Herrn verschieden.

Der Band erschien in der "Reihe religiöser Erzählungen", weshalb die Herausgeberin Elisabeth Antkowak ihre Auswahl auf Texte stützte, in denen Fragen nach Gott und Tod, Gut und Böse, Gnade und Schicksal im Zentrum stehen. Im eigentlichen Sinne religiös können die Erzählungen dennoch nicht genannt werden, da sie einerseits keine spezifischen Glaubensinhalte transportieren, zum anderen auch in keinster Weise erbaulich sind, wie das die Herausgeberin gern suggerieren möchte, wenn sie insbesondere auf den Aspekt der Hoffnung abhebt. Doch sind die allermeisten Erzählungen alles andere als hoffnungsvoll, im Gegenteil enden sie oft auf die fatalste Weise, ohne Aussicht auf Trost, Rettung oder Umkehr. Der Verlauf jeder Erzählung steuert unerbittlich immer in Richtung Verdammnis zu. Wo die Herausgeberin da noch Hoffnungsschimmer aufblitzen sieht, bleibt ein Rätsel, heisst es an einer Stelle doch vielmehr unmissverständlich explizit: "Keine Hoffnung!" und "kein Heilmittel".

Der Mensch, so sehr er sich nach Transzendenz sehnt und sein Wunsch nach göttlicher Gnade zum Ausdruck kommt - bei Buzzati wird sie ihm fast durchwegs verwehrt. Sie sind von Anbeginn Verdammte, die sich ihrem Schicksal schliesslich widerstandslos ergeben. Alles andere wäre literarisch auch wenig erspriesslich. 

Donnerstag, 7. November 2024

H. P. Lovecraft/August Derleth: Das Grauen vor der Tür (1945)

Nach Hanns Heinz Ewers greift das Lesefrüchtchen zu einem anderen Meister des gepflegten Horrors: zu H. P. Lovecraft. Im Unterschied zu Ewers, bei dem das Grauen stets lebensweltlich verankert ist, steigt es bei Lovecraft aus den Untiefen der kosmischen Vergangenheit, aus dem All oder aus übersinnlichen Sphären auf. Jedenfalls handelt es sich um ein Ding, welches das menschliche Fassungsvermögen auf vernichtende Weise übersteigt. Eine Art totales Erhabenes, das den Menschen - anders als bei Kant - nicht auf seine seelische Überlegenheit zurückwirft, sondern ihn schlichtweg zermalmt. So auch in dieser Geschichte, die der mit Lovecraft befreundete Horrorschriftsteller August Derleth auf Basis von hinterlassenen Fragmenten rekonstruiert und 1945 als Kollaboration beider Autoren publiziert hat. Die deutsche Übersetzung nennt allerdings Lovecraft als Hauptverfasser, obschon ausschliesslich die Idee von ihm stammt, der quantitativ überwiegende Teil des Textes jedoch von Derleth ausgeführt wurde. Leider, wie man feststellen muss.

Passenderweise präsentiert sich die Erzählung selbst als Rekonstruktion aus verschiedenen hinterlassenen Aufzeichnungen, die schachtelartig die entsetzlichen Ereignisse aus der Perspektive von drei verschiedenen Personen schildern. Die Entstehungsbegingen sind somit als fiktionale Rahmung mit in den Text eingeflossen. Das soll der Geschichte einerseits eine Pseudoauthentizität verleihen, andererseits erweist sie sich mit der obsessiven Beschäftigung alter Schriften und Bücher auch als reine Bibliotheksphantastik. Es handelt sich im Kern um die Recherche und den Vorstoss in eine uralte Mysterien, die man besser hätte ruhen lassen sollen. Ambrose Deward, ein Spross der Familie der Billingtons zieht in das abgelegene Landhaus seiner Vorfahren in den düstern Wäldern nördlich der fiktiven Stadt Arkham in Massachusetts ein und trifft dort nicht nur merkwürdige Gerüchte über das dubiose Treiben seiner Ahnen an - die Rede ist von seltsamen Geräuschen aus dem Wald und zerquetschte Leichen -, sondern er findet auch rätselhafte Aufzeichnungen, auf die er sich primär keinen Reim machen kann. Mehr und mehr wird Deward von der düstern Atmosphäre des Hauses eingenommen, so dass er seinen Cousin zu Hilfe ruft. Dieser findet ihn aber in einem schizophrenen Zustand wieder, der zwischen Hilflosigkeit und Böswilligkeit changiert. Auch wiederholen sich die Ereignisse, die seltsamen Geräusche sind wieder hörbar und neue zermalmte Leichname werden aufgefunden. Der Cousin geht der Vergangenheit des Hauses und des im Wald befindlichen Steinturmes weiter nach und konsultiert deswegen einen Spezialisten namens Dr. Lapham, der ihm schliesslich das schreckliche Geheimnis offenbart, das sich mit Billingtons Anwesen verbindet.

Wie immer bei Lovecraft sind es vorzeitliche, monströse Gottheiten, die "Grossen Alten" genannt, die lange vor der Menschheit, in prähumanen Dimensionen, existierten und periodisch wiederkehren, um die Menschen zu unterjochen, sobald sie rituell angerufen werden. In diesem Fall war es der alte Billington, der zusammen mit einem Priester und einem Indianer, im Steinturm den "grauenhaften Aussenweltlern" ein irdisches Einfallstor geschaffen hatte. Dort öffnete sich periodisch die Türe, damit die Unwesen aus einer Art ausserweltlichem Limbo, einem zeit- und ortlosen "Draussen", in die Lebenswelt eindringen konnten. Darauf bezieht sich der Titel "Das Grauen vor der Tür". Dort, an der Schwelle, lauern die kosmischen Monstren, nur erpicht darauf, die Macht wieder an sich zu reissen. Alle Versatzstücke dieser "grotesken und schrecklichen Mythologie" von dem oktopoiden Cthullu in der versunkenen Stadt R'Leyh bis zum Necronomicon aus der Feder des Arabers Abdul Alhazred, die Lovecraft systematisch entwickelte, werden am Ende des Romans von einem Dr. Lapham in aller Länge und Breite vordoziert, was dem Roman nicht nur einen läppisch didaktischen Charakter verleiht, sondern für eingefleischte Lovecraft-Fans überdies alles andere als überraschend sein dürfte. Der Spannung ist dies mehr als nur abträglich, da von Anbeginn klar ist, welches 'Rätsel' da gelüftet werden soll. Zu allem Überfluss werden alle Lösungsschritte in ermüdender Redundanz vorgetragen.

Auch an den irrsinnigen Sprachexzessen Lovecrafts mangelt es der eher spröden Diktion Derleths  weitgehend, um die phantastische Aussenwelt in all ihren unbegreiflichen Schrecken wirklich plastisch zu gestalten. Hierin zeigt sich auch das wahre Genie von Lovecraft: Nicht auf der Ebene des Plots oder der Geschichte, sondern in der opulenten Sprachmacht, wie er die ewig gleichen Phantasien in stets berauschend neue Worte fassen konnte.

Freitag, 1. November 2024

Hanns Heinz Ewers: Geschichten des Grauens (1907/1908)

Zu Halloween gönnt sich das Lesefrüchtchen ein paar Schauergeschichten aus der Feder von Hanns Heinz Ewers, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein vielgelesener und äusserst produktiver Schriftsteller und Drehbuchautor - z.B. für den Gruselfilm Der Student von Prag (1919) - des damals hoch im Schwange gewesenen Genres der Phantastik war, bevor er in den Nationalsozialismus abglitt. Er gilt als Meister des Makaberen, immer hart an der Grenze zur Geschmacklosigkeit. Mit der kurzen Erzählung Die Tomatensauce verfasste er einen der ersten bekannten Splatter-Texte. Insbesondere seine Romane rund um die Figur von Frank Braun - Zauberlehrling (1909) und Alraune (1911) - erfreuten sich in ihrer Mischung aus Okkultismus, Horrorelementen und lüsterner Erotik grosser Beliebtheit. Das sind auch die Elemente, die weitgehend seine Schauergeschichten auszeichnen, u.a. publiziert in den Bänden mit den sprechenden Titeln Das Grauen. Seltsame Geschichten (1907), Die Besessenen. Seltsame Geschichten (1908) oder Mein Begräbnis und andere seltsamen Geschichten (1917), von denen vier 1972 neu aufgelegt wurden.

Gleich die erste Erzählung vollzieht einen für Ewers typischen Tabubruch, auch für heutige Verhältnisse, erst recht zur damaligen Zeit. Es geht nämlich um Nekrophile, die überdies recht freizügig geschildert wird. Wie ebenfalls typisch für Ewers wird die eigentliche Geschichte erst durch eine längere Rahmenhandlung eingeleitet, in der die historische Situation - die Handlung spielt in einer amerikanischen Ausländer-Siedlung während des Ersten Weltkriegs - und die beteiligten Personen überdetailiert eingeführt werden. Das Hauptpersonal besteht aus Stephe, dem einfältigen Totengräber, und dem niederländischen Hochstapler Jan Olieslager, die zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammenwachsen. Olieslager verhilft Stephe dazu, dass er aus der Armee ausgemustert wird, während Stephe dem Hochstapler im Gebeinhaus auf dem Friedhof, wo er wohnt, Obdach bietet, nachdem dieser aufgeflogen ist. Olieslager hat längst bemerkt, dass sein verschlossener Kumpan ein Geheimnis mit sich herumträgt, und will es auf Teufel komm raus ergründen. Es stellt sich heraus, dass der ansonsten beziehungsunfähige Stephe sich nächtens mit frischen Frauenleichen vergnügt, im Irrglauben, dass sie mit ihm sprechen, ihn liebkosen und beschenken. Nachdem Olieslager seinen Freund zur Beichte gezwungen hat, scheint die Obsession aufzuhören, da verliebt sich Stephe aber in die bildhübsche Gladys Paschiitsch und erwartet seitdem nichts sehnsüchtiger als ihr Tod, der dank einer Seuche, oh Wunder, auch tatsächlich eintritt. Doch das Schicksal meint es nicht gut mit Stephe, denn die heimlich geliebte Gladys soll nicht auf dem Friedhof beerdigt, sondern kremiert werden. Tief in der Seele erschüttert durch diesen 'Liebesverrat' kündigt er seinen Job und ward nicht mehr gesehen.

Die zweite Erzählung ist die schwächste, eher eine tragische Liebesgeschichte als wirklich eine Geschichte des Grauens. Sie steht zu Unrecht in diesem Band. Geschildert wird, wie so oft bei Ewers in der Nacherzählung eines direkt Beteiligten, um die Intensität zu steigern, wie eine junge Frau ihren frisch Verlobten in einer stürmischen Nacht draussen im Wald beim Sterben an einem Schlangenbiss beiwohnt, während er unendliche Qualen leidet. Es heisst, sie hätte in dieser Nacht "in die offene Hölle gesehen", weil ihr Geliebter nicht ganz ohne ihr Verschulden so qualvoll verenden musste. Zuvor hatte sie, um ihn vom Trinken abzuhalten, die Weinflaschen mit Wasser umgefüllt. Gerade die Stärke des Weines hätte ihn, so mutmasst der Erzähler, möglicherweise bei Kräften gehalten, bis der Arzt zu Hilfe kam. Doch er kam zu spät.

Die dritte Erzählung Der Spielkasten ist in Französisch-Indochina angesiedelt. Ewers, der vor dem ersten Weltkrieg Spanien, Mittel- und Südamerika sowie Indien, Südostasien, China und Australien bereiste - liess seine aussereuropäischen Erfahrungen häufig literarisch einfliessen, was ihm erlaubte, die Schrecken in exotische Gefilde und fremde Kulturen zu verlegen. So schildert er in der Erzählung Die Mamaloi in drastischer Genauigkeit das grausame Ritual eines Voodookultes in Haiti, bei dem in kollektiver Ekstase nicht nur Tiere, sondern auch ein Kleinkind geopfert werden. In Der Spielkasten ist es die asiatische Kultur, welche die europäische Leserschaft in Schrecken versetzen soll, wenn bspw. die bestialischen Mordmethoden der "gelben Schweinhunde" geschildert werden, die ihren Opfern mit glühenden Nadeln die Augen ausstechen oder lebende Ratten in die Eingeweide nähen. Doch darum geht es in einer längeren Rahmengeschichte nur am Rande: Im Kern geht es um die Rache des vietnamesischen Herrschers und Philosophen Hong-Dok an einem deutschen Legionär, weil dieser ihm eine seiner neuen Frauen ausgespannt hat. Er rächt sich jedoch nicht aus Eifersucht, sondern aus verletztem Stolz, weil er sich zunächst von den Schmeicheleien des Legionärs täuschen liess, ehe er entdeckte, dass sie bloss Mittel zum Zweck und keineswegs ernst gemeint waren. Dass ihn seine Frau betrügt, mag der dulden; dass er jedoch an der Nase herumgeführt und für dumm verkauft wird, reizt seinen Zorn bis aufs Blut. Er lässt den Legionär mitsamt der Frau kreuzigen, näht ihnen den Mund zu damit sie nicht schreien können und setzt die Gekreuzigten auf einem Floss im krokodilreichen Roten Fluss aus - und lässt das ganze "Drama von Fort Valmy" überdies in einem Spielkasten für die Ewigkeit nachbilden.

Die vierte Geschichte handelt vom Grafen Vincenz d'Ault-Onival und seiner unverständlich tragischen Liebe zu Stanislawa d'Asp, einer heruntergekommen, total verruchten Hure, die ihn keines Blickes würdigt, ja ihn vielmehr verspottet und beleidigt und jede seiner hehren Liebesbezeugungen auf entehrende Weise in den Schmutz zieht. Erst als die Dirne aufgrund ihres lasterhaften Lebenswandels an Schwindsucht zu sterben droht, willigt sie in die Beziehung zum Grafen ein, der sie auf diverse Kuraufenthalte mitnimmt und somit nicht nur für ihre Genesung, sondern auch für ein besseres Leben sorgt. Während der Graf in der Beziehung seine Erfüllung findet, stellt sie für Stanislawa nurmehr eine willkommene, eigennützige Gelegenheit dar: "Und als sie dann anfing zu lieben - und als sie liebt - - liebte sie doch nicht ihn, sondern nur seine grosse Liebe." Mit anderen Worten: Sie nutzt des Grafen Gefühle nach Strich und Faden aus, quält ihn weiterhin seelisch und hintergeht in sogar mit einem seiner Freunde. Doch nichts vermag die grosse Liebe des Grafen zu erschüttern, weshalb Stanislawa eine letzte Perfidie ersinnt. Kurz vor ihrem Tod lässt sich zur Katholiken taufen, um dem streng gläubigen Grafen das Gelübde abzunehmen, ihr letzter Wille wortgetreu zu erfüllen, der darin besteht, dass ihre Gebeine drei Jahre nach dem Tod in einer Urne der Familienkapelle beigesetzt werden. Da dieser Wunsch nicht aussergewöhnlich ist, weil er der Tradition entspricht, wundert sich der Graf, weshalb sie ihn darauf beim Glauben schwören liess. Erst als er nach drei Jahren das Grab ausheben lässt, erkennt er schlagartig den Grund: Stanislawa hat ihren toten Körper konservieren lassen, so dass er auch nach drei Jahren keineswegs verweste, sondern in strahlender Schönheit vor ihm liegt. Um ihren letzten Willen zu erfüllen, sieht sich der Graf also gezwungen, den bezaubernden Leichnam eigenhändig zu zerstückeln, damit er in die Urne passt. Mit wahnsinnigem, übergeschnapptem Gelächter macht er sich ans grausame Werk, an die letzte Demütigung, die ihm Stanislawa post mortem zugedacht hat. Und auch sie lacht ihn noch vom Grab heraus aus. 

Mittwoch, 30. Oktober 2024

Michelle Steinbeck: Favorita (2024)

Wie reagiert man, wenn man vom Tod der eigenen Mutter erfährt? Mersault bei Albert Camus vergiesst keine Träne, vielmehr nimmt er mit grosser Gleichgültigkeit an der Beerdigung teil. Auch die Ich-Erzählerin von Michelle Steinbecks neuem Roman nickt zuerst emotionlos, als ihr ein anonymer Anruf aus einem italienischen Spital mitteilt, ihre Mutter sei nicht nur verstorben, sondern ermordet worden. "Nun bin ich sie endgültig losgeworden", lautet der erste lapidare Gedanke der Tochter. Schon bald aber begibt sie sich, leidend an ihrer Herkunftslosigkeit, auf die Spuren der Mutter Magdalena, die für sie, da zu Lebzeiten ständig abwesend, nicht mehr als ein Phantom war, und damit auch auf in eine unbekannte Vergangenheit. Während der Reise nach Rom, erfahren wir in verschiedenen Rückblenden, wer Magdalena war und weshalb es zur Entfremdung zwischen ihr und ihrer Tochter Filippa gekommen ist, die hauptsächlich bei der Grossmutter aufgewachsen ist, nachdem der alkoholkranken Mutter das Sorgerecht entzogen wurde.

Wie sich herausstellt war Magdalena nicht nur eine notorische Trinkerin, sondern auch eine Prostituierte, bekannt unter ihrem, wenn man so will, 'Künstlernamen' Favorita. Nachdem Filippa die Ich-Erzählerin, die Asche ihrer Mutter im Spital abgeholt hat, stösst sie in der "Strasse der Frauen" per Zufall zu einer Gruppe von Prostituierten, der früher auch Favorita angehörte. Sie haben sich in einer stillgelegten Salamifabrik einquartiert , um dort als moderne Hexen eine Bastion gegen das Patriachat einzurichten, von dem sie ausgebeutet und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Sorella, eine von ihnen, hat in einem als Diorama umfunktionierten Teleskop ein "Archiv der getöteten Frauen" angelegt, das alle Fälle von Femizid registriert. Der weibliche Körper ist nicht nur Projektionsfläche männlicher Lust, sondern oft auch Zielscheibe der Gewalt. Wie Filippa erfahren muss, wurde auch ihre Mutter offenbar von einem Kerl namens "Coach" ermordet. Sie schliesst sich dem revolutionären Aufbau der prostituierten Widerstandskämpferinnen an, verliert aber bei einer Räumungsaktion der Polizei das Bewusstsein - und wacht im Auto eines gewissen Lorenzo, der sich als Zögling eben jenes "Coach" erweist. 

Hier am Kulminationspunkt des Spannungsbogens schiebt sich als grosse Binnenerzählung die "Geschichte der schönen Sisna" dazwischen: in Form einer Kriminal- und Geistergeschichte. Filippa gelangt mit Lorenzo zu einem Landhaus am Rande eines Bauerndorfes, wo sie zusammen mit ihm alles für die Gesellschaft des Coach vorbereiten soll, eine Gruppe von Faschisten, die in ein paar Tagen erwartet wird. Sie schürt Rachephantasien und plant, am Coach für den Tod ihrer Mutter Vergeltung zu üben, deren sterbliche Überreste sie in der Urne auf Schritt und Tritt begleiten. Zugleich erfährt sie, dass es im Haus spuken soll und sie entdeckt ein Heft mit Zeitungsartikeln über den spektakulären Prozess um Sisina, ein Mädchen, das am Tag vor ihrer Heirat im Wald ermordet, der Täter jedoch nie erfasst wurde. Die Tote erscheint der Ich-Erzählerin mehrfach als Geist, hält mit ihr Zwiesprache und gemeinsam schieden sie ein Rachekomplott. Im Schicksal Sisinas erkennt die Erzählerin etliche Parallelen zum Fall ihrer Mutter und beschliesst, nicht nur ihren Tod, sondern auch den Sisinas zu sühnen. In einem überbordenden Showdown kommen auch die prostituierten Rebellinnen zu Hilfe und sprengen die faschistische Versammlung auseinander. Danach eilen sie mit allen Geistern auf den Friedhof, wo ein frisches Grab für Favorita ausgehoben ist. Als die Urne beigelegt werden soll, erschüttert eine Explosion die Atmosphäre und die Asche verstreut sich in die Lüfte.

Der Roman ist durchgängig aus der Ichperspektive im Präsens erzählt, wovon in epischen Texten häufig abgeraten wird, weil es erzähllogisch kaum aufgeht, hier aber gerade die Grauzone zwischen Erlebtem und Geträumten, zwischen Wirklichkeit und Vision auf besonders eindringliche Weise ausloten kann. Der Roman trägt eindeutig phantastische Züge, zugleich behandelt er auf erfrischend unverkrampfte Weise aktuelle Zeitfragen zur toxischen Männlichkeit, zu neofaschistischen Strömungen, zum komplexen Verhältnis zwischen Begehren, Macht und Gewalt. Gerade in der Figur der als moderne Hexen auftretenden Prostituierten manifestiert sich die Spirale zwischen sexueller Dominanz und sexueller Ausbeutung der Frauen. Semantisch hervorgehoben wird dieser Zusammenhang im Begriff des "fegare", der ursprünglich "fegen" bedeutete, heute im Italienischen aber nur noch im Sinne von "ficken" Verwendung findet, was im Roman zu einem komischen Missverständnis führt, das dann symbolisch potenziert wird. In dieser Vokabel kulminiert die Grundproblematik des Romans: das Kausalverhältnis zwischen Domestizierung zur Hausfrau, Degradierung zum Lustobjekt und Femizid, also der Verachtung und Beseitigung ('Säuberung') der Frau, sobald sie sich gegen den Rollenzwang auflehnt.

Der Autorin ist ein gewaltiger Wurf gelungen, der man ihr nach dem surreal versponnenen Debut in dieser erzählerischen Wucht und dieser epischen Breite auf Anhieb nicht zugetraut hätte. Eine fulminante, handlungsstarke, zuweilen auch - wenn man etwa daran denkt, dass die Protagonisten ständig mit der Urne ihrer Mutter unterwegs ist - absurd komische Abenteuer- und Rache-Geschichte mit gehörig narrativem Drive, der sich ganz in den Dienst der Geschichte stellt, aber nie schablonenhaft oder abgedroschen wirkt - im Gegenteil: eine souveräne Erzählstimme installiert, die zuweilen sogar mit originellen Sprachschöpfungen aufwartet, z. B. "Mein Herz spechtet" (könnte auch von Arno Schmidt stammen), "So karachen wir kiesspritzend zur Villa" oder "Er lächelt, aber seine Augen sind Brunnenlöcher", wobei die Brunnenlöcher nicht nur das Leere und gleichsam Abgründige symbolisieren, sondern faktisch auch den Tatort widerspiegeln. Eine Metapher als äussert verdichtetes Zentrum. Für das Lesefrüchtchen ist Favorita klar die Favoritin für den diesjährigen Schweizer Buchpreis. Der Roman steht auf der Shortlist.

Donnerstag, 24. Oktober 2024

Mara Genschel: Midlife-Prosa. Performative Erzählungen (2024)

"Performativ" - das war einmal ein Lieblingsausdruck der Literaturwissenschaften. Wann immer ein Text genau das vollzog, wovon er auch handelte, dann nannte man das "performativ", und vor allem in der Postmoderne erfreuten sich alle an performativen Texten. Das Lesefrüchtchen mag sich noch an ein Seminar über Thomas Bernhard erinnern, wo die Dozentin in heller Entzückung darauf hingewiesen hat, dass die Passage in der Erzählung Gehen, in der unzählige Male der Ausdruck "schüttere Stelle" wiederholt wird, selbst zur schütteren Stelle des Textes wird. Voilà, performativ, quod erat demonstrandum. Ach ja, auch an sog. "performativen Widersprüchen" hatten alle ihre helle Freude, was genau das Umgekehrte meint, wenn der Text das Gegenteil dessen vollzieht, was er aussagt.

Mara Genschel wäre nicht Mara Genschel - ja, die mit dem Schnauzer -, wenn sie diese Performativität in ihrer "Midlife-Prosa" (allein schon der grossartige Titel!) selbst wieder performativ unterläuft bzw. überbietet, indem sie sie allzu wörtlich nimmt. Der Untertitel "performative Erzählung" muss also auch mit ironischem Vorzeichen gelesen werden. Alle versammelten Erzählungen drehen sich nämlich bloss um sich selbst. Performativ eben. Und selbst das reflektieren sie noch performativ in Bezug auf die Autorin: "Manches Mal schien es mir jedenfalls, als sei ihre schiere, potentielle Beobachtbarkeit der einzige Inhalt ihres schriftstellerischen Tuns." Die Erzählungen haben nichts anderes als sich selbst zum Inhalt. Besonders deutlich zeigt sich das im ersten Text, der - und das ist nach so vielen Prosatexten aus der Perspektive von Tieren oder Gegenständen nun doch ein genialer Einfall - von ihm selbst verfasst ist. Gab es das schon einmal? Ich glaube nicht.

Der Text erzählt sich sozusagen selbst, respektive äussert er sich vielmehr ziemlich mokant über seine Autorin, über ihr Aussehen, ihr Parfüm, ihre literarischen Ambitionen, da sie zum Prokrastinieren neigt und eher alles andere macht, als sich ans Werk zu setzen, und ihn, den Text, endlich zu schreiben. Worauf sie letztlich aber verzichtet und der Text so "sein schaurig offenes Ende" findet. Ähnliche gescheiterte Schreibprozesse führen - performativ, was sonst - auch die anderen Texte vor: Umständliche Vorbereitungen zu sieben Lesungen, die dann aber nicht gehalten werden; der erfolglose Neuansatz für das Verfassen eines Drehbuchs; Skizzen zu einer grossen Rede; ein sich selbstzersetzendes Anagramm usw. Und am Schluss die performative Volte schlechthin: die Kapitulation der Autorin bei der Niederschrift des eben gelesenen Buchs in Form eines Emailwechsels mit ihren Verlegern Urs und Christian.

Das klingt nun vielleicht wahnsinnig anstrengend, verschwurbelt und dekonstruktiv, bietet aber fast durchwegs eine höchst amüsante Lektüre, weil die Autorin ihr Handwerk souverän beherrscht und offenbar grossen Spass beim Schreiben hatte, der sich auf die Lesenden überträgt. Alle diese Anti-Erzählungen sind ungemein schlau, witzig, schräg, und in keiner Sekunde langweilig, obwohl die performativen Texte von eigentlich nichts anderem als von sich selbst und ihrem (Nicht-)Geschriebensein handeln. Doch versteht es die Autorin gekonnt verschiedene Register zu ziehen und gleichsam auch zu parodieren, egal ob es sich um neomodischen Jargon, die Unwägbarkeiten der SMS-Kommunikation oder die hochtrabenden Diktion von Ansprachen handelt. Die Freude am spielerischen Umgang mit den Worten ist den Texten ebenso anzumerken wie die hohe Stilsicherheit in allen Belangen. 

"Midlife-Prosa" ist Literatur auf der Höhe ihrer Möglichkeiten, weil es nicht um Weltbeschreibung geht, nicht darum 'etwas in Worte zu fassen', sondern aus der Sprache heraus etwas entstehen zu lassen. Und das gelingt der Autorin mit fast traumwandlerischer Sicherheit, egal wie scheinbar banal oder abstrus der Inhalt auch sein oder anmuten mag. Zum Vergleich die im letzten Post besprochene "Hasenprosa" von Maren Kames, deren Unbeholfenheit nun noch stärker hervortritt. Im Prinzip handelt es sich in beiden Fällen um sogenannt 'experimentelle' Texte; und gemeinsam ist ihnen überdies, dass es sich um Metatexte handelt, die den Schreibprozess und dessen Krisen mitreflektieren. Während sich aber die "Hasenprosa" in ihrer mäandernden Geschwätzigkeit verliert und irgendwie doch noch einen (biographischen) Plot einzuholen versucht, bietet die "Midlife-Prosa" konzis gearbeitete Miniaturen, die trotz ihrer Unberechenbarkeit an keiner Stelle beliebig wirken. Ganz abgesehen davon, dass ein Titel wie "Midlife-Prosa" für ein Buch über Schreibkrisen um einiges pfiffiger ist.

Warum stehen solche Bücher nie auf irgendeiner Shortlist? 

Samstag, 12. Oktober 2024

Maren Kames: Hasenprosa (2024)

Das Lesefrüchtchen tummelt sich mit Vorliebe in der literarischen Vergangenheit. Doch anlässlich der Vergabe diesjähriger Buchpreise ist es an der Zeit, sich sporadisch wieder einmal in der Gegenwartsliteratur umzusehen. Aus der Shortlist des Deutschen Buchpreises, der am kommenden Montag vergeben wird, hat es sich die "Hasenprosa" von Maren Kames ausgesucht. Was lässt der auffällige Titel wohl erwarten? Der Hase ist bekannt für seine Haken, die er schlägt. Ist diese Prosa ähnlich sprunghaft? Im 18. Jahrhundert hat Jean Paul - unter seinem Pseudonym "Hasus" - bereits einmal die "Hasensprünge" als Metapher für seinen Ideenkombinatorik und den daraus resultierenden witzig-assoziativen Schreibstil verwendet. Mit dieser Referenz auf Jean Paul liegt das Lesefrüchtchen nicht ganz unrichtig, denn tatsächlich handelt es sich bei der "Hasenprosa" um pure "Assoziationsprosa", allerdings um eine ganz anderes gelagerte als bei Jean Paul: Wo sich bei ihm das Assoziationsmaterial in neuem Witz und Sinn entzünden, bleiben hier die assoziierten Versatzstücke disparat.

Die andere literarische Referenz, die sich aufdrängt, ist Alice im Wunderland. Die Ich-Erzählerin fällt zwar nicht durch einen langen Tunnel ins Erdinnere, dafür durch ein Dach auf ein Feld, wo ihr ein Hase begegnet, der sie fortan als eine Art Totemtier oder Power Animal auf eine imaginäre Reise in die Tiefe ihres Herzens, die eigene Vergangenheit und noch weiter in eine vorsintflutliche Urzeit und hinaus ins All mitnimmt. Das Buch beginnt damit eigentlich vielversprechend mit einem fast surreal anmutenden Auftakt und einer temporeichen Sprache, die einem Feingefühl für klangliche Assonanzen verrät, die - bei einem Hasenroman wohl nicht zufällig - häufig um den Vokal a kreisen: "es bangte und knackte schon lang, dann barst es, ich krachte". Hier fügt sich noch alles zu einer zwingend dichten Prosa, die sich dann aber, je länger der Schreibstrom anwächst, ins Unbestimmte verliert. Da hilft es auch nichts, wenn die Rat- und Orientierungslosigkeit mitunter metathematisch wird, etwa wenn der Hase sich zum "Dirigenten deiner Unbrauchbarkeiten und Leidenschaften" erklärt. Auf die Dauer erschöpft sich auch die demonstrativ in Szene gesetzte Sprachvirtuosität, deren Manierismen zuweilen ähnlich aufgesetzt wirken wie die Geschichte mit dem allwissenden Hasen, der die Autorin auf ihrer Sinnsuche begleitet. Sie findet ihn, so viel sei verraten, aber ebenso wenig wie die geneigte Leserin ...

Das Problem des Buchs - als "Roman" kann man es schwerlich bezeichnen - ist seine Beliebigkeit. Die Sprunghaftigkeit ist Programm, denn es wird kaum erzählt, stattdessen mehrheitlich aufgezählt. Eine solche Enumeratio hat seit Homers berühmtem Schiffskatalog selbstredend literarische Tradition, allein hier fehlt der epische Bezug. Es werden reihenweise originelle Formulierungen, Gedanken, Kindheitserinnerungen, Beobachtungen, wikipedisches Fachwissen und Kommentare zum "frei drehenden Ereignisrad der Ultragegenwart" aufgetischt, viel und ausgiebig Literatur und Songtexte anzitiert und jede Menge Namedropping betrieben ohne ersichtlichen inneren Zusammenhang. Was den kunterbunten Mix als Gravitationszentrum einzig verbindet, ist das Ich der Autorin, die in diesem Text offenbar auch eine Art Schreib- oder gar Lebenskrise verarbeitet. Dabei breitet sie Bilder, Lieder, Texte, die ihr offenbar etwas bedeuten, vor der Leserschaft aus, ohne ihnen aber selbst Bedeutung zu verleihen. Für einen solchen Sinngebungsprozess reicht es einfach nicht aus, wenn sich Sätze wie Songs auf einer Playlist aneinanderreihen. Insofern ist eine Liedzeile der als Motto vorangestellten Band International Music durchaus zutreffend: "Für alles kennst du Wörter, die beschreiben, was du siehst | Für alles andere fehlt das Repertoire."

Die Autorin als DJane? Das Buch als Playlist? Was eigentlich eine innovative Idee sein könnte, fällt enttäuschend aus. Aus dem selben Grund: Auch die Verknüpfung von Text, Bild und Musik gelangt nicht über Willkür hinaus. Willkür wohlverstanden für die Lesenden, für die Autorin mögen die ausgewählten Songs, Bilder und Privatfotos vermutlich sogar eine emotionale oder existentielle Bedeutung und sie beim Schreiben beeinflusst haben, nur entzieht sich dieses Moment der Lektüre. Das versammelte Sprach-, Ton- und Bildmaterial transformiert sich an keiner Stelle in Literatur. Es bleibt, was es ist: Vorzeigematerial. Es geht der Autorin gar nicht ums Mit-Teilen, lediglich ums Teilen. Sie zeigt her, was ihr gehört oder gefällt - und auch was sie sprachlich alles kann. Das ist schön und recht, aber braucht es dafür einen Roman? Wenn die Literatur nicht mehr vermag, als sich über eine Ansammlung von Posts und Likes zu definieren, dann macht sie sich selbst überflüssig. Oder ist wenigstens symptomatisch für ihr Zeitalter. Es lohnt sich deshalb eher, die zitierten Songs direkt anzuhören. Als Playlist funktioniert die "Hasenprosa" bestens - und die Autorin beweist über verschiedene Stile hinweg einen sicheren Musikgeschmack. Grandios ist auch ihre Beschreibung von Princes Live-Auftritt 1985 in Syrakus. Doch weshalb steht das nochmals im Buch? Ähm ...

Eine andere tolle Stelle im Buch soll schliesslich auch noch hervorgehoben werden, weniger aus literarischer Hinsicht, sondern weil es sich um ein korrektes Statement handelt. Es ist jene, in der sich die Autorin über den Irrsinn von Lesereisen und Literaturevents beklagt, nachdem der Hase zurecht danach gefragt hat: "Wieso liest man dann nicht einfach still vor sich hin und alle bleiben zuhause?" Das ist fürwahr eine absolut berechtigte Hasenfrage, die als entferntes Echo auch an Blaise Pascals berühmten Ausspruch erinnert: "Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen." Den ganzen Literaturzirkus kann man sich tatsächlich schenken, wenn alle zufrieden zuhause lesen würden. Sollte Maren Kames den Buchpreis erhalten, dürfte das rasch unangenehm für sie werden, denn dann wird sie unweigerlich vom Räderwerk der literarischen Eventitis erfasst. Es ist der Autorin deshalb nicht zu wünschen.