Donnerstag, 4. April 2024

Umberto Eco: Der Friedhof in Prag (2010)

Umberto Eco schrieb dicke historische Wälzer bevorzugt zu Themen, mit denen sich der 2016 verstorbene Semiotiker und Philosophieprofessor aus Bologna auch wissenschaftlich auseinandersetzte. In einem seinem letzten umfangreichen Roman sind dies die notorischen «Protokolle der Weisen von Zion», ein aus verschiedenen literarischen Vorlagen zusammengeschustertes antisemitisches Machwerk, das um 1900 zu Propagandazwecken entstanden ist, aber bis heute als vermeintlich glaubwürdiges Dokument einer jüdischen Weltverschwörung zirkuliert, obschon es bereits seit 1922 erwiesenermassen als Fälschung entlarvt wurde. Auch Eco hat zu den Protokollen geforscht und ihre betrügerische Machart offengelegt und ist dabei auf vorher unbeachtete Quellen aus dem französischen Roman feuilleton des 19. Jahrhunderts gestossen, die indirekt in die Protokolle eingeflossen sind. Zum einen eine Szene aus Eugène Sues Roman Le juif errant, der in den Jahren 1844 bis 1845 in der linksgerichteten Zeitung Le Constitutionnel erschienen ist, sowie eine Verschwörungsszene aus Alexandre Dumas’ Cagliostro-Roman Joseph Balsamo von 1849. Die dort geschilderte Geheimversammlung auf dem Donnerberg im Vorfeld der französischen Revolution übernimmt der deutsche Schriftsteller Hermann Gödsche relativ unverstellt für seinen Historienschinken Biarritz, der 1868 unter dem Pseudonym Sir John Ratcliffe erscheint. Der einzige Unterschied: Der Treffpunkt der Verschwörung wird in den Friedhof nach Prag beim Grab von Rabbi Löw verlagert und die Gruppe der Konspiranten konstituiert sich nunmehr durch die zwölf Stämme Israels. Diese Schilderung wiederum bildete die Steilvorlage für die Protokolle, welche die fiktionale Darstellung als real vorgeben.

Und dieselbe Friedhofs-Szene gibt schliesslich nicht nur Ecos Roman den Titel, sondern figuriert dort auch als Schlüsselstelle, die in beliebiger Variation Verwendung für ein konspiratives Rahmennarrativ finden kann. Sie ist quasi die Mutter aller Verschwörungstheorien. In epischer Breite erzählt Eco die Entstehungsgeschichte der «Protokolle der Weisen von Zion», wobei die meisten Ereignisse den historischen Tatsachen entsprechen und auch die auftretenden Figuren hauptsächlich auf realen Vorbildern beruhen. Es ist ein Stelldichein einschlägiger Namen aus Politik, Literatur und Religion des 19. Jahrhunderts. Neben den schon erwähnten Alexandre Dumas und Hermann Gödsche treten weitere Figuren auf wie der Pamphletist Maurice Joly, der Kriminalist Eugène François Vidocq, dem Fake-Journalisten Leo Taxil, der einem Komplott zum Opfer gefallenen Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus, der britische Staatsmann Benjamin Disraeli, der italienische Freiheitskämpfer Guiseppe Garibaldi und nicht zuletzt ein gewisser, kokainabhängiger Dr. Froïde, hinter dem unschwer Sigmund Freud erkennbar ist. In einem Punkt jedoch weicht Ecos historisch fundierter und detailreich ausgemalter Roman eklatant von der geschichtlichen Ebene ab: die Hauptfigur, Simon Simonini, ist komplett erfunden. Mit ihr installiert Eco gewissermassen eine Universalcharakter aller Fälscher und Intriganten – und die Pointe ist tatsächlich, dass Simonini bei allen nennenswerten Rankünen im Europa des 19. Jahrhunderts seine Finger mit im Spiel hatte und nicht zuletzt auch auf die Entstehung der «Protokolle» seinen entscheidenden Einfluss ausübte. Simonini dient Eco als literarischer Erklärungsversuch, wie sich eine unheilvolle Idee in verschiedenen Kontexten ausbreiten und sich schliesslich als vermeintliche Wahrheit in den Köpfen festsetzen konnte.

Dieser Simonini ist eine besonders ruch- und skrupel- und darüber hinaus auch empathielose Figur, die sich durch Betrug und Verrat seinen Wohlstand erwirtschaftet hat. Ein Opportunist, der für seinen Vorteil über Leichen geht. Seine Enthaltsamkeit in venerischen Freuden kompensiert er durch lukullische Genüsse – immer wieder sind entlang des Romans verlockende Rezeptbeschreibung eingestreut. Eine einzige Frau entzückte ihn in seinem Leben, allerdings nur in der Phantasie, aber immerhin so sehr, dass sie er ihr nacheifern wollte: In jungen Jahren hörte er von Babette von Interlaken*, eine mit allen Wassern gewaschene kommunistische Agentin, die vor keiner Schandtat zurückschreckte. Sie erschein ihm sodann «als Modell zur Nachahmung» in seinen Träumen. Als Kind wuchs Simonini hauptsächlich bei seinem Grossvater auf, der sich mit seinem abgrundtiefen Antisemitismus nicht hinter dem Berg hält. Im Gegenteil machte dieser die Juden bereits für all das verantwortlich, was ihnen später auch in den «Protokollen» angelastet wird. Aus einem anonymen Brief, den sein Vater einem Abbé Barruel schreibt, um ihn vor den «perfiden Plänen des jüdischen Volkes» zu warnen, die er angeblich im Turner Ghetto «mit eigenen Ohren gehört habe», und den Kolportageromanen seiner Jugendlektüre entnimmt Simonini später die Versatzstücke für sein konspiratives Paradenarrativ auf dem Prager Friedhof, das er je nach Bedarf auf unterschiedliche Bereiche und Personen anwenden kann, wie es gerade in die politische Agenda passt. Und auf diese Erfindung ist er mächtig stolz, so dass er es am Ende es fast bedauert, sie an die Russen verkauft zu haben: «Seit meiner Jugend habe ich mir gleichsam Stein für Stein meinen Prager Friedhof aufgebaut, und nun ist es, als hätte Golowinsky ihn mir geraubt. Wer weiß, was die in Moskau daraus machen.» Heute wissen wir es: Die Protokolle der Weisen von Zion.

Eco hat hier zweifellos einen Stoff literarisch umgesetzt, der nicht arm an Faszinationskraft ist: Verschwörungen, politische Intrigen und Morde, Fälscher, Geheimgesellschaften und schwarze Messen. Und hier liegt vielleicht das Problem des Romans: Die Geschichte an sich wäre spannend genug, so dass eine Literarisierung reichlich aufgesetzt wirkt und man sich in der Tat einige langatmige Passagen, die die Ereignisse mit narrativem Firlefanz ausstatten, gerne sparen würde. Vor allem aber überzeugt die Rahmenhandlung am wenigsten: Eco kleidet seinen Roman in eine Art Dr. Jeckyll und Mister Hyde-Setting. Simonini, der sich zeitlebens gerne verkleidete und in fremde Rollen schlüpfte, leidet an einer akuten schizoiden Spaltung, hervorgerufen durch einen Doppelmord, den sein Bewusstsein zu verdrängen sucht. Nach dem Modell von Freuds talking cure versucht er sich einer Art writing cure, um mittels Tagebuchschreiben den im Gedächtnis verschütteten Ereignissen und seiner Identität wieder auf die Spur zu kommen. Wechselweise greifen Simonini und sein Alter Ego, der mysteriöse Abbé Dalla Piccola, ohne voneinander zu wissen zur Feder. Von Anbeginn ist jedoch absehbar, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Die Rahmenfiktion trägt also nicht wesentlich zur Spannung bei, ganz abgesehen davon wirkt sie auch reichlich konstruiert und kaum plausibel. Solche Mätzchen hätte der Roman auch gar nicht nötig, der vielmehr durch die episch breite Schilderung der dunkeln Seite des 19. Jahrhunderts besticht, das besonders geprägt war durch Obskurantismus und Okkultismus – man denke nur an Joris-Karl Huysman, Madame Blavatsky oder Eliphas Lévi, die allesamt auch Erwähnung finden. Erst ganz zum Schluss des Romans blitzt durch die Nennung von Marcel Proust und Eduard Monet kurz der Horizont der Moderne auf, der von Simonini freilich noch nicht als solcher erkannt wird, wenn er Proust schlicht als «fünfundzwanzigjährigen Päderasten» und Monet als «Farbenkleckser» herabwürdigt.


* Wie Simonini selbst ist auch diese Babette eine Erfindung, jedoch keine von Eco, sondern von Antonio Brescani, aus dessen heute zurecht vergessenem Roman Der Jude von Verona (1863) er sie entlehnteMehr noch übernimmt Eco die Beschreibung quasi im Wortlaut vom Original und führt damit performativ die eklektisch-plagiatorischen Techniken der Dokumentenfälscher vor, die sich schamlos bei der Trivialliteratur bedienen, um vermeintlich historische Tatsachen zu belegen. In der deutschen Übersetzung lautet die Stelle, die sich fast identisch bei Eco wiederfindet:
„Es war die berüchtigte Babette von Interlaken, die würdige Urenkelin von Weißhaupt, welche der Pfarrer Weyermann die große Jungfrau des schweizerischen Communismus nannte. Man wußte nicht, woher sie stammte, und von Kindheit an diente sie bei den Freicorps als Kellnerin einer Marketenderin; sie hatte stets Trunkenheit, Diebstahl und Ausschweifung vor Augen, wuchs in dieser Gesellschaft auf und lernte Gott nur durch die Flüche kennen, welche sie fortwährend hörte. In den Scharmützeln bei Luzern, wenn die Freischaaren irgend einen Katholiken aus den Urkantonen getödtet hatten, ließen sie ihm Babette das Herz oder die Augen oder die Eingeweide ausreißen, und im Triumphe dahertragen, wofür sie dann einen Batzen und ein Glas Kirschwascher [sic] bekam.
Nach dem 28. August 1846 aber, wo Ochsenbein, Funk, Stockmar und Consorten zu Magistraten des Cantons Bern gewählt wurden, ward Babette der treueste Herold zwischen ihnen und die geheimen Gesellschaften, der Agathodämon aller Ränke, Schliche und Umtriebe der geheimnisvollen Clubs; sie erschien unversehens überall, und verschwand ebenso rasch, gleich einem Kobold; sie kannte undurchdringliche Geheimnisse, stahl diplomatische Depeschen ohne die Siegel zu verletzen, drang wie eine Natter in das Innerste der Cabinette von Wien, Berlin und selbst von Petersburg. Sie machte Wechsel nach, fälschte Pässe und schon als Mädchen, wo sie in die Schule ging, kannte sie die Kunst der Gifte und wußte sie zu mischen, je nachdem der Geheimbund es anordnete; sie fluchte wie ein Radicaler, trank wie ein Aargauer, rauchte wie ein Türke, handhabte die Büchse wie ein Schütze und den Dolch wie ein Fechtmeister; es war als wäre sie vom Teufel besessen, so stark waren ihre Fibern und so kräftig ihr Arm, ihr Blick hatte etwas zauberartig Fesselndes und in ihren Zügen lag, wenn sie zornig wurde oder Einem drohte, Kühnheit, Verwegenheit und Stolz.“ (Der Jude von Verona. Historischer Roman aus den Jahren 1846 bis 1849. 2. verb. Aufl. Schaffhausen: Hurter’sche Buchhandlung 1957, Bd. 1, S, 171 f.)

Sonntag, 24. März 2024

Herbert Clyde Lewis: Gentleman über Bord (1937)

Herbert Clyde Lewis hat sich für seinen Protagonisten ein parabelhaftes Setting ausgedacht: Wie reagiert ein Mensch in einer ausweglosen Situation? Wie sieht er dem sicheren Tod ins Auge? In Gentleman über Bord geschieht dies auf eine denkbar läppische Weise: Mit einer Art Slapstick-Einlage wird Henry Preston Standish vom Dampfer Arabella ins offene Meer befördert. Er rutscht an der Reling auf einem Ölfleck aus und fällt kopfüber ins Wasser. Dort schämt er sich zunächst und zutiefst über sein tölpelhaftes Missgeschick, bevor der den letalen Ernst der Situation wirklich begreift.

Der Name des Protagonisten ist halbwegs sprechend: Standish deutet auf seine gesellschaftlichen Stand hin, er ist erfolgreicher Börsenmakler mit Frau und zwei Kindern, sowie auf seine Standhaftigkeit, auf die er sich zwar viel einbildet, die aber durch seinen Sturz radikal in Frage gestellt wird, genauso wie sein Standesbewusstsein. Denn was Standish nach seinem Sturz vor allem plagt ist die kaum standesgerechte Lage, in der sich befindet: Seine Gedanken sind "mehr mit Scham als mit Angst besetzt. Männer vom Schlage Henry Preston Standishs stürzten nicht einfach so vom Schiff mitten in den Ozean."

Aber ein Standish gibt nicht so rasch auf, er will unbedingt als Held aus dieser Geschichte hervorgehen. Deshalb beruhigt es ihn vorderhand, dass sein Leben nicht vor seinen Augen vorbeizeiht, wie es in oft floskelhafter Wendung in Romanen heisst, wenn vom Sterben die Rede ist. Tatsächlich kreisen Standishs Gedanken vielmehr um die Zukunft. Er imaginiert sich, wie er seiner Frau und den Kindern später von seinem Abenteuer erzählt, dabei seine Furchtlosigkeit und Durchhaltewillen rühmt. Diese Phantasien lassen selbst dann nicht vollends nach, als Standish erkennen muss, dass er rettungslos verloren ist. Noch in der Todesstunde glaubt er, er "würde auf ewig zum Übermenschen werden"! Tragischer kann sich ein Mensch existenziell nicht verfehlen.

Doch im Laufe der über 13 Stunden einsam und allein auf hoher See - Standish wähnt sich als "der letzte Mensch" auf Erden -, sieht er sich gezwungen, seine Standesallüren sukzessive abstreifen, sowohl im übertragenen als auch im tatsächlichen Sinn, wenn er sich seiner Kleidung entledigt und damit auch seine falsche Überzeugung über Bord wirft, das "Anstandsgefühl eines Mannes" sei "genauso wichtig wie sein Leben". Während er sich zunächst unnötig Gedanken macht, was die Passagiere an Bord der Arabella wohl von ihm halten, wenn er in blau-gelben Sporthosen aus dem Meer gefischt wird, zieht er sich schliesslich bis aufs letzte Hemd aus, damit er sich weiter über Wasser halten kann.

Ironischerweise wird auf dem Schiff das Fehlen von Standish lange nicht bemerkt und als es soweit ist, glauben alle sofort an Selbstmord. Vielleicht ist das, indirekt gedacht, sogar wahr. Denn Standish begab sich auf die Schiffsreise, weil er von einem Tag auf den anderen aus seinem oberflächlich besehen zwar perfekten, aber bis zum Ennui gleichförmigen und interesselosen Leben ausbrach und Frau, Familie und Job hinter sich liess. Standish spricht selbst von der "Krankheit der vollständigen Negation", die ihn erfasst habe. Er war zutiefst lebensmüde. Da ist es fast schon eine natürliche Folge bzw. entspricht es einer höheren Logik, wenn er (sich) eines Tages nolens volens von der Reling stürzt.

Es ist kein Drama, auch keine Tragödie, was uns Herbert Clyde Lewis vor Augen führt, obwohl er die verschiedenen Phasen des Untergangs - von Zuversicht über Galgenhumor und Verzweiflung bis zu Hysterie und Wahnvorstellungen - eindrücklich schildert, es ist ein Lehrstück: Mit Standish wirft Lewis auch die Leserschaft ins kalte Wasser mit der Frage: Was macht Euer Leben lebenswert? Eine Frage, die sich im Alltag selten stellt, in einer ausweglosen Situation jedoch umso dringlicher. Zu spät erkennt Standish, dass er eigentlich gar nie richtig gelebt, sondern sich zeitlebens als gesellschaftliche Larve bewegt hat, was vielleicht anders gewesen wäre, wenn er sein Leben vom Ende her gedacht hätte. 

Sonntag, 17. März 2024

Ror Wolf: Fortsetzung des Berichts (1964)

Weshalb heisst das Buch «Fortsetzung des Berichts»? Weil es dort beginnt, wo es aufhört, und dort endet, wo es wieder anfängt, sich also beliebig fortsetzt. Wie eine Gödel’sche Schlaufe sind zwei Erzählstränge zu einem infiniten Regress ineinander verzahnt. Wobei ‘verzahnt’ genau das richtige Wort ist, weil es den Bildbereich des Beissens und Essens aufruft, der ein zentrales Motiv der Geschichte ist. Der eine Erzählstrang schildert eine üppige Tafelrunde, zu der der namenlose Ich-Erzähler nach einem langen Spaziergang stösst. Der erste Abschnitt schildert, wie er am Tisch Platz nimmt. Der andere Erzählstrang, der stets alternierend folgt, berichtet vom Aufbruch des Erzählers, wie er seine Wohnung mit der Frau und ihren kranken Verwandten verlässt und sich auf den Fussmarsch begibt, der schliesslich bei der Tafelrunde endet, mit der die Geschichte beginnt. So beisst sich die Erzählung quasi selbst in den Schwanz, wie die "Werre" an einer Stelle des Buchs, die so zum allegorischen Tier des narrativen Verfahrens wird: "wie der Vorderleib schon nach einer kleinen Weile damit beschäftigt ist unter Ausscheidung schleimiger Bestandteile heißhungrig den weichen Hinterleib zu verzehren". Nimmt man diese Allegorie ernst, in der unverkennbar das Ouroboros-Motiv anklingt, dann hat Ror Wolf einen sich selbst verschlingenden Text geschrieben.

Die Geschichte verschlingt sich auch deshalb, weil die hyperpräzise, jede Einzelheit erfassende Erzählweise weniger zur Genauigkeit beiträgt, als dass sie alles zum Flimmern bringt. Der Fokus ist zu nah dran, als dass sich klare Konturen erkennen liessen. Was sich zwischen Aufbruch und Ankunft des Erzählers alles ereignet, ist deshalb nicht so leicht nachzuerzählen. Zu den äusseren Ereignissen auf dem Spaziergang treten Erinnerungen, Rückblenden und Vorstellungen des Erzählers sowie etliche Geschichten einer Figur namens Wobser, die sich dem Erzähler gleich zu Beginn an die Fersen heftet: hinter ihm hergeht, ihn einzuholen versucht, ihn anruft, an sein Gedächtnis appelliert: "Mein Guter, höre ich, erinnern Sie sich, höre ich, Sie haben es nicht vergessen, höre ich, hören Sie doch, höre ich, dieser Abend, die Ereignisse dieses Abends, höre ich". Lange Zeit kann oder will sich der Erzähler nicht erinnern, bis die rückläufige Erzählung schliesslich auf das Ereignis zusteuert, von dem der Bericht seinen Ausgang nahm: Wobsers Vater stürzte sich in dem Moment vom Dach, als der Ich-Erzähler aus seinem Haus tritt bzw. in das Haus der Tischgesellschaft eintritt. So klar wird das nicht, weil sich auch hier wieder zwei Enden der Erzählung verschlingen.

Die Rückblenden und Imaginationen nennt das erzählende Ich Bilder. Es sind häufig Bilder von Zerfall, Verwesung, Kadavern, Tod, Mord, Verstümmelung, was die Thematik des Essens einerseits auf eine ganz existentielle Ebene führt, andererseits auch mit der zergliedernden und zerteilenden Erzählweise korrespondiert, in der oft - wie in der Geschichte von der abhackten Hand des Sohnes - einzelne Gliedmassen von den Körpern abgetrennt erscheinen und sich Einzelheiten vom Gesamtbild lösen. Ror Wolf, der später nicht von ungefähr das Pseudonym Raoul Tranchierer wählt, verfolgt eine sezierende Schreibweise, die der minutiösen Beschreibungstechnik im "Mikro-Roman" Der Schatten des Körpers des Kutschers (1960) von Peter Weiss  einiges verdankt. Höhepunkt des gesamten Buchs ist zweifellos der in seinem Detailgrad bis ins Absurde beschriebene Befreiungsversuch von einem Fliegenfänger, der am Schuh des Erzählers kleben geblieben ist und den er vergeblich wieder abzuschütteln versucht, weil er stets wieder an dem Fuss oder der Hand haften bleibt, mit dem respektive der er sich davon zu befreien suchte. Ein zum Schreien verzweifelt komische Szene, die über zwei Seiten ausgedehnt wird, während alle am Tisch schon auf den Erzähler warten und sich fragen, wo er bloss steckengeblieben ist.

Zuweilen erinnert dieses Debüt auch an die repetitive monologische Prosa Thomas Bernhards, der ein Jahr zuvor mit Frost seinen ersten Roman vorlegte. Die Stilverwandtschaft ist stellenweise verblüffend, wobei Ror Wolf bereits jene Inklination ins Bizarre und Irrationale erkennen lässt, die seine späteren Texte auszeichnen.

Montag, 11. März 2024

Percival Everett: Die Bäume (2023)

Die Bäume sind ein Roman voll von schwarzem Humor, wobei diese Redewendung diesmal eine doppelte Berechtigung hat, da die Geschichte nicht nur makaber ist, sondern auch den Rassismus und die Lynchjustiz der 1950er Jahre thematisiert. Eine mysteriöse Mordserie hält das zurückgebliebene Provinznest namens Money, Mississippi in Atem. Ältere weisse Männer werden bestialisch mit einem Stacheldraht um den Hals ermordet vorgefunden und neben ihnen auch die Leiche eines verstümmelten Schwarzen, der ihre abgerissenen Testikel in den Händen hält. Die vertrottelte Polizei kann sich keinen Reim darauf machen, erst recht nicht, als die schwarze Leiche aus dem Kühlraum verschwindet und am nächsten Tatort wieder auftaucht, erneut mit den Testes des neuen Opfers in der Hand. Deshalb bekommt der lokale Sheriff bald Unterstützung durch das MBI (Mississippi Bureau of Investigation) und schliesslich noch durch das richtige FBI. Das Pikante daran: Die MBI-Ermittler sind afroamerikanisch wie auch die FBI-Agentin, die bald die kleinstädtischen Xenophobie der Rednecks von allen Seiten zu spüren bekommen.

Es stellt sich auch bald heraus, dass die Morde im Zusammenhang mit einem sechzig Jahre zuvor verübten Verbrechen stehen, als ein schwarzer Junge namens Emmett Till aufgrund einer Falschbeschuldigung gelyncht worden ist. Es scheint, als kehre dieser nun von den Toten zurück, um sich für die Gräueltat zu rächen. Tatsächlich reiht sich bald ein Mord nach dem anderen, stets nach demselben Strickmuster, und alle Opfer stehen in verwandtschaftlicher oder familiärer Verbindung zum Ku-Klux-Clan, der im Roman selbstredend auch aufmarschiert, und zu Akteuren der damaligen Lynchjustiz, über die eine nahezu mystische Figur, die über hundert Jahre alte Mama Z., eine geborene Lynch (Achtung schwarzer Humor), seit Jahren akribisch Buch geführt und ein gigantisches Archiv aller Ermordeten angelegt hat: "Hier gibt es eine Akte über so gut wie jede Person, die seit 1913 in diesem Land gelyncht worden ist." Über Seiten hinweg werden diese Namen auch im Buch einzeln aufgelistet, um ihnen eine letzte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Und mit jedem Namen nehmen auch die rätselhaften Massaker zu, die Mordserie weitet sich bald aufs ganze Land aus und dringt bis ins weisse Haus vor, wo Präsident Trump ebenfalls nach demselben Ritual hingerichtet wird. Doch zuvor desavouiert sich der Agitator eines neuen Rassismus selbst in seiner falschen Doppelmoral. Wie sich Trump um Kopf und Kragen redet und behauptet, er habe das Wort "Nigger" nie gesagt, aber es während seinem Dementi pausenlos wiederholt, ist eine parodistische Glanzleistung des Autors, der dem Präsidenten mit seinem "naturorangen" Teint entlarvend genau auf den Mund geschaut hat. Auch sonst besticht der Roman durch witzige Dialoge, schräge Typen und morbide Komik, wie man sie etwa aus den Filmen der Coen-Brothers kennt. Mit viel cinematographischem Flair ist der Roman denn auch geschrieben, der sich zuweilen wie ein Drehbuch liest. In rasanten, kurzen Kapiteln rollt die Handlung in äusserst verknappter Erzählweise ab, hauptsächlich getragen von der Stichomythie der Personen, in der die ganze Stärke des Romans liegt.

Donnerstag, 7. März 2024

Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas

Michael Kohlhaas ist neben der Marquise von O. wahrscheinlich die bekannteste Novelle Heinrich von Kleists, was aufgrund der umständlichen Erläuterung mitunter komplexer juristischer und politischer Sachverhalte eigentlich erstaunen muss. Doch ist seit Erscheinen des Textes die historisch verbürgte Gestalt des Kohlhaas’ zum Inbegriff für den blindwütigen Gerechtigkeitswahn geworden. Michael Douglas im Film Falling Down ist bloss ein harmloser Abklatsch davon. 

Weil ein widerfahrenes Unrecht auf intrigante Weise vor Gericht abgewiesen wird, verlässt Kohlhaas den offiziellen Rechtsweg, greift zur Selbstjustiz und zieht brandschatzend als apokalyptischer Reiter – er wird mal als "Engel des Gerichts", mal als "Würgeengel" apostrophiert – durch ganz Sachsen, ohne Rücksicht auf Verluste: selbst seine Frau Lisbeth stirbt an den Folgen des Rachefeldzugs, der in keinem Verhältnis mehr zur Bagatelle (ihm wurden zwei Rappen geschunden) steht, die Kohlhaas’ Rechtsempfinden empfindlich verletzt hat.

In einer atemlosen Erzählweise mit dem für Kleist typischen hypotaktischen Satzbau und einer weitgehend metaphernlosen Sprache wird das Schicksal von Kohlhaas geschildert, wobei die Novelle ungefähr in der Hälfte eine phantastische Wende nimmt und die anfänglich eingeschlagene realistische Ebene verlässt, was auch vom Erzähler eigens reflektiert wird, indem er anmerkt, "die Wahrscheinlichkeit" liege "nicht immer auf Seiten der Wahrheit", und es also dem Leser überlässt, an die Geschichte zu glauben oder daran zu zweifeln.

Der weitere Verlauf mutet in der Tat sehr unwahrscheinlich an. Kohlhaas’ Rechtshändel spielen kaum noch eine Rolle, vielmehr ein geheimnisvolles Amulett, das er in Jüterbock von einer Zigeunerin auf dem Jahrmarkt erhalten hat, die sich am Schluss sogar als Wiedergängerin seiner verstorbenen Frau Lisbeth ausgibt. Sie verschafft ihm trotz Todesurteil die Möglichkeit der Rache, denn im Amulett steckt eine Prophezeiung, die der Kurfürst von Sachsen unbedingt kennen will. Doch Kohlhaas, schon auf dem Schafott, verschluckt den Zettel mit der Prophezeiung vor den Augen des entsetzten Kurfürsten, der sein Leben nun weiter im Ungewissen fristen muss.

Montag, 19. Februar 2024

Ed Martin: Frankenstein '69 (1969)

Nach Poor Things, welches das Lesefrüchtchen eben gelesen hat, gleich noch eine Frankenstein-Geschichte. Ist auch bei Alasdair Gray das künstlich generierte Geschöpf sowohl weiblich wie auch mit einer ordentlichen Libido ausgestattet, so gilt das in diesem Fall erst recht, denn es handelt sich um eine veritable Porno-Variante.

Das Buch erschien in der von Kultverleger Jörg Schröder geführten Olympia Press in Deutschland. Während der von Maurice Girodias ursprünglich gegründete Verlag neben erotischer Literatur (Geschichte der O., Fanny Hill) unter dem dezenten Deckmantel olivfarbener Umschläge heute längst kanonisierte Werke von Henry Miller, Nabokov, Beckett oder Burroughs verlegte, setzte Schröder vorwiegend auf ein pornographisches Programm, das sich unter dem liberalen '68er Spirit gut verkaufte und so ökonomisch die Titel im ambitionierteren März-Verlag querfinanzieren konnte. Eines der Bücher, das dort – nun nicht mehr im unauffällig olivgrünen Tarnumschlag, sondern mit der Signalfarbe eines knalligen Pink – erschienen ist, war Frankenstein ‘69 eines gewissen Ed Martin, über den das Lesefrüchtchen nichts herausfinden konnte. Wohl handelt es sich um ein Pseudonym.

Der Titel Frankenstein ’69 (auf Englisch reimt er sich: …stein …nine) spielt einerseits auf das Erscheinungsjahr 1969 an, andererseits natürlich auf die Sex-Stellung 69. Offenbar ist der Roman mittlerweile auch als eBook erhältlich, und zwar mit dem Untertitel: «Die Paarung der Meerjungfrauen mit unersättlichen Sex-Robotern». Damit ist die Handlung des Buches eigentlich schon perfekt zusammengefasst: Ein verrückter Wissenschaftler kreiert in seinem Labor drei lebendige Sexpuppen, während seine nymphomane Frau es hinter seinem Rücken pausenlos mit anderen treibt und zur Erfüllung ihrer schier unersättlichen Lust sich gleichfalls drei männliche Sex-Roboter mit riesigen, stahlharten Schwengeln fabriziert, einer davon sogar verkehrtherum, mit dem Skrotum nach oben montiert, was zu ganz neuen Stimulationspraktiken führt.

Und da tummeln sich tatsächlich auch noch notgeile Wassernixen, die am liebsten Penisse mitsamt den Hoden mit ihren Vulven verschlingen. Wie sich ein Koitus mit einem schwanzbeflossten und ausserdem auch genital amphibischen Meerwesen anfühlen muss, gehört zum Originellsten, was diese Pornoparodie zu bieten hat. Die Handlung ist, wie in jedem Porno, ohnehin sekundär bis irrelevant, was die Erzählung auch dadurch parodistisch zum Ausdruck bringt, dass selbst längere Passagen im exakt gleichen Wortlaut wiederholt werden, um mit Augenzwinkern die Repetivität und Austauschbarkeit dieser Art von Storytelling zu signalisieren. Zugleich entsteht dadurch beim Lesen ein nahezu surrealer Déjà-lu-Effekt, der vielleicht etwas vom halluzinogenen Sixties-Flair vermitteln soll.

Sonntag, 18. Februar 2024

Alasair Gray: Arme Dinger (1992)

Seit Jahren steht im Bücherregal des Lesefrüchtchens der schottische Kulturoman Lanark. A Life von Alasdair Gray. Bislang kam es aber nie dazu, ihn zu lesen, und aus aktuellem Anlass griff es nun zuerst zu einem späteren Roman desselben Autors: Arme Dinger (Poor Things), der gerade frisch verfilmt mit Emma Watson in der Hauptrolle in den Kinos läuft. Das Lesefrüchtchen hat den – in der Presse hochgelobten – Film (noch) nicht gesehen, es vermutet aber, dass hier der seltene Fall vorliegen könnte, dass eine Verfilmung die literarische Vorlage überbietet. Nicht dass die Lektüre durchwegs enttäuschend gewesen wäre, ein wenig schwerfällig hingegen ist das Buch schon in seiner neobarocken – oder wie es im Roman selbst heisst: «pseudogotischen» – Machart.

Das Buch präsentiert sich als Herausgeberfiktion, bei der Gray selbst als Editor und Kommentator (und realiter auch, wie in allen seinen Büchern, als Illustrator) eines angeblichen Textunikats auftritt, das im Jahr 1909 ein gewisser Archibald McBandless im Selbstverlag veröffentlicht haben soll. Geschildert wird darin eine Art Frankenstein-Geschichte mit weiblichen Vorzeichen. McBandless erzählt, wie er bei dem befreundeten Arzt Gotthard Baxter, der manipulative Eingriffe an der Natur vornimmt, eine entzückende junge Frau namens Bella kennenlernt, die – wie sich herausstellt – als Selbstmörderin in Glasgow aus dem Fluss Clyde gefischt und von Baxter zu neuem Leben erweckt wurde, indem er ihr das Hirn ihres ungeborenen Kindes einpflanzte. Mutmasslich handelt es sich um eine gefallene Frau mit einem ungewollten Spross im Leib, weshalb sie sich aus Verzweiflung das Leben nahm. Schon immer war es Baxters Plan, «einen fortgeworfenen Körper und ein fortgeworfenes Gehirn aus unserem gesellschaftlichen Abfallhaufen zu holen und zu einem neuen Leben zu vereinen».

Das neue Wesen, das seinen Schöpfer Gotthard Baxter kurzerhand und konsequent «Gott» nennt, zeichnet sich durch eine verhängnisvolle Kombination von kindlichem Gemüt und sexueller Appetenz aus, was unter anderem daran zum Ausdruck kommt, dass sie den Geschlechtsverkehr als «Trauen» missversteht und sich sooft mit ihrem Angetrauten Duncan Trauburn (man bemerke das Wortspiel) ‘traut’, dass dieser vor Erschöpfung und Furcht vor «der scharlachroten Hure des modernen Babylon» schliesslich im Irrenhaus landet. Doch neben Trauburn hält auch der Erzähler McBandless um Bellas Hand an und wartet sehnsüchtig, bis sie von ihren Flitterwochen zurückkehrt. Diese erweisen sich nicht nur als fatal für den koital dauerbeanspruchten Trauburn, sondern überdies als prägend für Bellas eigene Entwicklung, die ganz dem humanitären Einsatz für 'arme Dinger', wie sie selbst eines war, gewidmet sein wird (daher der Titel).

In Alexandria wird sie Zeugnis der Bevölkerungsarmut und des katastrophalen Elends der Menschen, insbesondere sieht sie eine Mutter mit einem blinden und verkrüppelten Kind, was sie an ihre Narbe am Bauch erinnert und daran, dass sie offenbar selbst einmal eine verzweifelte Mutter war. Als ihre männlichen Begleiter sie mit den Worten «Sie können nichts Gutes tun» zu helfen abhalten wollen, erleidet sie einen psychischen Anfall, was in Form von wildbekritzelten Briefseiten, die als Faksimile quasi dokumentarisch in die Erzählung eingestreut werden, visuell bekräftigt wird. Allein dass diesem Umstand, der ziemlich exakt in der Mitte des Buches erfolgt, ein solches Gewicht verliehen wird, deutet auf den entscheidenden Wendepunkt hin. Bella Baxter entwickelt sich aufgrund dieser Erfahrung zur radikalen Sozialistin, die sich nach der Heirat mit McBandless für bolschewistische Wohltätigkeit einsetzt und eine Abtreibungs-Klinik gründet, um Frauen vor einem ähnlichen Schicksal, wie sie es in Alexandria erlebte, zu bewahren. 

Im Anschluss an diese aus McBandless' Perspektive erzählten Geschichte zitiert Gray als Herausgeber einen Brief von Bella Baxter mit einer an ihre Nachkommen gerichtet Gegendarstellung. Darin bezichtigt sie ihren Gatten, unter allerlei Anleihen bekannter Schauerromane, darunter selbstredend auch Marry Shelleys Frankenstein, eine «teuflische Parodie» ihrer Lebensgeschichte verfasst zu haben - aus purem Neid, weil er selbst als bloss geduldeter Ehemann an ihrer Seite ein Schattendasein fristete, während sie als aktive Klassenkämpferin im öffentlichem Ansehen stand und angeblich sogar Affären mit H. G. Wells und Ford Maddox Ford unterhielt. Die Vorstellung, ein Geschöpf aus Baxters Retorte zu sein, weist sie als infame Lüge weit von sich, stattdessen gibt sie an, damals nicht Selbstmord begangen zu haben, sondern von ihrem tyrannischen und gewalttätigen Ehemann zu Baxter geflüchtet und dort unter dem Decknamen Bella untergetaucht zu sein. Ihr wahrer Name sei Victoria.

Die Leserschaft kann so, wie es in einer ausdrücklichen Aufforderung heisst, «zwischen zwei Darstellungen wählen» - eigentlich zwischen drei: da der Autor in seiner Funktion als Herausgeber im Anhang einen pseudo-dokumentarischen Abriss über Bella (Victoria) Baxters Leben und ihr karitatives sozialistisches Engagement gibt, der es am Ende offenlässt, ob ihr Alter an der Geburt ihres Gehirns oder ihres Körpers zu messen sei. - Wie gesagt, ein eher schwerfälliges Buch, das für eine Parodie zu wenig humoristisch, für einen politischen Roman wiederum zu verspielt und als postmodernes Verwirrspiel zu beliebig ist. Die Geschichte pendelt unentschlossen zwischen einer männlichen Schöpfungsphantasie und einem weiblichen Emanzipationsnarrativ. Es wirkt ein bisschen, als wäre auch das Buch wie mutmasslich die Protagonistin aus mehreren Organismen zusammengesetzt.