Freitag, 28. April 2017

H.P. Lovecraft: Cthullhu. Geistergeschichten (1972)

Das Lesefrüchtchen hat sich endlich ein Herz gefasst und alle Lektüren beiseite geschoben, um sich endlich dem Stapel der vergessenen Leckerbissen zu nähern. Aus Laune griff es zunächst zu H.P. Lovecraft, nicht zuletzt auch, weil die Übersetzung aus der Feder von H.C. Artmann stammt. Artmann, dieser grandiose Avantgarde-Autor und Liebhaber von Trivialgenres, hat Lovecraft für den deutschsprachigen Raum entdeckt, als er noch in niemandes Munde war. Heute gilt Lovecraft hingegen als Ikone der gehobenen Horror-Story und ist auch unter E-Literaten längst salonfähig geworden. Jedenfalls muss man sich in ihren Kreisen nicht schämen, wenn man Lovecraft liest – was eigentlich eher gegen als für den Autor spricht. Aber letztlich kann er für die intellektuelle Vereinnahmung nichts.

Lovecraft ist in erster Linie ein brillanter Techniker. Er schöpft aus dem Vollen, was die bizarren Abgründe der menschlichen Phantasie angeht. Seine Erzählungen sind weniger Orgien des Horrors als der Einbildungskraft. Er ist ein unermüdlicher Erfinder phantastischer und grauenerregender Szenarien, die er mit einer ungeheuerlichen Akribie und schier unermüdlichen Darstellungs schildert. Dabei sind die meisten Erzählungen gar nicht auf eine Wirkungsästhetik hin komponiert. Jedenfalls packt einem der beschriebenen Schauer selten. Das heißt: Die Geschichten sind, was sicher an ihrer analytischen Ausrichtung liegt, nicht per se schrecklich, sie beschreiben lediglich den Schrecken in all seinen perversen Abarten. Wenn Giorgio Manganelli im Vorwort Lovcraft als „Pornographen des Grauens“ betitelt, liegt er genau richtig. Wie de Sade in endlosen Variationen seine tableaus aneinanderreiht, so wiederholt auch Lovecraft seine Schilderungen des Schreckens bis zur Ekstase - oder Ermüdung.

Die Kurzgeschichten sind praktisch alle nach demselben Schema aufgebaut: Durch eine pseudodokumentarische Erzählweise wird eine authentische Nähe zu den geschilderten Ereignissen geschaffen, durch einen scheinbar kritischen Erzähler deren Glaubwürdigketi anfangs jedoch relativiert, obwohl von Anfang immer klar ist (was den Geschichten mitunter die Spannung nimmt): Wie unglaublich die Befürchtungen und Ahnungen auch anmuten, genau so (oder noch schlimmer) wird es am Ende auch eintreffen. Sodann wird der Erzähler nicht müde, das Entsetzen in allen nur erdenklichen Schattierungen auszumalen. Dann läuft er zur Höchstform auf. Für Lovecraft selber gilt deshalb, was er über den Maler Pickman in der ersten Erzählung des Bandes schreibt: „er schilderte mit eiskalter Überlegung eine wohlfundierte Welt des Horrors“ und ist mit dieser Methode ein „durch und durch genauer, ja fast wissenschaftlich vorgehender Realist.“ Hier zeigt sich die wahre Kreativität von Lovecraft: Seine Erzählungen sind veritable Vokabularien des Grauens, und machen sie wohl für Artmann als Übersetzer besonders interessant.

Doch offenbar erwies sich auch das Übersetzen des Horros als Grenzerfahrung. Zumindest waren die Wortfindungen so ausgesucht, dass sich nicht alle verlustfrei ins Deutsche übersetzen ließen. Das Adjektiv „ghoulish“ (engl. für gräulich, makaber) zumindest, das an mehreren Stellen auftaucht, muss Artmann trotz lexikalischer Hilfe unbekannt gewesen sein, verdeutsche er es doch schlicht – und irgendwie auch kongenial – in „ghoulisch“ (das auch in flektierter Form wie etwa in „das ghoulische Schweigen“ vorkommt) und schuf damit ein hapax legomena, das seither als Synonym für die teuflische, böse Seite der Menschheit weiterverwendet oder gar als diabolische Sprache angesehen wird. Ein produktives Missverständnis also, welches das Grauen in Form eines rätselhaften Worts in die deutsche Sprache importiert. Nichts ist unheimlicher, als was sich dem primären Verständnis entzieht.

Und genau nach diesem Prinzip funktionieren die Erzählungen von Lovecraft: Sie beschreiben jenen Moment, in dem das Irrationale in die Welt einbricht, wo sich der Schrecken in Form des absolut Unbegreiflichen, des Unausdenkbaren manifestiert, dass die Betroffenen vor Schreck entweder den Verstand verlieren, in irrsiniges Gelächter ausbrechen oder mit gebrochenen Blick dahinscheiden. Oft sind es grausige, absolut unhmane, gallert- und schleimartige Wesen aus den Urtiefen des Meeres, der Vergangenheit oder des Alls, welche schon lange vor der Menschheit existierten und nur darauf warten, diese wieder auszulöschen. Wie zum Beispiel der grosse Cthullhu, der zu Lovecrafts Privatmythologie gehört und auch in anderen Erzählungen wieder auftaucht, wie auch das berühmte gewordene Buch Necronomicon des wahnsinnigen Arabers Abdul Alhazred, das alle Zauberformeln enthält, um die bösartigen Kräfte zu erwecken.

Darin liegt wohl auch die anhaltende Faszination am Autor: dass er den Horror in der Buchkultur verankert und ihm dadurch als schriftlich tradiertes Erbe eine vermeintliche Genealogie verschafft. Lovecraft schreibt nicht einfach "Geistergeschichten", wie der Erzählband etwas unglücklich betitelt ist; vielmehr arbeitet er an einer vertiablen Kosmologie des Horrors und seiner klandestinen Überlieferung, die eigentlich nicht für menschliche Augen bestimmt ist.

Sonntag, 16. April 2017

Martin Kessel: Die Schwester des Don Quijote (1938)

Vom kulinarischen Verhalten entspricht das Lesefrüchtchen denjenigen, die sich vom Gemüse allmählich zum Filet hinfressen. Diese Eigenart bringt leider mit sich, dass die wirklich schmackhaften Stücke oft zugunsten leichter Kost liegen bleiben. Eben kürzlich hat das Lesefrüchtchen einen Stapel entdeckt, auf dem sich längst vergessene Leckerbissen sedimentiert haben: Samuel Beckett, Albert Drach, H.P. Lovercraft, Harry Mathews oder auch Thomas Kapieleskis Volumenroman Je dickens, destojewski. Statt sich aber endlich ans Eingemachte zu wagen, futtert sich das Lesefrüchtchen weiterhin durch Gelegenheitslektüren. So auch geschehen im jüngsten Fall: Obwohl der Großroman Herrn Brechers Fiasko von Martin Kessel im Visier war, wich es auf die viel schmalere Erzählung Die Schwester des Don Quijote aus. Aber immerhin: eine weitere Don Quijotiade.

Im Unterschied zur offenbar weitaus opulenteren Romanprosa Kessels handelt es sich bei der Geschichte um eine Künstlernovelle von fast klassischem Zuschnitt und formvollendeter Erzählkunst. Literarische Vorbilder sind unverkennbar Fontane und Thomas Mann, über den Kessel auch promoviert hatte. Wie Lothar Müller in seinem glänzenden Nachwort betont, fällt die Novelle merkwürdig aus der Zeit. Obwohl im modernen, motorisierten und elektrifizierten, Berlin spielend, verhandelt die Geschichte unter Ausschluss jeglicher zeithistorischer Bezüge den romantischen Konflikt des Künstlers zwischen Lebenswirklichkeit und Werkideal. Reminiszenzen an den Maler Frenhofer bei Balzac oder E.T.A Hoffmanns Johannes Kreisler werden wach, die auf existentielle Weise mit ihrem Kunstwerk verstrickt sind.

Im Zentrum der Erzählung steht denn auch ein Gemälde, dessen Sujet, wie es gleich zu Beginn heisst, „über den Rahmen hinausweist“ auf das dahinter liegende Schicksal. Das Bild trägt den Titel Die Schwester des Don Quijote und zeigt einen Frauenakt vor dem Spiegel, aus dem zwei markante Augen entgegenblicken. Sie gehören der neurasthenischen Salonschönheit Saskia Sorell, die für den Maler Schratt zum Inbegriff dessen wird, was er „die Dame“ nennt: eine im mondänen Verblendungszusammenhang lebende Gesellschaftsdame, die zum „Vexierbild ihrer Spiegelnatur“ wird. Kurz: Ein weiblicher Don Quijote der High Society. Die Antipode zur diesem Frauentypus ist die Haushälterin Agnes Veitzuch, ein neugieriges, linkisches Weibsbild, bei dem der Maler zur Untermiete wohnt. Zu beiden Frauen gerät der Maler in eine verhängnisvolle Abhängigkeit, die sich auch auf dem Gemälde manifestiert. Das Konterfrei der Veitzuch schleicht sich schemenhaft in den Hintergrund des Spiegelporträts und verdoppelt so die Spiegelung nochmals. Auch das natürlich ein zutiefst romantisches Motiv.

Lange Zeit scheint der Maler an diesem Gemälde zu scheitern. Zum einen hindert ihn die leidenschaftliche Zuneigung zu seinem koketten Modell an der Vollendung, zum anderen die vormundschaftliche Art der Haushälterin, die heimlich bereits Besitzansprüche an dem Bild anmeldet, in der Hoffnung, dass der baldige Erfolg des Künstlers sie für ihre Umtriebe entschädigen könne. So ist Schratt zwischen Begehren auf der einen und häuslicher Observation auf der anderen Seite gefangen. In einem dramatischen Akt entlädt sich sein Konflikt auf dem Gemälde, das ihm nicht gelingen will: Er zieht einen roten Querstrich mitten durch das gemalte Gesicht der Haushälterin im Hintergrund, die sich von der Exekution in effigie auch persönlich getroffen fühlt. Schliesslich triumphiert die Kunst aber über das Leben. Während die porträtierte Sorell in einer Nervenheilanstallt in Italien landet, verfällt die Veitzuch dem letalen Wahnsinn und haucht ihren letzten Odem in den Armen des konsternierten Künstlers aus.

Die Krise kündigte sich schon lange vorher an durch den Gestank von verbrannter Milch, der wie ein „milchig brenzliche[r] Trauer- und Begräbinisgeruch“ das ganze Haus durchströmte und „unvertreibbar“ schien. Von diesem unheilvollen Vorzeichen drängt das Geschehen immer stärker zum finalen Ereignis in der Silvesternacht, das für den Künstler zum Sieg der Kunst, für die beiden Porträtieren allerdings zum Verhängnis wird. Auf diese dramatische Weise ist seit den Konjunkturen der Romantik nicht mehr um die Kunst gerungen und gelitten worden. Wohl unfreiwillig bekommt die Erzählung dadurch einen fast parodistischen Zug. Mit dem Maler Theo Schratt aufersteht nochmals eine romantische Künstlerfigur, die sich im Kontext der Moderne und ihren zahlreichen Ismen (in der Erzählung durch die Kunstrichtung des „Trilogismus“ kurz anzitiert) bloß mit erheblichen Kollateralschäden behaupten kann. Selbst die geplante Italienfahrt, der klassische Topos der künstlerischen Bildungsreise, endet mit einer typischen Erfahrung der Moderne: mit einem Autounfall.

In dieser seiner ersten Autofahrt erlebt Schratt gewissermaßen auch die Ästhetik der Moderne, wie sie Tommaso Marinetti paradigmatisch im Manifest des Futurismus beschreibt – und zwar nicht zufällig auch am Beispiel einer rasanten Autofahrt. Der Rausch der Geschwindigkeit, wie sie die moderne Technik ermöglicht, soll auch in der Kunst zu neuen Wahrnehmungs- und Darstellungsformen führen. Mehr noch inszeniert Marinetti den Autounfall zu einem natalen Akt, aus dem der neue Mensch und seine radikal neue Ästhetik hervorgeht. Während der Fahrt lernt Schratt zwar auch den Rausch der Geschwindigkeit kennen, der ihn sogar in eine Art „Wachtraum“ versetzt. Er zieht daraus aber ebenso wenig ästhetische Konsequenzen wie aus der darauffolgenden Carambolage. Vielmehr wertet er ihn als geradezu schicksalhaftes Zeichen, das ihn wieder in die Fänge der Haushälterin zurückwirft.

Wohl auch deshalb, weil der Unfall just in dem Moment erfolgt, als ihm die Bedeutung des Hintergrundes generell, insbesondere aber die Hintergründigkeit seines Gemäldes klar wird. So setzt eben der romantische Künstler nicht sein eigenes Leben aufs Spiel, sondern ergötzt sich an der abstrakten Schönheit des Todes. Dieses romantische Ideal der schönen Leiche ist jedenfalls die Erkenntnis, die Schratt am Ende ereilt: „Leichnam und Schönheit“. Darin erblickt er die „Größe der Kunst“: „Denn nur, wer die Schönheit von Grund auf errichtet, aus Finsternis, Wollust und Sterngeäder der Nacht, nur der ist ihr Schöpfer.“ Besser hätte es auch Detlev Spinell, der große Verehrer der Todesschönheit, nicht formulieren können.

Fritz Michaelis: Des Kammerdieners Erasmus nachgelassenes Tagebuch (1913)

Diese im Verlag von Erich Reiss erschienene Sammlung von zwanglosen Betrachtungen und Essays, teilweise in Tagebuch- oder auch in Briefform, ist eine leicht durchschaubare Herausgeberfiktion. Interesse verdient vor allem die pseudoeditorische Notiz des Herausgebers: Sie nimmt gewissermaßen Max Brods Umgang mit Kafkas ambivalenter Nachlassverfügung vorweg. Kafka bat seinen Freund zwar darum, sämtliche in seinem Nachlass befindliche Schriften zu vernichten, hinderte ihn aber nicht an der Lektüre. So sieht sich auch Fritz Michaelis in der selbst verliehenen Rolle als Herausgeber vor die Frage gestellt, wie ernst er den letzten Willen des Kammerdieners Erasmus nehmen soll: „Nach seinem ausdrücklichen Geheiss sollte ich sowohl sein Tagebuch wie auch alle noch vorhandenen Betrachtungen vernichten. Da aber bei meinem Freunde Erasmus die Worte nie restlos Ausdruck seiner Wünsche waren, glaube ich sein Vertrauen nicht zu missbrauchen, wenn ich hiermit der Öffentlichkeit vorlege, was ich an beschriebenen Papieren in seinem Schreibpult gefunden habe.“

Ganz ähnlich argumentierte damals auch Max Brod. Im Unterschied zu Kafkas nachgelassenem Werk aber sind die Erasmischen Aufzeichnungen nicht in den Olymp der Weltliteratur aufgestiegen, sondern müssen als Gelegenheitsdichtung verbucht werden, die heute gänzlich unbekannt sind und vermutlich schon bei Erscheinen keine allzu hohen Wellen schlugen. Dazu sind die Prosaminiaturen zu sehr der Buntschriftstellerei verpflichtet. Auffälligerweise wird in einem Stück des Büchleins aber gerade ein gegenteiliges Werkideal vertreten. Es wird dort der Wunsch geäußert, ein Buch zu schreiben, das „nie Manuskript“ war. Das heißt: ein Buch, dem man die Anstrengung seiner Entstehung nicht anmerkt, weil es wie ein organisch gewachsenes Gebilde anmutet. Mit einer Herausgeberfiktion ist ein solcher Eindruck natürlich schwer zu erreichen: Hier wird ja vielmehr das lose papierne Potpourri deutlich vor Augen gestellt. Allerdings ist das Büchlein wiederum auch sehr schön, fast edel gestaltet mit einer Einbandzeichnung von Szafran und einem luftigen Satzspiegel, so dass auch die einzelnen Texte dadurch an erlesenem Glanz gewinnen, als hätte man eine Sammlung von Kleinoden vor sich.

Was die einzelnen Betrachtungen und kleineren Essays neben der rahmenden Schatulle der buchdruckerischen Gestaltung miteinander verbindet, ist die Erzählerfigur des Erasmus, der natürlich nicht zufällig so heißt wie der große Humanist aus Rotterdam. Der Erzähler beruft sich dabei auf die Worte, wie der Rotterdamer in den Dunkelmännerbriefen vorgestellt wird: Erasmus est homo pro se – Erasmus ist ein Mensch für sich. Mit diesem intertextuellen Hinweis ist die freigeistige Stoßrichtung des Büchleins angezeigt, die sich allerdings nur sehr milde artikuliert. Und zwar durch die erzählende bzw. schreibende Dienerfigur, welche die Welt aus einer subalternen und damit immer schon 'schrägen' Sichtweise betrachtet und dadurch dem menschlichen Alltag eigenwillige Seitenblicke abgewinnt. So gefällt sich Erasmus auch als Dialektiker vom Dienst, der die bestehenden Werte dezent umwertet, wenn er etwa seinen Beruf zu einer höheren Kunst zu stilisieren versucht: „Wer nicht zum Kammerdiener geboren ist, kann allenfalls das ABC unserer Kunst ausüben; im Interesse der Vollkommenheit sei ihm aber zu einem weniger aristokratischen Berufe geraten.“ Dieser eigentlich unstandesgemäße Standesstolz, der mit einer Nobilitierung des Lakais einhergeht, erinnert entfernt an Jakob von Gunten, ebenso Erasmus' Plan, eine Dienerschule zu eröffnen. Gut möglich, dass Michaelis den Roman von Walser kannte und sich durch ihn zur Figur des tagebuchschreibenden Dieners hat inspirieren lassen.

Die Stücke geben sich wechselnden Ansichten und Lebensweisheiten hin, mal eher humoristisch, dann wieder mit etwas mehr Tiefgang, und vermitteln en passant auch ein paar biographische Angaben zur Dienerfigur Erasmus und seinen Anstellungsverhältnissen. Meistens kreisen die Briefe und Tagebuchauszüge aber um sich selbst. Enthalten sind auch zwei Hommagen an Johannes Burckard (1450-1506) und Fürst Pückler-Muskau (1785-1871), die beide bedeutende Tagebuch- bzw. Briefschreiber waren. Der vatikanische Zeremonienmeister Burckard hielt in seinem Liber notarum mit dokumentarischer Unvoreingenommenheit das Leben am Hof der Päpste fest, darunter die dekadenten Ausschweifungen eines Cesare Borgia, weshalb sie auch als chronique scandaleuse der römischen Kurie gelten. Erasmus lobt die Nüchternheit des Protokollstils: „Denn er hat hier nur ein Amt und keine Meinung.“ Pückler-Muskau wiederum hat mit den Briefen eines Verstorbenen seinen literarischen Ruhm begründet – zumindest zu Lebzeiten, als zunächst noch Goethe als Verfasser der Briefe vermutet wurde. Während der Fürst für seine 'Parkomanie', seine fanatische Gartenbaukunst, noch landläufig bekannt ist, ist es als Schriftsteller ruhig um ihn geworden. Doch Erasmus hält die Erinnerung an den Vergessenen in stiller Verehrung hoch, denn er blickt zweifelsohne ein Vorbild im Fürsten, bedenkt er ihn doch mit dem gleichen Zitat wie auch sich selbst: homo pro se.

Montag, 10. April 2017

Julian Barnes: England, England (1999)

Zweimal England im Titel: das ist programmatisch. Denn zum einen geht es um eine künstliche Verdoppelung des britischen Königreichs und seiner Sehenswürdigkeiten, zum anderen handelt es sich bei dem Roman um eine Nationalsatire. Im Zentrum des Geschehens steht ein geplanter und schließlich realisierter Freizeitpark auf der Isle of Wight, wo das kulturelle Erbe Englands mit allen Hilfsmitteln der Kopierkunst nachgebaut und nachgespielt wird. Eine Art historisches Disneyland für Touristen, die sich die mühsame Reise zu den Originalschauplätzen ersparen wollen. Als letzte große Idee vor seinem Ruhestand setzte sich der megalomane – mit einer exzentrischen Vorliebe für ausgefallene Hosenträger auftretende – Unternehmer und Beethoven-Liebhaber Sir Jack Pitman das Vorhaben, das er gleichsam seine Neunte Symphonie nennt, in den Kopf. Um sie in die Tat umzusetzen, schart er ein illustres Team um sich, dem auch Martha Cochrane angehört, der eigentlichen Protagonistin des Romans.

Marthas Geschichte erfährt man gleich zu Beginn im ersten der drei Teile. Schon als Kind baute sie gerne England in Form eines Puzzles zusammen, wobei ihr Vater jeweils ein Stück versteckte, um es zur Freude der Tochter wieder hervorzuzaubern. Doch eines Abends taucht weder das Puzzlestück noch ihr Vater wieder auf. Erst allmählich begreift das kleine Mädchen, dass er und ihre Mutter sich getrennt haben. Während Martha zuerst die Schuld bei sich und dem verlorenen Stück England sucht, erklärt ihr die Mutter später, dass alle Männer entweder Schwächlinge oder Schurken sind. Mit dieser Erkenntnis reift sie zur supertoughen Frau heran und tritt Jahre später in den Dienst von Sir Jack, um ihm bei der Umsetzung seines wahnwitzigen Projektes zu unterstützen. In einem koketten Vorstellungsgespräch gewinnt sie nicht nur die Gunst des Tycoons, sondern auch das Herz seines zunächst gänzlich unscheinbaren „Ideenfängers“ Paul.

Der zweite Teil schildert die Liebesbeziehung zwischen der forschen Martha und dem ansonsten devoten Paul, die aber bald von Sir Jack entdeckt und missbilligt wird. Zufällig entdecken die beiden aber ein pikantes Geheimnis ihres Arbeitgebers und schwören auf Rache. Sir Jack besitzt eine starke Neigung zur Autonepiophilie. Er besucht regelmäßig das Etablishement von Auntie May, um dort unter der liebevollen Behandlung von Hebammen den Säugling bis zum errogenen Höhepunkt zu mimen. Ausgerechnet der Erfinder der künstlichen Realitätsverdoppelung findet Befriedigung in der Simulation des kleinkindlichen Urzustandes! Dadurch hochgradig erpressbar, muss er die Leitung des überaus erfolgreichen Freizeiparks an seine beiden Mitarbeiter abtreten. Doch bald wächst ihnen der Erfolg über den Kopf. Das Konzept des duplizierten Englands funktioniert so gut, dass einzelne Angestellte sich mit ihrer historischen Rolle zu identifizieren beginnen und zwar mit allen schlechten Eigenschaften. Die Nachahmer werden immer mehr zu Originalen, die man im beschönigten Abbild gar nicht haben will.

Der Erfolg treibt auch einen Keil in die Beziehung zwischen Paul und Martha, die sich überdies zu einem Samuel-Johnson-Double hingezogen fühlt respektive zum historischen Samuel Johnson, zu dem das schizophrene Double unterdessen gewandelt hat. Paul fällt ihr aus Eifersucht in den Rücken, macht wieder gemeinsame Sache mit seinem Chef Sir Jack, der Martha schließlich fristlos kündet und von der Insel verbannt. Nach jahrelangem Reisen kehrt sie - im dritten und letzten Teil des Romans - zurück nach Anglia, wie das mittlerweile in einen vorindustriellen Naturzustand regredierte Old England genannt wird. Der Roman endet also mit einer Dystopie: Das alte England ging an der Konkurrenz des erfolgreichen Inselklons zu Grunde. Der Staat brach zusammen und zerfiel in versplitterte Dorfgemeinschaften, wo sich die Bewohner noch darin gefallen, kulturlose Bauerntrottel zu spielen. Doch bald regt sich auch in diesen Siedlungen wieder der Wunsch nach Vergangenheit und einem kulturellen Erbe, das verbindet und die kollektive Identität stärkt. Martha, die unterdessen eine „alte Jungfer“ geworden ist, initiiert als erste rituelle Gedächtnishandlung ein jährlich stattfindendes Dorffest, um dieser „Bitte um Erinnerung“ nachzukommen.

Der Roman umkreist die Frage nach dem Verhältnis von Original und Kopie in einer Welt, wo das Simulacrum längst die Stelle des vermeintlich Authentischen eingenommen hat. Ebenso thematisiert er die Echtheit von Erinnerung, die auch nichts anderes als mehr oder weniger zuverlässige Rekonstruktionen eines entzogenen Ur-Ereignisses sind. Das gilt sowohl für die persönliche Gedächtnisleistung der Protagonistin Martha Cochrane, die mit dem Bonmot eingeführt wird, sie könne sich nicht an ihre erste Erinnerung erinnern; das gilt aber ebenso fürs kollektive oder kulturelle Gedächtnis der Nation, das vom jeweiligen Zeitgeist geformt und entsprechend auch verfremdet wird: „Bei den meisten Menschen waren die Erinnerungen an die Geschichte genau so dünkelhaft und zugleich flüchtig wie die an die eigene Kindheit.“ Und doch ist Erinnerung, worauf im Roman auch verwiesen wird, ganz entscheidend für die persönliche und kulturelle Identität. Der Roman führt somit in einer Art Gedankenexperiment vor, wie die Identität eines Landes (sowie einer Person) zerfallen kann, wenn die Erinnerung an die eigene Vergangenheit manipuliert oder ihr gar genommen wird.

Irgenwie ist das Lesefrüchtchen mit dem Roman trotz allem nicht richtig warm geworden. Dem Werbeslogan der Weltwoche auf dem hinteren Buchdeckel kann es jedenfalls nicht bedingungslos zustimmen: „Lesen Sie einen Roman von Barnes, und Sie wollen alle lesen.“ Die Idee einer künstlich verdoppelten Nation ist vom Grundgedanken her zwar witzig und hätte Anlass für eine vertiefte Problematisierung von Erinnerungspolitik und nationaler Mythenbildung geboten, ist in der Ausführung aber zu wenig fokussiert und viel zu englisch, englisch geraten. Jedenfalls zündet nicht jede Anspielung auf die britische Geschichte und Mentalität. Hingegen gibt es auch parodistisch glänzende Passagen, wie wenn der Historiker Dr. Max über Seiten hinweg den pseudowissenschaftlichen Erweis erbringt, dass es sich bei „Robin Hood und seiner fröhlichen Schar“ um „eine Horde von ... warmen Brüdern“ gehandelt habe. Hier wird nicht nur ein Nationalmythos gegen den Strich gebürstet, sondern auch das Argumentarium der gender studies mit hämischer Freude an die Wand gefahren. Solche Stellen entschädigen das Lesefrüchtchen wieder für manch harzige Lektürestunde.

Mittwoch, 5. April 2017

Georges Manolescu: Gescheitert (1905)

Diese Memoiren des rumänischen Gentleman-Verbrechers und Hochstaplers Georges Manolescu haben Thomas Mann zu seinem Roman Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull inspiriert. Manolescu schildert mit Lakonie und entwaffnendem Ehrgefühl seine Karriere als Betrüger. Wie bei allen Hochstaplern so sind auch Manolescus Betrügereien bloß Mittel zum Zweck. Sein designiertes Ziel ist der soziale Aufstieg in die bessere Gesellschaft. Umsetzen will er diesen „Wunsch nach Luxus und Glanz“ durch eine reiche Heirat, wozu er sich aber erst ein Startkapital erwirtschaften muss. Bevor er als Heiratsschwindler in Erscheinung treten kann, betätigt er sich zunächst als Juweliers- und Hoteldieb quer durch Europa, um „endlich die spröde Fortuna in [s]eine Arme zu schließen“. Auch im Casino versucht er sein Glück mehrmals, verliert dort aber sein Geld schneller, als er es sich durch weitere krumme Touren wieder beschaffen kann.

Ohnehin ist der Betrüger öfters auch der Betrogene. Er wird von Frauen hintergangen und landet für kurze Zeit mehrfach im Gefängnis. Zuletzt wird er von der Polizei bei einer Großfahndung geschnappt und zu einem langjährigen Strafaufenthalt verdonnert. Er versucht durch simulierten Wahnsinn dem Kerker zu entgehen, gerät dabei aber vom Regen in die Traufe, nämlich in die geschlossene Berliner Irrenanstalt Herzberge, aus der es angeblich kein Entrinnen gibt. Manolescu – der seit seiner „zartesten Jugend“ das Wort „unmöglich“ aus seinem „Wörterbuch“ gestrichen hat – gelingt jedoch die Flucht aus der Anstalt, begeht seinen letzten Coup in Dresden, um sich mit der Beute über die Landesgrenze in Freiheit zu setzen. Über diverse Umwege trifft er schließlich in New York ein, wo er sich mit ehrlicher Arbeit eine neue Existenz aufbaut.

Manolescu erzählt keine Erfolgsgeschichte, sondern den sukzessiven Niedergang seiner Hochstapelei – trotz erheblichem Geschick in List und Trug. Das erklärt den Titel „Gescheitert“ und macht Manolescu als Antihelden sympathisch. Er agiert nicht aus Schadenfreude oder Niedertracht betrügerisch, sondern weil sich in der modernen Gesellschaft genug blauäugige Bauernopfer finden. Sein Motto lautet: „Mundus vult decipi, oder deutsch: Die Dummen werden nicht alle.“ Die Welt will betrogen sein – so lautete bereits die Maxime im barocken Schelmenroman Die drei ärgsten Erznarren (1672) von Christian Weise. Tatsächlich besitzt der Hochstapler mit der Frivolität, wie er sich über soziale Konventionen hinwegsetzt, gewisse Charakterzüge des Pikaro. Er ist schlau, gewandt und weiß sich zu seinem Vorteil in der Welt zu behaupten. Insofern ist er auch eine sozialkritische Figur, weil er durch seine trügerische Mimikry den falschen Schein der Gesellschaft entlarvt.

Der eigentliche Witz dieser Memoiren besteht aber darin, dass sie nur bedingt der Wahrheit entsprechen. Vielmehr setzt Manolescu seine Hochstapelei auch als Autor fort. Ja mehr noch: Er bescheinigt sich eine Genialität als Langfinger und sozialer Blender, die er in Tat und Wahrheit gar nicht besaß. Wie der Kriminalpsychologe Erich Wulffen nachgeprüft hat, war Manolescu ein höchst mittelmäßiger Scharlatan, der kein besonderes Renommee besaß. Den Ruf des genialen Meisterdiebs erschrieb er sich also förmlich bzw. erschwindelte sie mit den Mitteln der Literatur. Erst durch die in Deutschland äußerst erfolgreiche Buchpublikation wurde er zu dem „Jahrhunderthochstapler“, als der er heute noch bekannt ist. Dabei hatte sein Verleger, der den auf Französisch diktierten Text rasch und relativ frei auf Deutsch übersetzen ließ, ein hohes kommerzielles Interesse an den Memoiren, die gut dem damaligen Publikumsinteresse nach dem Typus des Edelverbrechers (wie Raffles in England oder Arsène Lupin in Frankreich) entsprachen. Der Verkaufserfolg gab ihm recht und verschaffte Manolescu, so paradox es klingen mag, eine bloß angetäuschte Karriere als Hochstapler.

Montag, 3. April 2017

Mara Genschel: Cute Gedanken (2017)

Das Lesefrüchtchen ist – mit Walter Benjamin gesprochen – ein genießendes Prosawesen; mit Lyrik hat es entsprechend wenig am Hut. Aber gerade in jüngerer Zeit sind einige interessante Lyrikproduktionen erschienen, und die roughbooks sind für solche Entdeckungen stets eine gute Adresse. Hier wagt man Experimente, ohne dass der Lesegenuss flöten geht. Hier wahrt man formalen und literarischen Anspruch und vergisst trotzdem nicht den Spaß dabei. Das gilt auch für die aktuelle Nummer 042 der Reihe: Cute Gedanken von Mara Genschel. Die Autorin macht dabei von einer alten Avantgardepraxis Gebrauch: der Einbindung von Fehlern und Pannen in den kreativen Prozess. Hans Arp gestaltete zum Beispiel seine Manuskripte unleserlich, damit die Setzer beim Entziffern ihre Phantasie spielen lassen konnte. Und Dieter Roth ließ seine Scheisse-Gedichte in Providence von amerikanischen Studenten drucken, die kein Deutsch konnten und so unfreiwillig Tippfehler produzierten.

Bei Mara Genschel sind es keine amerikanischen Studenten, aber ein amerikanisches Mobiltelefon, dessen Korrekturfunktion automatisch die deutschen SMS umschrieb, so dass zuweilen ein kurioses Esperanto entstand. Vom Sprachklang her zwar immer noch verständlich, eröffnen die amerikanisierten Einsprengsel oft eine zweite Bedeutungsebene. Das beginnt schon im Titel: Hinter Cute Gedanken schwingen lautlich noch „Gute Gedanken“ mit, liest man hingegen die englische Bedeutung dazu, dann sind es auch „Niedliche Gedanken“. So differieren Wortklang und Wortbedeutung oft und erzeugen eine gewisse semantische Spannung oder Unschärfe, die manchmal nur komisch ist (weil es wie die Parodie eines heavy american accent klingt: das Lesefrüchtchen hatte bei der Lektüre irgendwie immer Shawne Fielding im Ohr), manchmal aber auch hintersinnig sein kann – wie bspw.: „Later porose Begriffe, auf Miss vers transmission erbaut.“ Manchmal gelingen sogar richtige poetische Miniaturen: „It doesn't look as crazy as you | think, sagt Mir Ruel und mein | meinen traurig verschmierten | Lippenstift I'm Gruppenbild.“

Die SMS-Form mit seiner Zeichenzahlbeschränkung erinnert zudem an das japanische Kurzgedicht Haiku. Wie dieses so ist auch Genschels SMS-Lyrik aus dem Alltag gegriffen. Sie dokumentiert ihren offenbar etwas tristen Aufenthalt als writer in residence in Iowa. ('Auweia' hat nun meine deutsche Tastatur fast daraus gemacht.)