Das
Lesefrüchtchen hat sich endlich ein Herz gefasst und alle Lektüren
beiseite geschoben, um sich endlich dem Stapel der vergessenen Leckerbissen zu
nähern. Aus Laune griff es zunächst zu H.P. Lovecraft, nicht
zuletzt auch, weil die Übersetzung aus der Feder von H.C. Artmann
stammt. Artmann, dieser grandiose Avantgarde-Autor und Liebhaber von
Trivialgenres, hat Lovecraft für den deutschsprachigen Raum
entdeckt, als er noch in niemandes Munde war. Heute gilt Lovecraft
hingegen als Ikone der gehobenen Horror-Story und ist auch unter
E-Literaten längst salonfähig geworden. Jedenfalls muss man sich in
ihren Kreisen nicht schämen, wenn man Lovecraft liest – was
eigentlich eher gegen als für den Autor spricht. Aber letztlich kann
er für die intellektuelle Vereinnahmung nichts.
Lovecraft
ist in erster Linie ein brillanter Techniker. Er schöpft aus dem
Vollen, was die bizarren Abgründe der menschlichen Phantasie angeht.
Seine Erzählungen sind weniger Orgien des Horrors als der
Einbildungskraft. Er ist ein unermüdlicher Erfinder phantastischer
und grauenerregender Szenarien, die er mit einer ungeheuerlichen
Akribie und schier unermüdlichen Darstellungs schildert. Dabei sind
die meisten Erzählungen gar nicht auf eine Wirkungsästhetik hin
komponiert. Jedenfalls packt einem der beschriebenen Schauer selten.
Das heißt: Die Geschichten sind, was sicher an ihrer analytischen
Ausrichtung liegt, nicht per se schrecklich, sie beschreiben lediglich den
Schrecken in all seinen perversen Abarten. Wenn Giorgio Manganelli im
Vorwort Lovcraft als „Pornographen des Grauens“ betitelt, liegt
er genau richtig. Wie de Sade in endlosen Variationen seine tableaus
aneinanderreiht, so wiederholt auch Lovecraft seine Schilderungen des Schreckens
bis zur Ekstase - oder Ermüdung.
Die
Kurzgeschichten sind praktisch alle nach demselben Schema aufgebaut:
Durch eine pseudodokumentarische Erzählweise wird eine authentische
Nähe zu den geschilderten Ereignissen geschaffen, durch einen
scheinbar kritischen Erzähler deren Glaubwürdigketi anfangs jedoch
relativiert, obwohl von Anfang immer klar ist (was den Geschichten
mitunter die Spannung nimmt): Wie unglaublich die Befürchtungen und
Ahnungen auch anmuten, genau so (oder noch schlimmer) wird es am Ende
auch eintreffen. Sodann wird der Erzähler nicht müde, das Entsetzen
in allen nur erdenklichen Schattierungen auszumalen. Dann läuft er
zur Höchstform auf. Für Lovecraft selber gilt deshalb, was er über
den Maler Pickman in der ersten Erzählung des Bandes schreibt: „er
schilderte mit eiskalter Überlegung eine wohlfundierte Welt des
Horrors“ und ist mit dieser Methode ein „durch und durch genauer,
ja fast wissenschaftlich vorgehender Realist.“ Hier zeigt
sich die wahre Kreativität von Lovecraft: Seine Erzählungen sind
veritable Vokabularien des Grauens, und machen sie wohl für Artmann
als Übersetzer besonders interessant.
Doch
offenbar erwies sich auch das Übersetzen des Horros als
Grenzerfahrung. Zumindest waren die Wortfindungen so ausgesucht, dass
sich nicht alle verlustfrei ins Deutsche übersetzen ließen. Das
Adjektiv „ghoulish“ (engl. für gräulich, makaber) zumindest,
das an mehreren Stellen auftaucht, muss Artmann trotz lexikalischer
Hilfe unbekannt gewesen sein, verdeutsche er es doch schlicht – und
irgendwie auch kongenial – in „ghoulisch“ (das auch in
flektierter Form wie etwa in „das ghoulische Schweigen“ vorkommt)
und schuf damit ein hapax legomena, das seither als Synonym für die
teuflische, böse Seite der Menschheit weiterverwendet oder gar als diabolische Sprache angesehen wird. Ein produktives Missverständnis also,
welches das Grauen in Form eines rätselhaften Worts in die deutsche
Sprache importiert. Nichts ist unheimlicher, als was sich dem
primären Verständnis entzieht.
Und
genau nach diesem Prinzip funktionieren die Erzählungen von
Lovecraft: Sie beschreiben jenen Moment, in dem das Irrationale in
die Welt einbricht, wo sich der Schrecken in Form des absolut
Unbegreiflichen, des Unausdenkbaren manifestiert, dass die
Betroffenen vor Schreck entweder den Verstand verlieren, in
irrsiniges Gelächter ausbrechen oder mit gebrochenen Blick
dahinscheiden. Oft sind es grausige, absolut unhmane, gallert- und
schleimartige Wesen aus den Urtiefen des Meeres, der Vergangenheit
oder des Alls, welche schon lange vor der Menschheit existierten und
nur darauf warten, diese wieder auszulöschen. Wie zum Beispiel der
grosse Cthullhu, der zu Lovecrafts Privatmythologie gehört und auch
in anderen Erzählungen wieder auftaucht, wie auch das berühmte
gewordene Buch Necronomicon des wahnsinnigen Arabers Abdul Alhazred,
das alle Zauberformeln enthält, um die bösartigen Kräfte zu
erwecken.
Darin liegt wohl auch die anhaltende Faszination am Autor: dass er den Horror in der Buchkultur verankert und ihm dadurch als schriftlich tradiertes Erbe eine vermeintliche Genealogie verschafft. Lovecraft schreibt nicht einfach "Geistergeschichten", wie der Erzählband etwas unglücklich betitelt ist; vielmehr arbeitet er an einer vertiablen Kosmologie des Horrors und seiner klandestinen Überlieferung, die eigentlich nicht für menschliche Augen bestimmt ist.