Ein raffiniert konstruiertes Buch mit hohen Suspense-Potential, das man entsprechend kaum mehr aus der Hand legen mag. Ein Buch auch, das nach beendeter Lektüre weiter zum Rätseln anregt. Dabei handelt es sich im Kern um eine unglückliche Liebesgeschichte zwischen Sarah und Robert, die in den 1980er Jahren gemeinsam in einem Studentenwohnheim in Ashdown wohnten. Nach einer belastenden Beziehung mit dem narzisstisch gestörten Gregory verliebt sich Sarah in ihre Kommilitonin Veronica, was dem sensiblen Robert fast das Herz bricht, weil er seit der ersten Begegnung heimlich in Sarah verliebt ist. Als sich die beiden, nachdem Sarah ihre Liäson zu Veronica wieder aufgelöst hat, am Abschlussabend schliesslich näher kommen, zögert Robert und verpasst dadurch seine einmalige Chance. Total zerstört schlägt er sich in seinem Zimmer den Kopf wund und schmiert im Selbsthass "Arschloch" an die Wand.
Mehr als zehn Jahre später befindet sich in diesem Wohnheim eine Schlafklinik, geleitet von grössenwahnsinnigen Dr. Drudden, niemand anders als Sarahs exzentrischer Ex-Freund Gregory. Auch der von Robert an der Wand hinterlassen Schriftzug taucht in einem Patientenzimmer wieder auf wie überhaupt sich die (uneingelöste) Vergangenheit wieder in dem Haus einfindet. Denn Sarah verabschiedete sich damals von Robert mit der Bemerkung, ihre ideale Partnerin wäre wohl eine weibliche Ausgabe von Robert, nämlich seine Zwillingsschwester Cleo. Das Problem ist nur: diese Zwillingsschwester gibt es gar nicht. Sie ist eine Erfindung von Sarah, die - unter Narkolepsie leidend - die seltsame Angewohnheit hat, dass sie gewisse Träume für die Realität hält. Und so glaubt sie sich fälschlicherweise an ein Gespräch mit Robert über Cleo zu erinnern. Aus Liebe zu Sarah nimmt er sie vor dem Gespött seiner Kameraden in Schutz und unterstützt diese Fiktion - mit fatalen Folgen.
Denn zehn Jahre später ist er - nach einer Geschlechtsumwandlung - selbst zu dieser Cleo geworden, die als Dr. Madison in der Schlafklinik arbeitet. Er hat, in der Hoffnung, Sarah dadurch endlich für sich zu gewinnen, ihren Wunsch wahrgemacht und sich, für sie, zur Frau transformiert - nur leider ist Sarah längst (mit einem Mann!) verlobt, was Robert alias Cleo endgültig das Herz bricht. Bevor er sich zu erkennen geben kann, verschwindet er für immer aus Sarah Leben und taucht als Dr. Madison in der Schlafklinik unter, bis sich eines Tages ein alter Studienfreund, der mittlerweile unter Schlaflosigkeit leidende Filmkritiker Terry, dort einliefern lässt und aufgrund der physiognomischen Ähnlichkeit in Dr. Madison Roberts vermeintliche Zwillingsschwester erkennt. Dieser lüftet zwar ihre Identität nicht, stattdessen führt die Begegnung zu einer anderen, nicht weniger überraschenden Entdeckung.
Als Student war Terry besessen von einem verschollenen Film des obskuren italienischen Regisseurs Salvatore Ortese. Auf der Suche nach Spuren, stösst er in einem Archiv schliesslich auf ein einziges Foto von den Dreharbeiten, das er mitgehen lässt und als kleines Heiligtum aufbewahrt. Wie sich am Ende herausstellt, zeigt das Bild die Sequenz aus einem Traum von Robert, den dieser seit seiner Kindheit in Erinnerung hat: Eine Frau in Krankenschwester zeigt auf ein Krankenhaus in der Ferne. Dieses Traumbild deutet sowohl auf die Geschlechtsumwandlung Roberts wie auch auf die spätere Begegnung mit Sarah hin. Denn die Frau auf dem Bild steht unter einem Schild mit der Aufschrift "Fermer" - so wie Robert am Schluss in weiblicher Gestalt Sarah aufsucht, die an der "Fermer Road" wohnt. Traum- und Filmwirklichkeit münden somit in eine höhere Realität. Oder ist etwa alles nur ein Traum von Terry, der während seines Aufenthalts in der Schlafklinik sukzessive in die R.E.M.-Phase hinübergleitet? Immerhin war es seine Überzeugung, dass nie gesehene Filme die schönsten Träume sind.
Auch Erzähltechnisch gleiten die zeitlichen Ebenen - die Kapitel alternieren zwischen der Studentengeschichte und den Geschehnissen 15 Jahre später im Schlaflabor - teilweise mitten im Satz ineinander über. Eine strenge Wach-Schlaf-Grenze wird dadurch aufgehoben und es bleibt in der Schwebe, ob es sich um ein geträumtes Leben oder einen gelebten Traum handelt. Hinzu kommt, dass die Geschichte nicht chronologisch erzählt wird, sondern nach dem Prinzip eines klassischen Krimis sukzessive neue Details enthüllt werden, die hier in dieser Zusammenfassung längst gespoilert sind. Die mehrschichte Erzählstruktur erweist sich nicht zuletzt auch in Bezug auf den Titel: Mit dem Haus des Schlafs ist, naheliegend, die Schlafklinik des Dr. Drudden gemeint, es handelt sich aber auch um den Titel eines Buches im Buch: um einen Trivialroman des Schriftsteller Frank King (ein Seitenhieb auf Stephen King?), der für die Protagonisten in Coes Roman eine symbolische Bedeutung einnimmt.
Wie hier elegant verschiedene Motive - Schlaf, Film, Doppelgänger und schon früh: Geschlechteridentität - anspruchsvoll verknüpft werden, ohne dabei den Handlungs- und Spannungsbogen aus den Augen zu verlieren, verrät ein gekonntes Handwerk. Jonathan Coe ist ein schlauer Kopf und ein satirisch genauer Beobachter. Das zeigt sich auch und insbesondere an Passagen, die er zuweilen einstreut, ohne dass sie in ihrer Ausführlichkeit erzählökonomisch zwingend nötig wären: Etwa die Schilderung einer entgleisenden Unterrichtsstunde, ein absurdes Gruppendynamik-Seminar oder ein Zeitungsartikel mit verrutschten Fussnoten, die nun völlig schräge bis obszöne Bezüge herstellen - hier brilliert der Autor nicht nur technisch, sondern auch komödiantisch. Letzteres gilt auch für die grandiose Parodie auf Lacans Psychoanalyse, dessen fragwürdige Interpretationsansätze auf die Schippe genommen wird - und zwar just in direkter Anwendung auf die Geschichte selbst. Selten liest man einen Roman, der so vielschichtig ist und trotzdem unterhaltsam daherkommt.