Freitag, 22. August 2025

Haruki Murakami: 1Q84. Buch 1 & 2 (2009)

Vor einem Jahr pfiff sich das Lesefrüchtchen seinen ersten Murakami (Kafka am Strand) rein und war, nun ja, mässig begeistert. Nun knöpft es sich, um dem Autor nochmals eine Chance zu geben, sein Opus magnum vor, auch weil es wohl keine idealere Sommerlektüre geben kann als einen Murakami, der sich in einem Flow wegliest, auch wenn das Buch über 1000 Seiten umfasst. Das Erstaunliche an Murakami ist ja, dass es einem trotz des narrativen Füllmaterials nie langweilig wird. Seine Prosa erzeugt einen eigentümlichen Sog, der über die Inhaltsleere hinweghebt. Gerade deshalb muss man sich bei Murakami aber auch darauf einstellen, dass man sich ab einem gewissen Punkt verarscht vorkommt, wenn sich die hochgekochte Geschichte als dünnes Süppchen erweist: als letztlich zwar technisch brillantes, hochpoliertes, geschmeidiges, aber leider auch substanzarmes Erzählkonstrukt. Es verhält sich, wie es im Roman selbst einmal heisst, dass man "am Ende in einem geheimnisvollen Bassin aus Fragezeichen" (660) zurückgelassen wird, weil es "wie üblich [...] einfach zu viele Fragen und zu wenig Antworten" (910) gibt.

Dabei beginnt der Roman mit einer spektakulären, filmreifen Ouvertüre (musikalisch untermalt von Janaceks Sinfonietta), die man so rasch nicht vergessen wird: Auf der Autobahn Nr. 3 steckt Aomame im Stau in einem Taxi fest, aus dessen Lautsprecher die Sinfonietta erklingt, die sie sofort erkennt, ohne zu wissen warum. Da sie zu einem dringenden Termin muss - und zwar, wie sich als Überraschungseffekt herausstellen wird, um jemanden umzubringen - rät ihr der Taxifahrer, die Notfalltreppe bei der Esso-Reklametafel zu benutzen. Aomame hat noch nie von einer solchen Notfalltreppe gehört, trotzdem beschliesst sie, dem Hinweis des Chauffeurs zu folgen, der ihr noch folgenden Rat mit auf dem Weg gibt: "Die Dinge sind meist nicht das, was sie zu sein scheinen." (18) Das klingt ziemlich nach Twin Peaks. Und der Fahrer fügt noch an: "Aber man darf sich vom äusseren Schein nicht täuschen lassen. Es gibt immer nur eine Realität." (19) Doch just in dem Moment, als Aomame die Treppe (die am Schluss des Romans nicht mehr vorhanden ist) hinuntersteigt, gleitet sie - was sie zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht weiss - in eine andere Realität hinüber: vom Jahr 1984 ins Jahr 1Q84. So als ob "eine zeitliche Schiene", eine "Weiche umgestellt" wurde (802).

Das Q steht für Question Mark, ausserdem sind der Buchstabe Q und die Zahl 9 im Japanischen phonetisch identisch, sodass 1Q84 wie 1984 ausgesprochen wird. Die Referenz auf George Orwells Dystopie ist offensichtlich. Sie findet im Roman auch mehrfach Erwähnung. Doch ist Murkamis Roman keine Neuauflage von Orwells Klassiker. Wie immer bei ihm wird solches Bildungsgut nur oberflächlich eingestreut. Murakami bietet keine kritische Zukunftsvision eines totalitären Systems, sondern eine Fantasiewelt mit zwei Monden am Himmel, wo es um einen universalen Kampf gegen Gut und Böse geht, in den nolens volens die beiden Charakter Aomame und Tengo einbezogen sind, die in der Kindheit eine Art Seelentausch erlebten, als Tengo sich für die gehänselte Aomame zur Wehr setzte, und deshalb täglich aneinander denken müssen, obschon sie sich seit dem 10. Lebensjahr aus den Augen verloren haben: "Dennoch war ihm, als habe Aomame damals einen Teil von ihm mit sich genommen. Einen Teil seiner Selle oder seines Körper. Und dafür einen Teil von sich in ihm zurückgelassen." (632) Im Jahr 1Q84 sind ihre beiden Schicksale miteinander verknüpft, ohne dass sie davon wissen.

Tengo Kawana ist ein zurückgezogener Mathematik-Dozent, der in der Freizeit seinen literarischen Ambitionen nachgeht, ausser kleineren Auftragsarbeiten aber noch keinen eigenen Roman veröffentlicht hat, nun aber die Gelegenheit erhält, als Ghostwriter zu arbeiten. Bei seinem Verleger ging ein spektakuläres Manuskript eines Mädchens namens Fukaeri ein, das trotz sprachlicher Mängel (Fukaeri leidet an Legasthenie, 179) jeden sofort in den Bann zieht. Tengo soll den Text für eine Publikation aufpolieren. Von Anbeginn ist er selber so begeistert von der Geschichte, dass er einen intrinsischen Drang verspürt, sich dem Text zu widmen. Mehr noch versteht Tengo die junge Autorin Fukaeri als "eine an mich gerichtete Botschaft" (492). Die Roman Die Puppe aus Luft, die wie ein "Märchen" (932) anmutet, dreht sich ebenfalls um ein Mädchen, das in einer Kommune mit strengen Regeln aufwächst. Einer Art Sekte, die ähnlich totalitär organisiert ist, wie Orwells Ozeanien. Als sie eines Tage zur Strafe in den "Raum der Selbstkritik" (926) gesperrt wird, kriechen die Little People aus dem Maul einer toten Ziege und beginnen mit dem Mädchen eine Puppe aus Luft zu spinnen, ein leuchtender Kokon, in dessen Innern ein Klon des Mädchens reift, ihre sogenannte "daughter", der "Schatten" ihrer "Seele" (935, 937).

Phantastisch genug, deutet alles darauf hin, dass die Geschichte nicht erfunden ist, es sich viel mehr um autobiographische Erlebnisse handelt. Erzähltechnisch wird kein Zweifel daran gelassen, dass im Jahr 1Q84 die Little People existieren, und zwar in einer genialen Szene, die in ihrer Schlichtheit äusserst effektiv ist. Während die Little People lange Zeit nur in Fukaeris Buch oder in Figurenreden erwähnt werden, es sich also um ein Hirngespinst handeln könnte, erwähnt sie der auktoriale Erzähler plötzlich relativ unvermittelt, als sie aus dem Mund eines Mädchens kriechen, das aus derselben Sekte der "Vorreiter" entflohen ist, von der auch Fukaeris Buch handelt. Mehr noch der "Leader" der Sekte ist niemand anders als Fukaeris Vater, den Aomame im Auftrag einer alten Dame ins Jenseits befördern soll. Aomame, die hauptberuflich in einem Fitnesscenter jobt und zehn Arten kennt, wie man Männern in die Eier tritt, arbeitet nebenher als Auftragskillerin für die vermögende alte Dame. Diese leitet ein Frauenhaus und hat es sich zur Lebensaufgabe gestellt, Femizide und Vergewaltigungen zu rächen. Auch der "Leader" steht im Verdacht, junge Mädchen rituell zu missbrauchen, weshalb er auf der Abschlussliste steht.

Die Begegnung des Leaders mit Aomame ist eine der Schlüsselszenen des Romans. Allein schon der Auftakt, wie Aomame das Hotel betritt und von den Leibwächtern nach oben geführt wird, beweist Murakamis atmosphärisches Erzähltalent. Unter dem Vorwand, sein körperliches Leiden durch eine Massage lindern zu wollen, wird ein Treffen in einem Hotel arrangiert, während sich draussen ein heftiges Unwetter anbahnt. In einem langen Gespräch erläutert der Leader nicht nur die Mythologie der Little People und erklärt, dass er keineswegs mit dem Mädchen in der Sekte schlafe, sondern mit ihren Avataren, den Puppen aus Luft, um sich mit ihnen zu vereinigen, wobei die Mädchen als "Perciever" der Little People fungieren und er selber als "Reciever". Die Little People seien erzürnt, weil Fukaeri ihr Geheimnis mit dem Buch ausgeplaudert und sich ausserdem von der Sekte losgesagt habe, um wieder ein Gleichgewicht zwischen den guten und bösen Kräften im Universum herzustellen, indem sie sich mit Tengo zusammentat, der nun für sie als "Reciever" dient. Tatsächlich ereignet sich zur selben Zeit, als das Gewitter losbricht, eine mystische sexuelle Vereinigung zwischen Fukaeri und Tengo, der körperlich völlig erstarrt, aber mit stramm aufgerichteter Penisantenne auf dem Bett liegt und den rituellen Akt über sich ergehen lässt.

Von zwei Seiten her, sind Aomame und Tengo also in die rätselhaften Vorgänge verstrickt. Fukaeri offenbart Tengo auch, dass sie Aomame ganz in der Nähe befinde, ohne genau sagen zu können wo. Nach ihrem Auftragsmord, den sie schliesslich im Einverständnis des Leaders, der sterben will, ausführt, taucht sie in einer Wohnung unter, unweit von Tengos eigenem Heim. Als er nach dem Koitus mit Fukaeri zum ersten Mal die beiden Monde am Himmel erblickt, sieht ihn von ihrem Fenster aus auch Aomeme, wie er auf dem Spielplatz im Hof oben auf der Rutsche sitzt. Intuitiv erkennt sie, dass es sich um Tengo handeln muss, den sie sehnsüchtig vermisste und sich doch nie auf die Suche nach ihm machte, sondern ihr bisheriges Leben auf die zufällige Wiederbegegnung wartete. Doch auch in diesem Moment verpassen sie einander. Tengo ist sich nicht einmal bewusst, dass er beobachtet wird. Wenig später jedoch, am Ende des Romans, sieht er auf dem Bett seines todkranken Vaters eine Puppe aus Luft in deren Kokon er das Abbild der 10jährigen Aomame erblickt. In diesem Augenblick weiss Tengo, sie haben sich "gefunden." (1021)

In der Nacherzählung wirkt vieles platt, wie Teenagerliteratur für Erwachsene, garniert mit einigen Sexszenen. Die Stärke von Murakami liegt eindeutig in der narrativen Technik, wie er die eigentlich hanebüchene Geschichte auf tausend Seiten auswalzt und vor allem durch die Parallelführung der beiden Erzählstränge von Aomame und Tengo und eine dosierte Informationsverteilung so geschickt aufbaut, dass ein permanenter Spannungsbogen aufrecht erhalten wird, der zum Weiterlesen zwingt. Nur sukzessive gibt der Roman die Zusammenhänge preis. Zwischendurch werden Alltagsroutinen und allgemeine Beobachtungen bzw. Reflexionen eingestreut in Form von Floskeln und Lebensweisheiten, so allgemeingültig, dass sich jeder damit einverstanden erklären kann. Wie überhaupt die Prosa äusserst austariert und glattpoliert ist und sich, abgesehen von gewissen übertrieben bildhaften Vergleichen, keine Exzentrizitäten erlaubt. Zum Beispiel: "und öffnete die Flache mit einer knappen präzisen Handbewegung, fast als würde er einem Vogel den Hals umdrehen" (556). Oder: "Doch in dieser kurzen Zeit hat ich seelisch und körperlich angerührt. Wie man mit einem Löffel eine Tasse Kakao umrührt." (983 f.) Dezente Stilbrüche in einer sonst unauffälligen Prosa.

Es gibt noch einen dritten Teil, den das Lesefrüchtchen nicht gelesen hat. Gemäss der Einschätzung auf Fanforen handelt es sich eher um einen müden Aufguss und bietet nicht wirklich Neues. Und irgendwie ist das offene Ende, das zugleich schon vorwegnimmt, dass sich Tengo und Aomame wieder begegnen werden, auch besser. Das zweite Buch schliesst mit dem Satz: "Ich werde Aomame finden, bekräftigte er seinen Entschluss. Was auch geschieht, wo und wir sie auch sei." (1021)

Haruki Murakami: 1Q84. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Köln: DuMont Buchverlag, 2010.

Sonntag, 17. August 2025

J. M. Coetzee: Leben und Zeit des Michael K. (1983)

Ein Buch, das bei fortschreitender Lektüre immer stärker in den Bann zieht. Wie sich die Hauptfigur, der tumbe Tor Michael K., nicht nur radikal von der Gesellschaft abwendet, sondern sich aus dem Leben richtiggehend zurückzieht und sich eine eigene Welt ausserhalb aller menschlichen Bindungen einrichtet und damit seine innere Abgeschiedenheit durch die äussere Isolation sinnfällig werden lässt, ist in der geschilderten Konsequenz von einer beunruhigenden Wucht. "Er ist nicht von unserer Welt. Er lebt in einer ganz eigenen Welt." (174), sagt ein ihn untersuchender Arzt einmal fassungslos. "Du hast Dein ganzes Leben geschlafen" (111), sagt Robert, eine andere Figur.

Freilich ein Aussenseiter war der mit einer Hasenscharte geborene Michael K. schon seit seiner Geburt: ein eingeschlossener/ausgeschlossener Dritter, wie Michel Serres seine Denkfigur des Parasiten umschreibt. Einer, der nicht ins System passt und doch notwendig mit ihm zusammenhängt. Als Parasit versteht sich K. selbst: "Doch im übrigen lebte er jenseits von Kalender und Uhr in einer gesegnet vernachlässigten Ecke, halb wachend, halb schlafend. Wie ein im Darm dösender Parasit" (143). Die Metapher wird später vom Erzähler nochmals aufgenommen: "Michaels hat die Därme des Staates unverdaut passiert." (197). Michael K. wird in seiner Passivität - er will im Grunde nichts anderes als schlafen, vegetieren - zu einer seltsamen Widerstandsfigur inmitten von Bürgerkriegswirren. Je nach Perspektive "eine Witzfigur, ein Clown, ein Holzkopf" (183) oder - ein Heiliger.

Daran appelliert das Zitat von Heraklit, das dem Roman vorangestellt ist. Und zwar das berühmte Diktum, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei. Doch das Zitat geht noch weiter, wenn es heisst: "die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen; die einen zu Sklaven, die andern zu Freien." Michael K. gehört zu Letzteren: Ohne es zu beabsichtigen, geht er aus den Kriegszuständen als Verkörperung absoluter Freiheit hervor: als eine Art Adamit, der sich als "Kind dieser Erde" in seinem selbsterschaffenen Paradiesgärtchen, seinem "Garten Eden" (190), verkriecht, um "sich in den Eingeweiden der Erde zu vergraben, als deren Geschöpf zu werden" (132) Darin mündet schliesslich die Erkenntnis des Protagonisten: "die Wahrheit, die Wahrheit über mich. Ich bin ein Gärtner" (219). 

Der Roman erzählt die Geschichte einer Person, die eigentlich nicht existiert - oder nicht existieren dürfte: ein "ungeborenes Geschöpf" (166), ein Häuflein menschlicher Abfall, das "in einer Welt wie dieser nie hätte geboren werden sollen" (190) -, aber gerade dadurch zum Existential wird: von einem (mit Hasenscharte) Gezeichneten zu einem Zeichen der Zeit. Michael K. will mit seiner kranken Mutter zurück von Kapstadt in ihre Heimat aufs Land ziehen, in der Hoffnung auf gesundheitliche Besserung. Doch auf dem Weg stirbt sie und Michael erreicht sein Ziel nur mit einem Päckchen Asche unter dem Arm, das er auf dem ehemaligen Landgut verstreut, in ihrer Ackererde Kürbisse und Melonen züchtet und sich selbst, aus Furcht vom Militär entdeckt zu werden, in die Muttererde vergräbt, wo er in einer uterusähnlichen Grube haust.

Die Früchte aus der mit der Mutter gedüngten Scholle zieht er wie Ersatzkinder hoch: "Er lag in seinem Bau und dachte an diese seine zweiten Kinder, wie sie den Kampf aufnahmen durch die dunkle Erde zur Sonne empor." (126) Seine Zeit verbringt er neben der Kürbissucht hauptsächlich mit Schlafen. Er isst immer weniger. Schliesslich wird er halb verhungert von Soldaten aufgespürt, die ihn für einen Widerstandskämpfer halten, der hier Notvorräte für seine Verbündeten anlegt. Sie schleppen ihn in ein Militärlager und wollen ihn zu einem Geständnis zwingen. Doch Michael bleibt so verstockt und wortkarg, wie er auch jegliche Nahrungsaufnahme verweigert. Egal ob im Lager oder draussen: Überall versuchen die Menschen vergeblich, ihn wieder zum Essen zu bewegen. Doch er entzieht sich jedes Mal solcher "Nächstenliebe" (218) und verharrt in seiner hermetisch verschlossenen Welt.

Es dauert ein wenig, bis der Roman in Schwung kommt. Lange Zeit fragt man sich, worauf die Geschichte hinausläuft und weshalb sie erzählt wird, bis sich die existentielle Dimension mit zwingender Logik audrängt: Was sich hier am Rande der südafrikanischen Bürgerkriegs abspielt, ist eine einzige Parabel auf das Dasein, erkennbar an so ungeheuerlichen Sätzen wie diesen: "Es schien nichts zu tun zu geben als zu leben." (85) Eine Erkenntnis, die Michael K. in einem Wiedereingliederungslager ereilt. Das Lager wird so zur Metapher für die Conditio humana ("Soll ich hier in diesem Lager endlich etwas über das Leben erfahren?", 112) - und K.'s Fluchtversuche zum Ausdruck des Wunsches, die menschliche Gesellschaft hinter sich zu lassen: "Die Wahrheit ist vielleicht, dass es genügt, ausserhalb der Lager zu sein, ausserhalb aller Lager zugleich." (220)

Doch werden solche Deutungsversuche vom Roman direkt wieder sabotiert, zumal die Frage nach der Symbolik des Protagonisten selbst zum Thema wird. Die Figur des sich restlos verweigernden Michael K. stellt nicht nur ein Rätsel, sondern für die Gesellschaft zugleich ein Ärgernis dar, weshalb von allen Seiten versucht wird, ihn zu 'verstehen' und wieder in die Gemeinschaft einzugliedern. Es gehört mit zur ausgeklügelten Erzählweise, dass der zweite von drei Teilen aus der Sicht eines Arztes geschildert wird, der - getrieben von einem "Verlangen nach Bedeutung" (202) - K. "Geheimnis" (201) unbedingt ergründen will, letztlich aber einsehen muss, dass jeder Erklärungsversuch zum Scheitern verurteilt ist. Coetzee installiert somit die Position des hilflosen Interpreten in der Geschichte selbst. K. wiederum hält seine Geschichte folgerichtig für "unbedeutend" (212).

Literarische Referenzen gibt es viele: vom Schelmenroman bis zur Robinsonade. Vor allem aber steckt viel Kafka in dem Roman, worauf das Initial K.* des Protagonisten bereits hindeutet: In seiner Essensverweigerung gleicht er dem Hungerkünstler, seine Lagererfahrungen lassen Erinnerungen an die Strafkolonie wach werden, und wie er sich, einem "Maulwurf" (132, 219) ähnlich, in der Erde verkriecht, gleicht er dem wühlenden Tier im Bau. Auch Parallelen an die Verwandlung lassen sich ziehen, da K. eine Art Metamorphose zu einem sozialem Ungeziefer vollzieht. Einmal wird er tatsächlich auch ein "stockartiges Insekt" (183) genannt. Und schliesslich ist im deutenden Arzt, der in Michael K. eine "sich ballende Bedeutsamkeit" (202), gar ein "Symbol" (203) erblicken will, eine Referenz an die Exegese der Türhüter-Legende im Process-Roman zu erblicken, wo die hermeneutische Vergeblichkeit ebenso vorgeführt wird.

J.M. Coetzee: Leben und Zeit des Michael K. Roman. Aus dem Englischen von Wulf Teichmann. 5. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2003.

*Nachträgliche Anmerkungen: Bei "Michael K." denken die literaturhistorisch beschlagenen Leser, zu denen freilich auch Coetzee gehört, selbstverständlich auch an Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist. Coetzees Michael K. ist quasi die Antithese zu Kohlhaas: kein blinder Wüterich gegen die Ungerechtigkeit, sondern, wenn man so will, eine Figur der passiven Aggressivität - und darin wiederum auch dem Schreiber Bartebly aus Melvilles gleichnamiger Erzählung verwandt, dessen bedingungslose Verweigerungshaltung ebenso unerklärlich wie provokant ist.

Freitag, 15. August 2025

Juan Rulfo: Pedro Páramo (1955)

Juan Rulfo gilt als Ikone und Modernisierer der mexikanischen Literatur. Obschon - oder vielleicht gerade weil - er nur ein schmales Oeuvre vorzuweisen hat. Er zählt zum Club der Ein-Buch-Autoren, die ausser einem bahnbrechenden Werk kaum etwas anderes mehr publizierten. Neben wenigen Erzählungen, die 1953 unter dem Titel Der Llamo in Flammen erschienen sind, ist es bei Rulfo der Kurzroman Pedro Páramo, der seinen Ruf als moderner Klassiker begründet hat. Jorge Luis Borges hält ihn für einen der besten Roman überhaupt.

Obschon es von Untoten und unerlöster Seelen nur so wimmelt, ist es kein Zombieroman. Vielmehr handelt es sich um einen höchst orchestrierten Chor der Toten: ein vielstimmiges Geflüster und Geraune ehemaliger Einwohner der mexikanischen Ortschaft Comala, das gleich zu Beginn schon als Purgatorium erscheint: "Da ist es wie auf glühenden Kohlen, wie im Höllenschlund. Wenn ich Ihnen sage, dass die Leute dort, wenn sie sterben, aus der Hölle wieder zurückkommen, um sich eine Decke zu holen." (4) Die Toten kommen tatsächlich zurück und berichten vom Schicksal des gefürchteten und verachteten Gutsherrn Pedro Páramo, der das Landgut Medialuna übernommen hat, nachdem sein Vater an einer Hochzeit in Vilmayo erschossen wurde (86). Bereits er war ein Tyrann, der einen gewaltigen Schuldenberg hinterliess.

Seinen Sohn Pedro hielt er für einen "Faulenzer" (43) und Nichtsnutz; doch dieser erweist als Nachfolger eine "Gerissenheit", die diejenige seines Vaters noch übertrifft. Er installiert sich als Autokrat und lässt alle nach seine Pfeife tanzen: "Von jetzt ab machen wir das Gesetz." (45). Er unterstützt sogar die Revolutionäre, um sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen (105). In einer zentralen Metapher wird er als Unkraut bezeichnet, das sich epidemisch vermehrt: "Die Sache fing damit an, [...] dass Pedro Páramo aus dem Nichts, das er gewesen war, zu einer Macht wurde. Er wuchs wie Unkraut." (75) Eine Gütergemeinschaft wegen hält er um die Hand von Dolores "Lola" Preciado an, die ihn aber bald verlässt, nachdem sie ihm einen Sohn namens Juan geboren hat, den sie mitnimmt. Aus seiner Perspektive wird der Roman anfänglich erzählt. Seine Mutter bitte ihn auf dem Totenbett, nach Comala zurückzukehren und seinen Vater aufzusuchen.

Der Roman beginnt mit Juans Reise nach Comala. Was er dort antrifft, ist jedoch nurmehr eine Geisterstadt. Nicht von ungefähr ist sie mit "Capitana", einem "Unkraut" (11) überwuchert, das symbolisch für die vernichtende Herrschaft (capitana bedeutet auch Anführer) unter Páramo steht. Juan begegnet verschiedenen Personen aus dem Umfeld seines Vaters, die sich aber rasch als Gespenster aus der Vergangenheit erweisen: "Damiana, sagen Sie, Damiana, sind Sie überhaupt ein lebendiger Mensch?" (48) - "Seid ihr auch Tote?" (52) Selbst Pedro Páramo ist, wie sich herausstellt, längst gestorben. Und bald liegt auch Juan im Grab - "in einem schwarzen Kasten, in einem richtigen Sarg" (82) - und lauscht dem Stimmengewirr der Toten, die ihm die Geschichte seines Vaters in fragmentarischer, unzusammenhängender Form erzählen. Literarisch werden diese Textstücke jedoch genial ineinander montiert, so dass ein flirrendes, kleidoskopartiges Gebilde entsteht, das Wirklichkeit und Phantasmagorie in ständiger Schwebe hält.

Pedro steht im Ruf eines "Wutnickel" (33) und "Hurensohn[s] von Gutsherrn" (35). Er führt ein selbstsüchtiges Leben und bedient sich der Frauen im Dorf nach Belieben. Doch sein Herz schlägt nur für seine Jugendliebe Susana, die er seit seiner Kindheit nie mehr gesehen hatte, sich aber in einer irrationalen Sehnsucht zu ihr verzehrt: als Wesen, "das er mehr liebte als irgendeinen anderen Mensch auf der ganzen Erde" (103). Diese fatale Liebe wird ihm und dem gesamten Ort zum Verhängnis. Das erkennt der Vater Susanas sofort, als er mit ihr nach Comala zurückkehrt: "Es gibt Dörfer, die schmecken nach Unglück. Das ist ein unglückliches Dorf, ganz und gar vollgesogen mit Unglück." (90) Gegen ihren Willen nimmt Pedro Susana zur Frau, doch diese verhält sich apathisch: Liegt tagelang im Bett in wirren Fieberträumen versunken (109), in denen sie ihrem verstorbenen Geliebten Florencio nachtrauert. Im Dorf gilt sie schon bald als "wahnsinnig" (92), als "eine arme Verrückte", die "Selbstgespräche" (119) führt, die man weitum hört: "Da schreit ein Mensch, aber das klingt nicht, wie ein menschliches Wesen schreit." (95)

Als Susana schliesslich stirbt, schwört Pedro Rache: "Er schwor, sich an Comala zu rächen." (125) So führt schliesslich alles zum Niedergang, auch von Pedro Páramo selbst. Am Ende vegetiert er, schon halb im Jenseits, beim "Paradiesbaum" dahin und hofft auf einen baldigen Tod, um der drückenden Last seiner Schuld zu entkommen: "Denn er hatte Angst vor den Nächten, die die Dunkelheit ihm mit Gespenster bevölkerte, Angst, mit seinen Gespenstern allen zu sein." (133). Der Roman ist das vielstimmige Geflüster dieser Gespenster, die Pedro Páramo auf dem Gewissen hat. Deshalb trägt der Roman seinen Namen als Titel, weil er sozusagen seine persönliche Nemesis darstellt. Dabei handelt es sich um einen telling name. In Pedro steckt der Stein (piedra) und tatsächlich zerfällt die Figur am Ende dieses symbolträchtigen Romans buchstäblich zu Stein: "Er schlug hart auf die Erde auf und fiel auseinander wie ein Haufen Steine." (133). Páramo wiederum bedeutet baumloses Hochland. Wie schon beim Vergleich mit dem Unkraut wird auch hier die Figur mit einer unwirtlichen Topographie gleichgesetzt.

Juan Rulfo: Pedro Páramo. Roman. Aus dem Spanischen von Mariana Frenk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975.

Dienstag, 12. August 2025

Aura Xilonen: Gringo Champ (2015)

Dieses Buch haut tüchtig auf die Fresse, verbal wie thematisch. Es geht um Liberio, einen jungen, ca. 18jährigen Mexikaner, der illegal über die Grenze in die Südstaaten gelangt und seine Weisheit auf der Strasse findet. Er lernt dort wortwörtlich, sich durchzuschlagen, sowie seine mit Kraftausdrücken gespickte Gossensprache, in der auch das Buch - aus seiner Erzählperspektive - geschrieben ist. An einer Stelle heisst es einmal, er würde mühelos den "Weltrekord der schlimmen Wörter" (188) halten. Unter die zwar vulgäre, doch durchaus originelle Ausdrucksweise mischt sich aber immer wieder Bildungsgut, was zu komischen Kombinationen von schief angewendeten Fremdworten führt: von "paläozoischen Prügeln" (160) ist die Rede, von "anapästischem Lachen" (154) oder "präteritivem Käse" (173).

Angeeignet hat sich der Waisenjunge dieses Vokabular in der Buchhandlung, in der er für den dubiosen "Chief", der mit Schöngeist bloss seinen grobschlächtigen, korrupten Charakter kaschiert, schwarz als Aushilfskraft arbeitet, dafür auf dem Dachboden des Geschäfts wohnen kann. Nächtens schleppt er dort Bücher hin und verschlingt mit Feuereifer die Klassiker von der Antike bis zum Goldenen Zeitalter unter Zuhilfenahme eines Wörterbuchs, da er anfangs kaum etwas versteht. Vor allem stört es ihn, dass die Literatur so rein gar nichts mit dem richtigen Leben zu tun hat, das in seinem Fall mit "all dem Pech" (116) tatsächlich alles andere als Romanhaft anmutet: "alles scheint hier gegen mich zu sein" (129), stellt Liborio einmal fest. In kursiv gesetzten Rückblenden rollt er gedanklich seine Herkunft und die Flucht über die Grenze auf. 

Seine leibliche Mutter hat er nie gekannt. Angeblich starb sie bei seiner Geburt. Aufgewachsen ist er bei einer Patenttante, die mehr wert darauf legte, lediglich die 'Patentante' zu sein als dass sie ihre Sorgfaltspflicht wahrgenommen hätte. Im Gegenteil: Sie unterversorgt, prügelt und beschimpft ihn. Ein tödlicher Unfall bei einem Strassenkampf zwingt ihn schliesslich, Mexiko zu verlassen. Er schafft es, schwimmend, mit letzter Kraft über die Grenze und bleibt wie leblos in der Wüste liegen, wo er von einer Gruppe von, ebenfalls illegal immigrierten, Baumwollpflückern aufgelesen wird. Einer Razzia dort entkommt er ebenfalls, wie durch ein Wunder, indem er stundenlang in einer Schlangenhöhle ausharrt. Seine Resilienz scheint übermenschlich: Er ist nicht nur ein Überlebender, sondern ein mehrfach Auferstandener (108, 143).

"Bin schliesslich tot auf die Welt gekommen" (7), heisst es gleich zu Beginn. Liborio ist einer, der nichts zu verlieren hat und deshalb alles einstecken kann. Das zeigt sich, als er eines Tages einer "Chica", die er heimlich anhimmelt, zur Hilfe eilt, als sie von Jungs belästigt wird. Er schlägt buchstäblich alle in die Flucht. Am nächsten Tag muss er deswegen seinerseits einstecken. Hinterrücks wir er von einer Truppe "Mickerficker" niedergeprügelt. Er liegt am Boden, lässt aber alle Fusstritte stoisch über sich ergehen, was eine abgehalfterte Journalistin filmt und online stellt. Der Clip geht viral und Liborio avanciert ohne sein Wissen zum Star. Erst recht, als ein zweites Video die Runde macht, in dem Liborio, der kurzzeitig als Sparringpartner dienen muss, einen Boxer in Sekundenschnelle ausser Gefecht setzt.

Doch das alles interessiert den jungen Immigranten herzlich wenig. Er hat nur Augen für die "Chica", die er verteidigt hat und die sich nach dem brutalen Angriff um ihn zu kümmern beginnt. Sie gibt ihm neue Schuhe und verschafft ihm unter dem Vorwand, er sei ihr Cousin, eine Bleibe. Es kommt zwangsläufig zu einer Annährung zwischen ihm und Airee. Beide werden jedoch abrupt bei einer Flucht vor der Polizei auseinandergerissen wird, als Airee beim Diebstahl eines teuren Medikaments für ihren Grossvater erwischt wird. Liborio kommt in einem Heim für Obdachlose unter, der "Sekte der Aufgeschmissenen" (191), wie sich die Insassen liebevoll nennen, und lernt dort die neunmalkluge Noemie kennen, die an ihren Rollstuhl gefesselt ist. Im Heim entdeckt man sein Boxtalent, weswegen er für eine Wohltätigkeitsveranstaltung in den Ring steigt - und selbstredend als Held aus dem Ring geht. Alle seine Gegner hat er in Nullkommanichts platt gemacht. Durch die erzielte Medienaufmerksamkeit gelangt das Heim zu neuen Gönnern und Liberio kann sogar, zusammen mit Noemie, eine Bibliothek dort einrichten.

Die Geschichte verläuft in absehbaren Bahnen sowohl, was die äusserliche Wende (der unterschätzte Underdog kämpft sich zum Erfolg), als auch die innere angeht (die Entwicklung zum moralisch gereiften Charakter, die sich übrigens auch sprachlich durch eine Abnahme der Gossensprache vollzieht), überzeugt aber stets mit plastisch ausgestalteten Szenen und Dialogen. Das Storytelling und die Figurenzeichnung sind handwerklich brillant, so dass die Lektüre spannend bleibt und zunehmend auch emotional berührt. Dabei ist es dem Roman hoch anzurechnen, dass er das ganz grosse Happy End vermeidet und Liborio die angehimmelte Aireen nicht für sich gewinnen kann. Sie heiratet einen anderen. Stattdessen kündigt sich eine Romanze zur gehbehinderten Noemie an - ein ungleiches Paar: wie Don Quijote und Sancho Pansa, so der letzte intertextuelle Wink am Ende des Romans.

Seit Erscheinen des international gefeierten und preisgekrönten Debüts, ist kein Zweitling der Autorin erschienen. In einem Text für die Neue Zürcher Zeitung vergleicht sie sich mit ihrem Landsmann Juan Rulfo und mit Harper Lee - beide sind nach ihren Erstlingswerken literarisch verstummt, haben jedoch Bleibendes hinterlassen. Man könnte auch J.D. Salinger nennen, mit dessen Holden Cauffield der Kämpe Liborio mehr als nur eine Gemeinsamkeit teilt. Ohne sich direkt in diese Fluchtlinie zu stellen, hinterfragt die Autorin den Sinn des Weiterschreibens, zumindest Weiterpublizierens, unter erhöhtem Erwartungsdruck, aber auch in einer Zeit, wo sich das Schreiben durch die Flut nicht nur an Gedrucktem, sondern auch durch unzählige Foren und Blogs, wie diesem hier des Lesefrüchtchens, selbst entwertet. Was ist der Sinn des Schreibens, wenn es keinen Spass mehr macht, wenn es zur Pflicht wird? Das nennt man Selbstbewusstsein: Landet mit 19 Jahren einen "fokkin" Beststeller und sagt dann: Das war's mit der Schreiberei, mehr ist nicht zu wollen.

Aura Xilonen: Gringo Champ. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. München: Carl Hanser Verlag, 2019.

Dienstag, 22. Juli 2025

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex 2 (2015)

Teil 2 von Virginie Despentes' Erfolgstrilogie rund um den vergammelten Plattenhändler Vernon Subutex, der weniger als Hauptfigur, sondern als gesellschaftliches Gravitationszentrum agiert. Despentes beerbt quasi Balzacs Comédie humaine für das 21. Jahrhundert. Der Roman entwirft das Sittengemälde einer Gesellschaft im Umbruch, in der Krise, in der sich unbemerkt ein Wertesystem verschiebt, ohne dass ein neues bereits in Aussicht wäre. "Alles! Alles ist im Arsch!" (383) heult die Figur Sylvie gegen Ende des Romans und die andern rätseln, was sie mit diesem Ausruf genau meint, ob es bloss eine "persönliche Feststellung" sei. Wenige Seiten weiter wird es jedoch unmissverständlich klarer: "Macht euch nichts vor. Die Welt ist im Arsch. Die, die wir kannten. Alles, wovon ihr redet, ist schon vorbei. [...] Hört endlich auf zu erzählen, dass gestern alles besser war und es morgen noch schlimmer wird. Wir sind im Dazwischen." (387)

Mitten in dieser Umbruchphase erscheint Vernon Subutex als neue Heilsfigur. In Teil 1 verlor er seine Wohnung, kam bei verschiedenen Freunden unter und schlug sich mehr schlecht als recht durch das Leben als Arbeitsloser. In Teil 2 treffen wir Subutex als Clochard in der Butte Bergyre wieder, am Rande der Gesellschaft, aber mit seinem Schicksal im Reinen. Regelmässig gerät er in ekstatische Zustände, in denen er zu schweben scheint und den Dingen auf den Grund sieht: "die Stadt spricht zu ihm und er entschlüsselt ihr Gemurmel" (12). Damit wird bereits angedeutet, dass Subutex zu einem profanen Heiligen wird, zum "Schamane[n] Europas" (208), zum "Prophet" (215), zum "Mini-Guru des 19. Arrondissements" (334), um den sich bald eine Erlösungsgemeinschaft von "Subutex-Jüngern" (215) schart. Der Text lässt keine Zweifel daran, dass Vernon eine Schlüsselfigur, ein Symptom der Gegenwart darstellt: "das Rätsel des Jahrzehnts" (280).

Auch sonst knüpft Despentes an die unmittelbare Gegenwart und pinselt ein groteskes Sittenbild unserer heutigen Gesellschaft. Die Folie liefert diesmal die Strauss-Kahn-Affäre von 2011. Im Roman ist es der schmierige Produzent Laurent Dopalet, der die Porno-Schauspielerin Vodka Satana mehrfach missbraucht, mit Koks vollgepumpt, zu seinem Vergnügen sexuell gedemütigt und in den Tod getrieben haben soll. Das behauptet zumindest ihr Ex, der ebenfalls verstorbene Indie-Rock-Sänger Alex Beach, in einem hinterlassenen Video, hinter dem alle herjagen, eben weil es diese belastende Aussage enthält. Aïcha, Satanas Tochter, und die Hyäne, die frisch rausgeschmissene Assistentin Dopalets, starten darauf einen Rachefeldzug, nehmen den Produzenten gefangen, malträtieren ihn wie Furien und tätowieren das Verdikt "Mörder" und "Vergewaltiger" auf den Rücken.

Doch es ist nicht Dopalet, der schliesslich draufgeht, sondern vollkommen unerwartet der unglückliche Loïc, der gegen Ende des Romans von seinen ehemaligen Faschokameraden hinterrücks niedergeschlagen wird, nachdem er einen Abend lang mit Pamela, der von ihm verehrten Pornostar, tanzen durfte. Dieser Tod, so absurd er ist, rüttelt jedoch die Gemeinschaft um Subutex auf. Er wirkt kathartisch. Nach dem Begräbnis beschliessen sie eine Auszeit zu nehmen und gründen eine Aussteiger-Kommune zuerst in den Vogesen, dann auf Korsika. Vernon hat alle zum Schweben gebracht: "Wenn der Wahnsinn, so abgedreht er auch sein mag, von einer Gruppe geteilt wird, kann er zum Lebensstil werden." (384) Nicht von ungefähr in einer Kapelle findet die finale Party statt, in der Vernon als begnadeter DJ einmal mehr auflegt und die Menge in Trance versetzt. Zu den "Lebenden" gesellen sich auch "die Toten und die Unsichtbaren" (395). So endet der Roman mit der Utopie einer freien Gesellschaft.

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex 2. Roman, übers. von Claudia Steinitz. 4. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2021.

Bester Satz im ganzen Buch: "Was haben sie in den Neunzigern mit der ganzen Zeit gemacht, die sie nicht damit verbracht haben, Mails zu beantworten?" (161) Berechtigte Frage.

Montag, 21. Juli 2025

Ann Cotten: Verbannt! Versepos (2016)

Versuch einer kurzen Zusammenfassung: Eine "sehr begabte Fernsehmoderatorin" (49) hat die Tochter Lena ihrer Kollegin verführt (oder sich von ihr verführen lassen), worauf die Mutter einen Prozess anstrebt, der indes wieder fallen gelassen wird, weil die Motive Lenas (angeregt durch zu viel "exquisite Manga-Seiten") an dem Getechtel unklar waren. Stattdessen heckt die Tochter den Plan für eine neue Reality-TV-Sendung aus: "Verführ den Moderator" (22), in der das Ziel ist, die Moderatorin mit allen Mitteln rumzukriegen. Durch den Druck schlittert die Moderatorin in ein seelisches Ungleichgewicht und in einen liederlichen Lebenswandel, so dass sie für die Sendung untragbar wird. Von Lena vor die Wahl gestellt: Entweder eine freiwillige Burstvergrösserung oder ab auf die Verbannungsinsel Tantalos (23), entscheidet sich die Moderatorin für letzteres und darf als einzige drei Dinge mitnehmen: ein Schleifstein, ein Messer und ein 22bändiges Meyer-Konversationslexikon aus dem Jahr 1910. Die unfreiwillige Robinsonade kann beginnen. Wobei, freiwillig sind Robinsonaden ja nie.

Auf der Insel angekommen denkt die Moderatorin zunächst darüber nach, Bier zu brauen, bevor eine niederfallende Kokosnuss sie auf die Idee bringt, es mit dieser Paradiesfrucht zu versuchen. Doch es nähert sich ein Tiger, weshalb die Moderatorin rasch auf die Palme flüchtet. Sogleich erklingt ein lauter Knall. Die Moderatorin vermutet eine Atomexplosion bzw. erwartet einen Sturm, der nicht eintritt, was die Moderatorin an sich selbst zweifeln lässt: "Wie angeschlagen ist mein Selbstvertrauen" (57). In ihrer Sinnkrise denkt sie darüber nach, die Zeit zurückzudrehen: "Ich scratche Wirklichkeit" (47). Dieser Wirklichkeits-Scratch erfolgt schon sehr bald nach drei längeren Exkursen über das Wetter (die Wolken), die Psyche und die Seele. Wobei es sich vielmehr um einen Wirklichkeits-Glitch handelt: Was bislang zwar ziemlich skurril, aber nicht gänzlich unrealistisch anmutete, kippt auf die phantastische Ebene, als mit Wonnekind der Bürgermeister der Insel auftritt, die er "Hegelland" nennt. Dort leitet er eine Gruppe ehemaliger Quäker an, die in der Verehrung der Schraube eine neue Religion gefunden haben.

Die Gruppe publiziert drei Zeitungen, die als Illustrationen von Ann Cotten auch abgebildet sind: die rechtskonservative N-Presse (das N steht für "naiv"), die postmoderne Zy-Presse und das satirische Wisch-Blatt. In allen drei Zeitungen geht es Frauen, welche sich die ziemlich notgeile Truppe herbeisehnt. Schon bald soll auf der Insel von Frauen nur so wimmeln. Denn es erfolgt eine Metamorphose, welche die Geschichte nun vollends im Phantastischen ansiedelt. Der Moderatorin wächst ein Geweih, ein "Riesenpimmel" (73) sowie ein Fischschwanz und transformiert sich in eine Mischung von Götterbote Hermes und Wolpertinger, beides zwei mythologische Wesen, denen man hohe Wandelbarkeit nachsagt. Doch damit nicht genug: Bald stellt sich heraus, dass die Hoden dieses Wesens tief ins Erdreich wurzeln und mit dem Internet verbunden sind, es sich also um "Interhoden" (151) handelt. Aus dem Kabel des Netzes entsteigt der Reihe nach, nicht nur der Internetspion Pan Orama (Wortspiel aus dem Bocksgott Pan und dem Begriff "Panorama"), sondern eine Horde Frauen, die aus einer Beautyklinik ins Internet geflüchtet sind, darunter auch Pans alte Geliebte Syrinx, die sich in der Klinik eine Beinprothese machen liess.

Uff. Doch die Absurditätsschraube dreht sich munter weiter: Die Frauen fallen über die Männer her, was Pan verhindern möchte, indem er zu einer Frauenbewegung aufruft, allerdings vergebens: "Er muss seine Vorstellungen vom Feminismus überdenken" (118). Er versucht die griessfressenden Ziegen auf seine Seite zu ziehen, doch Syrinx weiss dies zu verhindern. Pan sucht unterdessen Kontakt zur Umweltschutzgruppe der Kryptomerienfreunde und es stellt sich heraus, dass das Internet pleite ist, weshalb die Frauen nicht mehr zurückgehen können. Es tauchen noch etliche andere Absonderlichkeiten auf, wie eine lesende Eselin, die die gesamte Insel mit Strom versorgt (148), bis die gesamte Geschichte implodiert und in einer lexikographische Passage mit "Seemüll" mündet, die es locker mit Homers berühmten Schiffskatalog aus der Ilias aufnehmen kann. Sie knüpft dabei just an jene Stelle an, bevor die Geschichte ins Phantastische kippte. Bereits dort wurden über mehrere Seiten alle Lemmata mit "See-" aufgeführt, die schliesslich beim Eintrag "Seele" endete (61). Nicht von ungefähr hat die Moderatorin ein Nachschlagewerk mit auf die Insel genommen.

So durchgeknallt der hier nur ansatzweise skizzierte Plot auch klingt, das ist nur die eine Hälfte der Geschichte. Es handelt sich nämlich um keine konventionelle Prosaerzählung, sondern um ein Versepos! Also jenes verstaubte Genre, das um 1900 nochmals kurz von Carl Spitteler oder Theodor Däubler wachgerufen wurde. "wir schreiben in zu ungewohnten Stilen" (15), heisst es zu Beginn, und zwar, genauer gesagt, in der - allerdings nicht überall konsequent angewendeten - "Byronstrophe" (9), besser bekannt als Spenserstrophe, eine nach Edmund Spenser benannte Adaption der italienischen Stanze, der sich die englischen Romantiker, darunter auch Lord Byron, bevorzugt bedienten. Weiter hinten wird die Zeile "Lass die Götter immer ihre Formen wechseln" zitiert, von einem, "den wirklich niemand mehr kennt" (72), nicht einmal das leitmotivische Internet ergibt einen Treffer. Natürlich denkt man sofort an Ovids Metamorphosen, doch im Wortlaut existiert dort diese Zeile nicht. Wahrscheinlich stammt sie von Ann Cotten selbst.

Item, der Seitenhieb soll wohl bloss noch einmal unterstreichen, dass die Autorin mit dem Versepos eine antiquierte Form beerbt - und mit der Spenserstrophe obendrein ein strenges Versmass wählt. Diese doppelte Einschränkung lockert sie jedoch zweifach wieder auf: Formal, indem sie relativ nonchalant damit umgeht und die metrischen Vorgaben insbesondere für allerlei sprachliche Komik nutzt, für erzwungene Reime (Dänen/Migränen, 31; Bienensprache/Karlheinz Strache, 54; Gottverschleiss/Denkergirls und -boys; 72; "Fellationen/Interpretationen", 99), kühne Enjambements ("eher Soß- / e ist die Spezialität", 92; "herg- / ekommen", 99), schräge Vergleiche ("wie eine langverheiratete Luxusnutte / den Flachbildschirm betätigt", 41; "Mein Herz klopft wie ein Geigerzähler in Minamisoma", 54; "erschöpft wie Erdnussflips", 111) und waghalsige Gedankenflüge, bei denen man sich manchmal wundert, wie sie wieder auf sicheren Boden gelangen. Oftmals scheint es so, als diktiere das Versmass den Fortgang des Epos, und nicht umgekehrt, als würde der Inhalt bloss in die vorgegebene sprachliche Form gegossen: "Man findet lieber einen komplett irren Reim, / lässt zu, dass was passiert - passieren muss -, auch wirklich kein / Schwein mehr verstehen kann, weil es nichts zu verstehen gibt" (44).

Das führt zum zweiten Punkt, den Cottens Versepos so zeitgemäss und lebendig macht: Sie konterkariert die hohe Form (genus sublime) durch den frivolen Inhalt und bewirkt mit dieser Kontrafaktur einen weiteren komischen Stilbruch. Doch handelt es sich weniger um eine Parodie, als um eine konsequente Weiterentwicklung, die auch den historischen Vorläufern Tribut zollt: vom anfänglichen klassischen Musenanruf bis hin zu unzähligen intertextuellen Verweisen auf die Meister des Versepos wie eben Homer oder John Milton (149). Mehr noch bietet die antiquierte Form das ideale Gegengewicht für die im Epos formulierte Medienkritik der Gegenwart: Mit Thrash-TV, Boulevard-Presse und Internet figurieren gleich drei dominante, meinungsbestimmende Leitmedien unserer Unterhaltungskultur. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Moderatorin mit einem - ebenfalls aus der Zeit gefallenen - Konversationslexikon von 1910 unterwegs ist und nicht etwa versucht, "alles mittels Wikipedia zu kapieren" (127).

Man muss nicht alles nachvollziehen wollen, was in geballter Form in diesem Epos steckt, das dem Lesefrüchtchen allen Respekt vor dieser atemberaubenden Leistung abverlangt. Das Vergnügen teilt sich allein schon mit, wenn man sich auf den schier grenzenlosen und meist höchst schrägen Phantasiereichtum einlässt, wie er in einem unmotiviert eingeschobenen Minidrama zum Beispiel prägnant zum Ausdruck kommt, das auch ein gutes Muster für die Sprachspielkunst und den absurden Witz der Autorin abgibt: "Aroma-Aria heisst das nächste Stück, und Orama | spielt darin ein in seinen Herrn verliebtes Lama. | Benni erscheint als Engel der Erkenntnis, | erklärend, dass jedwede Ordnung Schändung ist. | Das Lama blökt und masturbiert und emigriert nach Ghana; | der Herr, gespielt von Karma, weint lange und bitterlich, | denn wie sich nun herausstellt, weiss er nicht, | wie sein, wenn niemand an ihn glaubt. Die Ordnung bricht zusammen." (155)

Ann Cotten: Verbannt! Versepos. Mit Illustrationen von Ann Cotten. Berlin: Suhrkamp 2016.

Sonntag, 20. Juli 2025

Friederike Mayröcker: ich bin in der Anstalt (2010)

In Österreich gilt die 1924 in Wien geborene Friederike Mayröcker als "Jahrhundertdichterin", was angesichts ihrer Lebensspanne, sie starb mit 96 Jahren, rein temporal sicher zutreffend ist. Ansonsten zählt Mayröcker wohl eher zu den Autorinnen, deren Ruf grösser ist als ihre faktische Lesegemeinde, zumal ihr sperriges und eigensinniges Werk sich einer breiten Rezeption von Anfang an verweigert. Erzählungen im konventionellen Sinn sucht man Mayröcker jedenfalls vergeblich. Es handelt sich quasi um einen ununterbrochenen, assoziationsreichen Schreibstrom, in den alles einmündet, was die Autorin liest, hört, wahrnimmt und worüber sie sich Gedanken macht. Ein Leben, das ganz und gar in die Schrift ein- und aufgeht, was sofort augenscheinlich wird, wenn man die Bilder von Mayröckers mit Zetteln und Manuskripten von oben bis unten vollgestopften Wohnung sieht. Frieda Paris hat es treffend einen "lebenslangen Satz" genannt, woran Mayröcker arbeite. 

2010 erschien mit ich bin der Anstalt ein selbst für Mayröckers Verhältnisse spezielles Buch, da es bloss - wie es im Untertitel heisst - "Fusznoten zu einem ungeschriebenen Werk" enthält. (Weil Mayröckers Hermes Baby keine Taste für das scharfe Eszett kennt, transkribierte sie es mit "sz", eine Kaprize, die auch im Druck beibehalten wird, anfänglich sehr zum Unverständnis des damaligen Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld.) Insgesamt sind es 243 solcher Fussnoten (oder Abschnitte) von unterschiedlicher Länge. Manche sind nur eine Zeile lang, andere wachsen über eine Seite an. Dieses fragmentierte Kompositionsprinzip kommt der ohnehin schon diskontinuierlichen Prosa, jener der Autorin höchsteigenen "pneumatischen Fetzensprache" entgegen, wie es im zwei Jahre zuvor erschienen Band Paloma heisst. Dort ist der Text nicht in Fussnoten, sondern 99 Briefe gegliedert.

Worum geht es? Das ist bei Mayröcker wie immer die falsch gestellte Frage. Bildet ihr Werk doch eine einzige existenzielle Versprachlichungsarbeit. Hier nun aber scheint gerade die Sprache zu versagen - es ist die Rede von "Demenz" (23), Aphasie, "Wortversagen" (84) - und damit dem schreibenden Ich den Boden unter den "Füszen" zu entziehen. Allein die Fussnoten geben noch Halt. Sie versuchen den Zustand einer Sprachkrise sprachlich zu fassen, wobei sich der Sprachzerfall in unvollständigen, elliptischen Sätzen, abgebrochenen Gedanken, fehlenden Worten oder Abbreviaturen bereits manifestiert. Am Ende, in der letzten Fussnote, stehen gar nur noch Punkte, um das Ausbleiben eines Textes zu markieren. Die fragmentarische Form steht somit in Korrelation zum zerrütteten Gedächtnis, aus dem eben kein integrales "Werk" mehr hervorgeht, lediglich "Relikte" und einzelne Bruchstücke, die unverbunden nebeneinanderstehen und ins Offene, Ungeschriebene verweisen. 

Die Motive des Todes und der Vergänglichkeit, des (körperlichen) Zerfalls und "Ruins" (21) stehen, wie überall in Mayröckers Alterswerk, im Vordergrund. Der Tod ist der grosse Angstpartner, gegen den die Autorin anschreibt, da mit dem Tod nicht nur ihr Leben, sondern das damit unauflösbar verwachsene Schreiben zu Ende ginge. Ein für eine Graphomanin geradezu beunruhigender Gedanke: "ich begriff dasz ich nur noch 1 kurze Spanne (KNOSPE) haben würde zu leben und zu schreiben und ich geriet in 1 panische Angst" (173). Nahezu protokollartig, tlw. mit präzisen Datumsangaben, halten die einzelnen Einträge alltägliche Beobachtungen, Lektüren und Erinnerungen fest, klammern sich schriftlich geradezu an alle Details, um sie ja nicht zu vergessen. Häufig kreisen die Gedanken um den verstorbenen Lebenspartner Ernst Jandl, der - anders als bei etlichen anderen Personen, die mit Klarnamen genannt werden - lediglich als ER (in Versalien) apostrophiert wird oder als fingierte Figur Ely auftritt. 

Die Lektüre gestaltet trotz der Widerständigkeit des Textes einen eigentümlichen Sog und lässt zwei Erfahrungen zu: Zum einen, wie die additive Auflistung von zunächst unspektakulär heterogenen Wahrnehmungs-, Gedanken- und Erinnerungssplittern plötzlich in poetische Verdichtungen umschlagen kann, ohne dass sich dieser Übergang genau bezeichnen oder das eine vom anderen trennen liesse; zum anderen, wie in einer experimentellen Prosa ein hohes Mass an Sentiment mitschwingt, was für solche Textsorten eher unüblich ist. Doch da bei Mayröcker Leben und Werk in eins verschmelzen, verhält es sich so, wie die Autorin selber schreibt, "dasz ich schamlos und mich entblösze in meinen Schriften" (109) Hierbei zitiert sie auch Jean Genet, der sagt, wenn er ein Buch verlasse, sind "die Füsze nackt" (157). So verweisen die Fussnoten zugleich auf den entblössten, den 'barfüssigen' Text, wie überhaupt das Wort 'Füsse' oder die Wendung 'zu meinen Füssen' in hoher Okkurrenz auftritt und damit Form und Inhalt verschränkt. An solchen Stellen zeigt sich, wie genau und zwingend der Text trotz seiner scheinbaren Disparatheit gearbeitet ist.

Mayröcker begreift sich als "Bettlerin des Wortes" (190). Sie zitiert häufig und legt die Intertexte offen aus. In diesem Fall sind es vor allem drei Werke von Jacques Derrida, auf deren Folie Mayröcker schreibt: Glas (Totenglocke), das in zwei Kolumnen Hegel und Jean Genet einander gegenüberstellt, die Mémoires d'aveugle, aus dem die Motive der Trauer und Tränen abgleitet sind sowie Jeoffrey Benningtons Derrida-Biographie, die Derridas Circumfession in Form von Fussnoten enthält. An dieses Strukturprinzip knüpft Mayröcker auch inhaltlich an: Ihre Fussnoten präsentieren sich ebenfalls als Bekenntnisse mit Verweis auf Augustinus, allerdings auch mit dem initialen Hinweis, dass Bekenntnisse "nichts mit der Wahrheit zu tun haben, nämlich die hingeweinten" (9). Auch da beruft sie sich auf ihren Gewährsmann Derrida, der offenbar weinend feststellte, "dasz 1 Bekenntnis nicht mit der Wahrheit zu tun hat" (66).

So bleibt auch der Realitätsgrad von Mayröckers Konfessionen trotz aller Wirklichkeitsindikatoren offen, nicht zuletzt deshalb, weil sich Gegenwärtiges oft nahtlos mit Reminiszenzen zu einem atemporalen Kontinuum verschmelzen. Alles spielt letztlich alles unterschiedslos im Kopf des schreibenden Ich ab, in einem mentalen Innenraum, als den man im übertragenen Sinn die titelgebende "Anstalt" verstehen könnte: als Ort der Introspektion: "ich lausche auf dei Vorgänge in meinem Gehirn" (85). Ob das ebenfalls im Titel angeführte "ich", sich in einer realen Anstalt befindet oder diesen Zustand nur mantrahaft heraufbeschwört (die Titelphrase "ich bin in der Anstalt" wird im Buch zigfach wiederholt), bleibt ungewiss. In einem Interview sagte die Autorin: "Anstalt ist für mich überhaupt etwas Anziehendes. Und man weiss ja auch nicht, ist es eine Anstalt, ist es ein Spital, handelt es sich um eine Irrenanstalt? Handelt es sich um ein Gefängnis? Es bleibt ja alles offen."

Die Anstalt, das Gefängnis, die Zelle als idealer, weil isolierter Ort des Schreibens ist ein in der abendländischen Literaturgeschichte weit verbreiteter Topos. In gewisser Hinsicht war auch Mayröckers legendär gewordene, bis an die Decke mit Papieren vollgestopfte Wohnung eine solche Schreib-Anstalt, ein von der Aussenwelt abgeschirmter Raum, der allein ihr den kreativen Freiraum verschaffte. Im Buch vergleicht sie ihr "Gehäuse" einmal treffend mit "1 Merzbau" (98).

Friederike Mayröcker: ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk. Berlin: Suhrkamp 2010.

Am Rande bemerkenswert: a) wie sich die Autorin gegen eine geschlechterspezifische Vereinnahmung positioniert: "gender Begriff, es gibt keine Frauenliteratur" (29), "es gibt keine spezifisch weibliche Kunst, usw." (89); wie sie die zeitgenössische Philologie beurteilt: "Feuer und das ist das richtige Wort in unserem Gespräch über den Stil der Literaturwissenschaftler nämlich dasz es ihnen manchmal fehle" (86)