Mittwoch, 29. Januar 2025

Charles Bukowski: Post Office (1971)

Bukowski ist eine Legende. Der Hemingway der Unterschicht und Underdogs. Sein Moniker Henry Chinaski ist hart im Nehmen und nie maulfaul. Einer der abgefuckten Typen, die man im realen Leben eher meidet, in Bukowskis literarischer Darstellung jedoch sofort alle Sympathien entgegenfliegen. So unbekümmert möchte man sich auch durchs Leben schlagen, wenn man nur den nötigen Mumm dazu hätte. Chinaski machts vor und ist dabei fortwährend er selbst, verbiegt sich in keiner Sekunde.

Post Office - auf Deutsch unter dem Titel Der Mann mit der Ledertasche erschienen - war Bukowskis erster Roman, in dem er seine 11jährige Leidenszeit als Briefsortierer beim United States Postal Service verarbeitete. Aus der Ich-Perspektive erzählt sein alter Ego Henry Chinaski, wie er als Aushilfspostbote anfing und sich schliesslich als regulärer Postbeamte bewährte, trotz periodischer Verweise und Ermahnungen wegen seiner Unpünktlichkeit, seiner Trunksucht und seines unsteten Lebenswandels.

Ironisch stellt Bukowski seinem Roman die offizielle Deklaration des "Berufsethos" der amerikanischen Post voran, die auf absolute Integrität ihrer Mitarbeiter pocht. Dem entspricht Chinaski natürlich nicht im Geringsten. Er kümmert sich keinen Deut um seine Reputation und vor unsinnigen Vorschriften und selbstgefälligen Autoritäten hat er schon gar keinen Respekt, erst recht nicht wenn diese ihre Position ausnutzen, um die Angestellten zu schikanieren.

Chinaski lässt sich von nichts und niemandem kleinkriegen. Er ruht in seiner Prolo-Attitüde (Rennbahn, Beischlaf, Alkohol) gewissermassen stoisch in sich selbst. Egal, ob er bei strömendem Regen die Post verteilen muss, einer Nymphomanin zum Opfer fällt, fast von einem Christbaum erschlagen oder von Büffeln über die Weide gejagt wird, stets bewahrt er Haltung und wirkt völlig ernüchtert - wenn dieser Ausdruck beim ständig verkaterten Chinaski nicht total unangebracht wäre.

Wie Hemingway so ist auch Bukowski ein Autor des knappen Stils. Die Sprache ist auf das Äusserste reduziert, gewinnt aber gerade dadurch ihren spröden, sarkastischen Charme. Der böse Witz teilt sich - trotz aller derben Direktheit - oft zwischen den Zeilen mit. In den Leerstellen, dem Ungesagten. So gelingen bei Bukowski selbst abgedroschene Metaphern, die bei anderen Autoren sofort in Kitsch abstürzen würden, wie der Vogel im Käfig, der ganz zum Schluss als Allegorie für die 11 Jahre Frondienst bei der Post aufgerufen wird.

Montag, 27. Januar 2025

Jeanette Winterson: Frankissstein (2019)

Ein Roman für die Gegenwart, der aktuelle Fragen rund um KI, VR, Transhumanismus, Genderfluidität miteinander verquirlt und an die Franksteingeschichte zurückbindet, der Schauergeschichte um die Erschaffung eines künstlichen Menschen. Eine Idee, die die Autorin bereits in ihrem Roman Das Power-Book von 1998 anwandte, wo sie Ovids Metamorphosen und Virigina Woolfs Orlando mit dem Cyberspace in Verbindung bringt. Orlando wird auch in Frankissstein kurz als "erster Trans-Roman" erwähnt. Und auch dort wechseln sich zwei zeitliche Ebenen, eine historische und eine gegenwärtig-erfundene, alternierend ab und überblenden sich punktuell: Die historische Ebene rund um Mary Shelley, wie die Achtzehnjährige 1816 in Gesellschaft ihres Gemahls Percy Shelley, Lord Byron und dem Arzt John Polidori an einem verregneten Tag oberhalb des Genfer Sees die Geschichte von Frankenstein erfindet, die zwei Jahre später für Aufsehen sorgen wird. Der andere Erzählstrang spielt in einer leicht zukünftigen Gegenwart: Auch hier steht eine Mary Shelley im Zentrum, die sich aber Ry nennt, weil sie sich zum Mann umwandeln liess. Das heisst: Sie nimmt Hormone, verzichtete aber auf einen operativen Eingriff, so dass sie halb Frau, halb Mann ein Zwitterwesen darstellt.

Ry Shelley ist Arzt und versorgt einen gewissen Victor Stein regelmässig mit frischen Leichen für seine Experimente bei Alcor - einer real existierenden Organisation für sogenannte Kryokonservierung. In einem geheimen Labor in Tunnels unterhalb von Manchester konstruiert er intelligente Prothesen und versucht das Gehirn von Jack Good wieder zu reaktivieren, einem genialen Mitarbeiter Alan Turings, der in Bletchley Park während dem Zweiten Weltkrieg an der Dechiffrierung der Enigma beteiligt war (und später Stanley Kubrick für seinen Film Space Odyssey beraten hat.) Victor Stein tritt somit als postmoderner Wiedergänger Frankensteins auf, der mit seinem Monster ebenfalls künstliches (und damit ewiges) Leben schaffen wollte. Zwischen Stein und Ry Shelly entspannt sich eine "Liebesgeschichte" - so auch der Untertitel des Romans. Die Frage, wie Liebe im transhumanen Zeitalter beschaffen sein wird, wenn der Mensch nur noch mit Sexbots interagiert oder lediglich als Gehirn-Upload - als "iHead" - auf einer Cloud existiert, durchzieht den Text leitmotivisch, neben der ebenfalls leitenden Frage nach der Realität. Antworten auf diese Fragen finden sich jedoch keine, auch nicht in der Kontrastierung mit dem romantischen Zeitalter Shelleys, das in der Fiktion zumindest den künstlichen Menschen vorwegnahm.

Zumindest gelangt die Erzählung nicht über das Offensichtlichste hinaus, nämlich, dass der Mensch sich von der Maschine durch sein Seelen- und Gefühlsleben unterscheidet, auch wenn diese Erkenntnis in einem originellen Vergleich mitgeteilt wird: mit dem Herz einerseits als körperliches Organ, andererseits als emotive Metapher, wobei die Konnotation nicht gegensätzlicher sein könnte, wie eine träfe Bemerkung der beiden Mary Shelleys (in Gegenwart und Vergangenheit) belegt: "Jeder Metzger verkauft einem eines. [...] Das, was am Menschen am meisten geschätzt wird, ist das billigste Fleisch: das Herz." Während der Herzmuskel zum Wertlosen gerechnet wird, steht das Herz als Sprachmarke desto höher in Kurs, wie durch eine Wortspielerei demonstriert wird: "Niemand sagt, ich liebe dich von ganzer Niere. Ich liebe dich mit ganzer Leber. Niemand sagt, meine Gallenblase gehört nur dir. Niemand sagt, sie hat mir den Blinddarm gebrochen." Der Mensch lässt sich weder auf seine Körperlichkeit noch allein auf seinen Geist reduzieren: Seine Existenz entfaltet sich just in der Leib-Seele-Dualität, die durch die künstliche Trennung beider Sphären gerade nicht realisieren bzw. technisch simulieren lässt.

Irgendetwas stört das Lesefrüchtchen an diesem Buch, obschon es ein interessantes Thema aufgreift, fachkundig historisches und technisches Wissen mit Fiktion vermischt, mit witzigen bis kalauerhaften Dialogen aufwartet (siehe eben zitierte Kostprobe) und die Dinge immer wieder durch markante Sätze auf den Punkt bringt. Trotzdem wirkt alles allzu glatt und routiniert, als hätte eine Journalistin den Roman verfasst. Die Geschichte bleibt mehrheitlich an der Oberfläche haften und lässt es trotz vieler historischer Bezüge und Zitate an Tiefe vermissen, die gerade bei dieser philosophisch relevanten Thematik einen weniger plakativen Zugang gefordert hätte. Letztlich bleibt von der ohnehin dünnen Story, die sich hauptsächlich in Sachdiskursen und einer fatiganten Obsession für Sexbots erschöpft, auch nicht viel übrig, sie verpufft am Ende ganz einfach. Auch die Charaktere sind allzu platt und stereotyp geraten. Transgender hin oder her. So vielversprechend und aktuell die gewählten Motive sind, literarisch bleibt die Umsetzung weitgehend enttäuschend und gelangt nicht über ein Mittelmass hinaus.

Sonntag, 12. Januar 2025

Jonathan Coe: Das Haus des Schlafes (1997)

Ein raffiniert konstruiertes Buch mit hohen Suspense-Potential, das man entsprechend kaum mehr aus der Hand legen mag. Ein Buch auch, das nach beendeter Lektüre weiter zum Rätseln anregt. Dabei handelt es sich im Kern um eine unglückliche Liebesgeschichte zwischen Sarah und Robert, die in den 1980er Jahren gemeinsam in einem Studentenwohnheim in Ashdown wohnten. Nach einer belastenden Beziehung mit dem narzisstisch gestörten Gregory verliebt sich Sarah in ihre Kommilitonin Veronica, was dem sensiblen Robert fast das Herz bricht, weil er seit der ersten Begegnung heimlich in Sarah verliebt ist. Als sich die beiden, nachdem Sarah ihre Liäson zu Veronica wieder aufgelöst hat, am Abschlussabend schliesslich näher kommen, zögert Robert und verpasst dadurch seine einmalige Chance. Total zerstört schlägt er sich in seinem Zimmer den Kopf wund und schmiert im Selbsthass "Arschloch" an die Wand.

Mehr als zehn Jahre später befindet sich in diesem Wohnheim eine Schlafklinik, geleitet von grössenwahnsinnigen Dr. Drudden, niemand anders als Sarahs exzentrischer Ex-Freund Gregory. Auch der von Robert an der Wand hinterlassen Schriftzug taucht in einem Patientenzimmer wieder auf wie überhaupt sich die (uneingelöste) Vergangenheit wieder in dem Haus einfindet. Denn Sarah verabschiedete sich damals von Robert mit der Bemerkung, ihre ideale Partnerin wäre wohl eine weibliche Ausgabe von Robert, nämlich seine Zwillingsschwester Cleo. Das Problem ist nur: diese Zwillingsschwester gibt es gar nicht. Sie ist eine Erfindung von Sarah, die - unter Narkolepsie leidend - die seltsame Angewohnheit hat, dass sie gewisse Träume für die Realität hält. Und so glaubt sie sich fälschlicherweise an ein Gespräch mit Robert über Cleo zu erinnern. Aus Liebe zu Sarah nimmt er sie vor dem Gespött seiner Kameraden in Schutz und unterstützt diese Fiktion - mit fatalen Folgen.

Denn zehn Jahre später ist er - nach einer Geschlechtsumwandlung - selbst zu dieser Cleo geworden, die als Dr. Madison in der Schlafklinik arbeitet. Er hat, in der Hoffnung, Sarah dadurch endlich für sich zu gewinnen, ihren Wunsch wahrgemacht und sich, für sie, zur Frau transformiert - nur leider ist Sarah längst (mit einem Mann!) verlobt, was Robert alias Cleo endgültig das Herz bricht. Bevor er sich zu erkennen geben kann, verschwindet er für immer aus Sarah Leben und taucht als Dr. Madison in der Schlafklinik unter, bis sich eines Tages ein alter Studienfreund, der mittlerweile unter Schlaflosigkeit leidende Filmkritiker Terry, dort einliefern lässt und aufgrund der physiognomischen Ähnlichkeit in Dr. Madison Roberts vermeintliche Zwillingsschwester erkennt. Dieser lüftet zwar ihre Identität nicht, stattdessen führt die Begegnung zu einer anderen, nicht weniger überraschenden Entdeckung.

Als Student war Terry besessen von einem verschollenen Film des obskuren italienischen Regisseurs Salvatore Ortese. Auf der Suche nach Spuren, stösst er in einem Archiv schliesslich auf ein einziges Foto von den Dreharbeiten, das er mitgehen lässt und als kleines Heiligtum aufbewahrt. Wie sich am Ende herausstellt, zeigt das Bild die Sequenz aus einem Traum von Robert, den dieser seit seiner Kindheit in Erinnerung hat: Eine Frau in Krankenschwester zeigt auf ein Krankenhaus in der Ferne. Dieses Traumbild deutet sowohl auf die Geschlechtsumwandlung Roberts wie auch auf die spätere Begegnung mit Sarah hin. Denn die Frau auf dem Bild steht unter einem Schild mit der Aufschrift "Fermer" - so wie Robert am Schluss in weiblicher Gestalt Sarah aufsucht, die an der "Fermer Road" wohnt. Traum- und Filmwirklichkeit münden somit in eine höhere Realität. Oder ist etwa alles nur ein Traum von Terry, der während seines Aufenthalts in der Schlafklinik sukzessive in die R.E.M.-Phase hinübergleitet? Immerhin war es seine Überzeugung, dass nie gesehene Filme die schönsten Träume sind.

Auch Erzähltechnisch gleiten die zeitlichen Ebenen - die Kapitel alternieren zwischen der Studentengeschichte und den Geschehnissen 15 Jahre später im Schlaflabor - teilweise mitten im Satz ineinander über. Eine strenge Wach-Schlaf-Grenze wird dadurch aufgehoben und es bleibt in der Schwebe, ob es sich um ein geträumtes Leben oder einen gelebten Traum handelt. Hinzu kommt, dass die Geschichte nicht chronologisch erzählt wird, sondern nach dem Prinzip eines klassischen Krimis sukzessive neue Details enthüllt werden, die hier in dieser Zusammenfassung längst gespoilert sind. Die mehrschichte Erzählstruktur erweist sich nicht zuletzt auch in Bezug auf den Titel: Mit dem Haus des Schlafs ist, naheliegend, die Schlafklinik des Dr. Drudden gemeint, es handelt sich aber auch um den Titel eines Buches im Buch: um einen Trivialroman des Schriftsteller Frank King (ein Seitenhieb auf Stephen King?), der für die Protagonisten in Coes Roman eine symbolische Bedeutung einnimmt.

Wie hier elegant verschiedene Motive - Schlaf, Film, Doppelgänger und schon früh: Geschlechteridentität - anspruchsvoll verknüpft werden, ohne dabei den Handlungs- und Spannungsbogen aus den Augen zu verlieren, verrät ein gekonntes Handwerk. Jonathan Coe ist ein schlauer Kopf und ein satirisch genauer Beobachter. Das zeigt sich auch und insbesondere an Passagen, die er zuweilen einstreut, ohne dass sie in ihrer Ausführlichkeit erzählökonomisch zwingend nötig wären: Etwa die Schilderung einer entgleisenden Unterrichtsstunde, ein absurdes Gruppendynamik-Seminar oder ein Zeitungsartikel mit verrutschten Fussnoten, die nun völlig schräge bis obszöne Bezüge herstellen - hier brilliert der Autor nicht nur technisch, sondern auch komödiantisch. Letzteres gilt auch für die grandiose Parodie auf Lacans Psychoanalyse, dessen fragwürdige Interpretationsansätze auf die Schippe genommen wird - und zwar just in direkter Anwendung auf die Geschichte selbst. Selten liest man einen Roman, der so vielschichtig ist und trotzdem unterhaltsam daherkommt.

Mittwoch, 8. Januar 2025

Neal Stephenson: Cryptonomicon (1999)

Im berühmten Kapitel "Cetology" aus Moby Dick vergleicht Herman Melville Walfische mit Buchformaten, wobei man das Verfahren freilich auch umkehren kann. Dann wäre Moby Dick selbstredend ein riesiger Pottwal unter den Büchern. Treffender für Neal Stephensons Cryptonomicon hingegen wäre ein Vergleich mit U-Booten, da die submarinen Manöver während dem Zweiten Weltkrieg im Zentrum des voluminösen Romans stehen. Er würde - damals - mindestens zur japanischen I-400-Klasse der Unterseeboote gehören oder zum Typ XXI der Deutschen. Technologisch aufgerüstete Stahlmonster, aber schwerfällig und daher letztlich wirkungslos. Das gilt ein wenig auch für Stephensons Roman. 

Wie U-Boote haben auch dicke Bücher oft die Schwierigkeit, dass sie nur langsam Fahrt aufnehmen. In Cryptonomicon dauert es fast bis in die Hälfte des Buches, bis die vielen Handlungsstränge erkennbar zusammenlaufen und erste Spannung aufkommt - also nach gut 600 Seiten, nachdem die meisten Bücher ohnehin längst beendet sind. Sergeant Shaftoe, einer der Hauptfiguren des Romans, trifft einmal die Unterscheidung zwischen Männern, die durch Reden etwas erreichen wollen, und Männern, die Reden für reine Zeitverschwendung halten und lieber zur Tat schreiten. Er entdeckt dann noch eine dritte Kategorie von Männern, die "einfach nur Lust" haben, "über Worte zu reden", also unnötig, ja verschwenderisch viele Worte verwenden. Zu dieser Kategorie gehört auch der Schriftsteller Neal Stephenson. Ganz offensichtlich liebt er es, sich möglichst wortreich zu verbreiten.

Neal Stephenson gilt als SF-Autor und wird mitunter der Cyberpunk-Bewegung zugeordnet. Diese Kategorisierung trifft für Cryptonomicon nur bedingt zu. Im Kern handelt es sich um einen zuweilen überzeichneten historischen Spionage-Thriller mit comicartigen Zügen. Ein gewisser, wohl intendierter Trash-Faktor ist dem Roman jedenfalls nicht abzusprechen. Er besteht aus zwei parallel geführten Handlungsebenen, die in alternierenden Kapiteln sukzessive entfaltet und miteinander verknüpft werden. Die erste Handlungsebene spielt während dem Zweiten Weltkrieg. Zwischen den Deutschen und den Alliierten toben nicht nur Kampfeinsätze, sondern auch ein kryptologischer Informationskrieg. Auf der Seite der Alliierten operiert die historisch verbürgte Figur des Mathegenies Alan Turing, dem es gelang, den deutschen ENIGMA-Code zu knacken, und sein (erfundener) Kompagnon Lawrence Waterhouse, auf Seite der Wehrmacht steht Rudolf von Hacklheber. Alle drei kennen sich von früher aus ihrem Studium in Cambridge.

Die andere Handlungsebene spielt am Ende des 20. Jahrhunderts, als amerikanische Jungunternehmer und Programmierer in einem fingierten philippinischen Inselstaat, dem Sulfanat Kinakuta, einen freien Datenhafen errichten wollen und bei der Verlegung von Tiefseekabeln auf das Wrack eines mysteriösen Nazi-U-Bootes stossen, das die Hintergründe einer Schmuggelkomplottes von Goldreserven enthüllt, in die das Figurenarsenal aus der historischen Handlungsebene verstrickt war. Dabei geht auch hervor, dass zwei Figuren der Gegenwart, der Programmierer Randy Waterhouse und die Tiefseetaucherin Amy Shaftoe, mit zwei Figuren aus der Vergangenheit, mit dem bereits erwähnten Mathematiker Waterhouse wie dem Sergeant Shaftoe verwandt sind. Auch narratologisch bewegen sich beide Zeit- und Erzählebenen aufeinander zu: in dem Masse, wie in der Gegenwart die Verschwörung aufgedeckt wird, erfahren wir aus der Vergangenheit, wie sie zustande kam.  

Der grosse Plot zerfällt dabei in unzählige Einzelepisoden, die für sich durchaus amüsant zu lesen sind, nicht zuletzt aufgrund des oft parodistischen Schreibstils des Autors, die Lektüre insgesamt aber zerfasern und schwerfällig gestalten. Es scheint fast so, als habe Stephenson die Technik der im Roman beschriebenen Sondereinheit 2702 auf das Buch selbst angewendet, um die vielleicht allzu durchschaubare Story zu kaschieren. Diese erfundene Sondereinheit, der im Roman auch Alan Turing angehört, wurde von den Alliierten ins Leben gerufen, um statistische Ausreisser wieder auszugleichen, die durch ihr kryptologisch erworbenes Geheimwissen über die Pläne der deutschen Gegner entstanden sind. Dadurch sollte verhindert werden, dass die Nazis Verdacht schöpfen. Die Einheit 2702 konstruiert also alternative Gründe, woher das Wissen stammen könnte, indem sie bspw. künstlich Pfade austrampeln, um einen bereits länger existierenden Horchposten vorzutäuschen. Manche der Episoden in dem Roman gleichen solchen falschen Trampelpfaden.

Fazit: Eine - nur bedingt lohnenswerte - Schwarte. Vom Ansatz her vielversprechend, in der Länge jedoch zeitraubend. 

Montag, 30. Dezember 2024

Libuše Moníková: Die Fassade (1987)

Die Prager Schriftstellerin Libuše Moníková schrieb zeitlebens auf Deutsch. Im Vergleich zu ihrem eher schmalen Oeuvre nimmt sich der Roman Die Fassade, für den sie den Alfred-Döblin-Preis erhielt, als der umfangreichste aus. Er steht ganz in der Tradition des polyhonen, enzyklopädischen, humorvollen Romans. Die Vorliebe der Autorin für Arno Schmidt oder Jean Paul ist ihm in jeder Zeile anzumerken. Sprachmächtig, fremdwortverliebt, anspielungsreich und mit viel verstecktem und teilweise politisch motiviertem Witz entfaltet sich die Schelmengeschichte rund um ein Künstlerquartett, das im Auftrag des böhmischen Denkmalschutzes die Fassade des Schlosses Litomyšl in der Geburtsstadt Smetanas erneuern muss. Anstatt sich aber an die Renaissance-Vorlage zu halten, gestalten sie die Fresken keineswegs originalgetreu, sondern mit neuen, zuweilen aus der Literatur entliehenen Motiven aus. Zum Beispiel verewigen sie auch Franz Kafkas Prozess auf diese Weise. 

Die Palimpsesttechnik gilt auch für die intertextuelle Anlage des Romans. Nicht nur die Schlossfassade überlagert sich mit verschiedenen Versatzstücken aus der böhmischen Kulturgeschichte, auch die Gespräche zwischen den Künstlern und den anderen Figuren kreisen stets um das kulturelle Erbe Tschechiens. Neben Kafka sind es der Romantiker Karel Hynek Mácha, der exzentrische Philosoph Ladislav Klima und der Erfinder des braven Soldaten Schwejk, Jaroslav Hašek, sowie die Komponisten Dvorak und Smetana, die Erwähnung finden. Auch dem Schicksal des Studenten Jan Palach, der sich nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings aus Protest gegen das Sowjetregime selbst verbrannte, gilt die Aufmerksamkeit. Und selbstverständlich darf auch - hier setzt die Autorin augenzwinkernd eine selbstreferentielle Note - die Legende der Libuše, der mythischen Stammmutter Böhmens, nicht fehlen. Der Sage nach führte die Wahrsagerin die Tschechen, die zuvor wie "unverständige Tiere" lebten, in die Zivilisation.

Jan Orten, einer der Künstler, erhält einen Auftrag in Kyoto. Auf der Reise begleiten ihn zwei seiner Bildhauerfreunde, der gerne herumpöbelnde Podol und der eher melancholische Maltzahn, sowie der junge Endomologe Qvietone und der Historiker Nordanc. Doch werden sie ihre Destination nie erreichen, stattdessen landen sie tief in Sibirien und scheinen auch nicht mehr davon wegzukommen. Zuerst stranden sie in einer Eliteakademie, wo sie mehr oder weniger an der Weiterfahrt gehindert werden, weil sie unter dem Verdacht der Spionage stehen, bis dann ein Hockeyspiel gegen die Wissenschaftler ihr Los entscheidet und wieder ziehen gelassen werden. Nur Qvietone bleibt begeistert zurück. Danach gelangen sie jedoch in eine Purga und verbringen Wochen eingeschneit in der Taiga, werden von Ewenken freundlich aufgenommen und fahren schliesslich mit dem Zug quer durch Sibirien, bis sie wieder - ein von einem Chinesen geschenktes Exemplar des Candide in der Tasche - zuhause ankommen und zur selben Einsicht wie der Held bei Voltaire gelangen: Il faut cultiver son jardin. Ihre Eindrücke und Erlebnisse der sibirischen Odyssee verarbeiten sie in den Fresken der Fassade.

Der Roman besteht aus zwei Teilen und einem kurzen Epilog. Der erste Teil, der in Tschechien spielt, trägt die Überschrift "Böhmische Dörfer", der zweite in Sibirien "Potemkinsche Dörfer". Bei beiden handelt es sich um Redewendungen. Als böhmische Dörfer bezeichnet man unbekannte oder unverständliche Sachverhalte, als potemkinsches Dorf hingegen die Vorspiegelung einer falschen Tatsache, ein Täuschungsmanöver. Das lässt sich lose auf den Inhalt der beiden Teile beziehen: Die eigenwillige Restaurationsarbeit an der Fassade enthält tatsächlich Allegorien, die sich dem Betrachter nicht erschliessen, worüber sich Maler Orten besonders ergötzt, als er sich fragt, ob jemand jemals die Bilder enträtseln werde. In Sibirien wiederum werden die Künstler den Verdacht nicht los, dass die Russen ein falsches Spiel mit ihnen spielen und sie unter falschen Vorwänden so lange festhalten. Bleibt noch die Frage zu klären, was es mit dem kryptischen Untertitel des Romans auf sich hat, der lediglich aus der Folge von fünf mittleren Buchstaben des Alphabets besteht: M.N.O.P.Q. - Das sind die Initialen der Protagonisten Maltzahn, Nordanc, Orten, Podol und Qvietone, die dadurch zu blossen Lettern in der alphabetischen Ordnung des Romans erklärt werden, womit sich dieser ganz postmodern nicht als Abbild der Wirklichkeit, sondern als Sprachgebilde verstanden wissen will.

Ein komplexer, ein dichter, zuweilen auch zäher Roman, dessen Lektüre man sich verdienen muss. Ein Roman der hauptsächlich aus Diskursen und wenig Handlung besteht. Und doch stösst man immer wieder auf unvergleichliche Passagen. Zum Beispiel das bereits erwähnte Hockeyspiel oder als Maltzahn, der ausgerechnet so heisst, eine Zahnplombe gezogen werden muss, weil sich darin ein Radioempfänger befindet, mit dem Maltzahn "ins allsowjetische Rauschen" versinkt. Eine neben der Parodie auf KGB-Spionage geradezu slapstikhafte Szene. Eher derbkomisch ist hingegen der Dialog der vier Künstler, in der sie sich über unterschiedliche Methoden unterhalten, aus Exkrementen Kunst zu formen. Die Ideen reichen von einem Mobile bis zum "Chiaroscuro in der Kloschüssel" und rufen die Merda d'Artista von Piero Manzoni in Erinnerung. So steckt selbst in den entlegensten Gesprächen offen oder versteckte intertextuelle Referenzen, was den Roman zu einem kulturellen Mosaik - oder mit Blick auf den Romantitel vielleicht besser: verschachteltes Fassadenfresko der Nachkriegszeit macht, das aus unzähligen Einzelbildern von Politik über Naturwissenschaft, Kunst und Musik bis zur Popkultur reicht, zu The Doors etwa oder zu Walt Kellys Comicfigur Pogo.

Montag, 23. Dezember 2024

Gertrude Stein: Drei Leben (1909)

Dieses Jahr wäre Gertrude Stein 150 Jahre alt geworden. Auch wenn ihr Einfluss auf die moderne Literatur als durchaus bedeutend gilt, dürfte ihr Werk nur eine Minderheit wirklich gelesen haben. Weltbekannt ist ihr oft zitiertes und adaptiertes Monostichon "A rose is a rose is a rose is a rose ...". Mit dem Lyrikband Tender Buttons (1914) versuchte sie, inspiriert durch Picasso, kubistische Gedichte zu schreiben und mit The Making of Americans (1925) schuf sie ein ähnlich sperriges Riesenwerk wie Finnegans Wake ihres Zeitgenossen James Joyce (den man, nebenbei bemerkt, in ihrer Gegenwart aber nicht erwähnen durfte). Daran wagt sich das Lesefrüchtchen (noch) nicht. Stattdessen greift es zum Früh- genauer noch zum Erstlingswerk Three Lives.

Die drei - lediglich über den fiktiven Schauplatz Bridgepoint - miteinander verbundenen Erzählungen schildern das Schicksal von drei Frauenfiguren. Als Motto ist ihnen ein Zitat des Symbolisten Jules Laforgue vorangestellt: "Ich bin also unglücklich, und das ist weder meine Schuld noch die des Lebens." Die drei Frauen könnten unterschiedlicher nicht sein: Die gute Anna ist ein pedantisches Hausmädchen von übertriebenem Pflichtbewusstsein bis hin zur Selbstaufopferung; Melanctha eine zugleich melancholische wie auch leidenschaftliche Frau auf der vergeblichen Suche nach dem richtigen Mann und die sanfte Lena ein bis zur Einfalt gutmütiges Mädchen. Alle drei sterben aus der Welt hinaus, nachdem sich ihr Lebensglück nicht erfüllen konnte. 

Stein verzichtet jedoch auf jegliche Form der Psychologisierung. Die Vorgänge werden mit einem distanzierten, manchmal ironischen Blick von Aussen geschildert, was sie teilweise in seltsamer, weil unkommentierter Schwebe lässt. Dazu trägt auch der für Gertrud Stein später typische, hier schon ansatzweise vorhandene reihende und repetitive Stil bei. Am radikalsten durchgeführt in der mittleren und auch längsten Erzählung über Melanctha, die im Kern ein zermürbender Liebesdialog enthält, der sich hoffnungslos in sich selber verstrickt. Der Wortschatz beschränkt sich auf ein Minimum. Gewisse Sätze wiederholen sich immer wieder oder setzten absatzweise identisch ein. Die Syntax ist stets gleichförmig aufgebaut, was der Prosa etwas Formelhaftes, zuweilen sogar Beschwörendes verleiht.

Eine solche, auf jegliche Eleganz und guten Stil verzichtende Schreibweise, die manisch um sich selber kreist, war 1909 gewiss radikal und auch heute verlangt sie der Leserin einiges ab. Oder aber sie erlaubt eine Art gleitende Lektüre mit schwebender Aufmerksamkeit über dem Text. Aus heutiger Sicht muten die Erzählungen aufgrund der narrativen Regelverstösse mitunter wie der Versuch eines noch nicht ganz ausgereiften Sprachmodells an, einen literarischen Text zu verfassen. Eine andere Assoziation bietet sich, wenn man bedenkt, dass Gertrud Stein bei William James, dem Bruder des Schriftstellers Henry James, Psychologie studiert und im Rahmen dieses Studiums auch mit Schreibautomatismen experimentiert hat. Tatsächlich sollen Steins Texte bis zu ihrer ersten Schreibblockade mit knapp 60 Jahren einfach "geschehen" sein. Verfasst in einem einzigen Flow.


Dienstag, 17. Dezember 2024

Han Kang: Die Vegetarierin (2007)

Die südkoreanische Autorin Han Kang erhielt dieses Jahr den Nobelpreis für Literatur. Wie so häufig, wenn es sich nicht gerade um Bob Dylan handelt, ist die erste Reaktion nach der Verkündigung: Wer? Meistens kennt man die prämierten Schriftsteller nicht einmal dem Namen nach. Dem Lesefrüchtchen ging es auch heuer wieder so: Han Kang, wie überhaupt die südkoreanische Literatur, ist eine Terra inkognita, die es aus gegebenen Anlass erstmals zu erkunden gilt, und zwar mit Die Vegetarierin, dem 2016 als ersten auf Deutsch übersetzten Roman der Autorin, der ausserdem der bislang erfolgreichste ist und auch bereits verfilmt.

Die Geschichte ist ebenso schlicht wie die Sprache, in der sie erzählt wird. Aufgrund von Alpträumen beschliesst eine Frau namens Yong-Hye von einem Tag auf Fleisch zu verzichten, was - wie uns der Klappentext erklärt: weil Vegetarismus in Südkoreabei als subversiv gilt - bei ihrem Ehemann und mehr noch in ihrer Familie auf grosses Unverständnis, ja Widerstand stösst. Als sie bei einem gemeinsam Abendessen zum Fleischkonsum gezwungen wird, schlitzt sie sich vor allen mit einem Obstmesser das Handgelenk auf. Ans diesem Suizidversuch, der die Frau in die Psychiatrie bringt, zerbricht die Ehe. Als sie wieder aus der Klinik entlassen wird, kommt es zur Annäherung an ihren Schwager, einem Videokünstler, der länger schon eine erotische Phantasie mit seiner Schwägerin in seinem Skizzenheft festhielt. Insbesondere fasziniert ihn ihr Mongolenfleck. So nennt man ein bei asiatischen Kindern häufig auftretendes bläuliches Muttermal am Steiss, das im Laufe der Adoleszenz aber wieder verschwindet. Nur bei Yong-Hye nicht, was ein relativ offensichtliches Motiv für ihr regredierendes Wesen ist. Sie sehnt sich danach, zur Pflanze zu werden, während ihr Schwager sich mit ihr vereinigen möchte. Zu diesem Zweck verleitet er sie zu einer Kunstperformance, bei der er zuerst ihren Körper von oben bis unten mit Blumen bemalt, danach denjenigen eines Künstlerfreundes, wobei er beide vor laufender Kamera zu Körper- und softpornographischem Sexualkontakt animiert, was der Freund aber empört ablehnt. Schliesslich lässt sich der Künstler von einer früheren Freundin selbst mit Blumen bemalen und gelangt somit zum lange ersehnten Beischlaf mit seiner Schwägerin, die sich dieser pflanzlichen Vereinigung tranceähnlich hingibt. Als dies seine Frau entdeckt, zerbricht auch diese Ehe, und sie steckt ihre Schwester wieder in die Psychiatrie. Der Schluss des Buches handelt vom verzweifelten und wahrscheinlich auch vergeblichen Versuch, die Schwester am Leben zu halten, die nun gänzlich die Nahrung verweigert, nur noch Wasser und Sonnenlicht zu sich nimmt, um durch diese Photosynthese zum Baum zu mutieren und kopfüber ins Erdreich einwurzeln möchte. 

Soweit der äussere Hergang der Handlung, die weitgehend auch rein äusserlich und oberflächlich bleibt und auch in einer eigentümlich unterkühlten, klinischen Sprache erzählt wird. Abgesehen von den kursiv gesetzten Gewaltträumen der Protagonisten dringt die Erzählung nicht in die Tiefe und verzichtet auch weitgehend auf Erklärungen. Der Kunstgriff liegt im Wechsel der Erzählperspektive: Jeder der drei Teile wird aus einer anderen Sicht geschildert, so dass Yong-Hye stets aus einer Aussenperspektive wahrgenommen wird und ihre innere Motivation zwangsläufig rätselhaft bleiben muss. Die Vegetarierin ist trotz oder wegen dieser distanzierten und sterilen Erzählweise ein zunehmend beklemmendes, ja bedrückendes Buch. Weniger wegen der unerklärten Wandlung der Protagonistin an den Rand der Magersucht und des Wahnsinns, sondern weil ihre Schwester in der Radikalität dieser Lebensverweigerung am Ende schlagartig ihre eigene Lebensverfehlung erkennt. Das Verhalten Yong-Hyes bewirkt eine schleichende Erosion des Alltags, die ihre Schwester schliesslich in eine veritable Lebenskrise stürzt. Die Figur der Schwester bildet somit den Fluchtpunkt des Romans, weshalb der dritte und letzte Teil nicht zufällig aus ihrer Sicht erzählt wird und relativ abrupt mit einem surrealen Bild von brennenden Bäumen - dem einzigen phantastischen Element der Geschichte - endet und der Frage, die alles offen lässt: "Lehnt sie sich gegen etwas auf?" So wird der Roman als Parabel einer Auflehnung gegen das Korsett der Vergesellschaftung durch Familie, Ehe, Beruf lesbar. Das vegetative Dasein als Pflanze erscheint als Utopie eines von allen Fesseln befreiten Lebens.