Montag, 21. Juli 2025

Ann Cotten: Verbannt! Versepos (2016)

Versuch einer kurzen Zusammenfassung: Eine "sehr begabte Fernsehmoderatorin" (49) hat die Tochter Lena ihrer Kollegin verführt (oder sich von ihr verführen lassen), worauf die Mutter einen Prozess anstrebt, der indes wieder fallen gelassen wird, weil die Motive Lenas (angeregt durch zu viel "exquisite Manga-Seiten") an dem Getechtel unklar waren. Stattdessen heckt die Tochter den Plan für eine neue Reality-TV-Sendung aus: "Verführ den Moderator" (22), in der das Ziel ist, die Moderatorin mit allen Mitteln rumzukriegen. Durch den Druck schlittert die Moderatorin in ein seelisches Ungleichgewicht und in einen liederlichen Lebenswandel, so dass sie für die Sendung untragbar wird. Von Lena vor die Wahl gestellt: Entweder eine freiwillige Burstvergrösserung oder ab auf die Verbannungsinsel Tantalos (23), entscheidet sich die Moderatorin für letzteres und darf als einzige drei Dinge mitnehmen: ein Schleifstein, ein Messer und ein 22bändiges Meyer-Konversationslexikon aus dem Jahr 1910. Die unfreiwillige Robinsonade kann beginnen. Wobei, freiwillig sind Robinsonaden ja nie.

Auf der Insel angekommen denkt die Moderatorin zunächst darüber nach, Bier zu brauen, bevor eine niederfallende Kokosnuss sie auf die Idee bringt, es mit dieser Paradiesfrucht zu versuchen. Doch es nähert sich ein Tiger, weshalb die Moderatorin rasch auf die Palme flüchtet. Sogleich erklingt ein lauter Knall. Die Moderatorin vermutet eine Atomexplosion bzw. erwartet einen Sturm, der nicht eintritt, was die Moderatorin an sich selbst zweifeln lässt: "Wie angeschlagen ist mein Selbstvertrauen" (57). In ihrer Sinnkrise denkt sie darüber nach, die Zeit zurückzudrehen: "Ich scratche Wirklichkeit" (47). Dieser Wirklichkeits-Scratch erfolgt schon sehr bald nach drei längeren Exkursen über das Wetter (die Wolken), die Psyche und die Seele. Wobei es sich vielmehr um einen Wirklichkeits-Glitch handelt: Was bislang zwar ziemlich skurril, aber nicht gänzlich unrealistisch anmutete, kippt auf die phantastische Ebene, als mit Wonnekind der Bürgermeister der Insel auftritt, die er "Hegelland" nennt. Dort leitet er eine Gruppe ehemaliger Quäker an, die in der Verehrung der Schraube eine neue Religion gefunden haben.

Die Gruppe publiziert drei Zeitungen, die als Illustrationen von Ann Cotten auch abgebildet sind: die rechtskonservative N-Presse (das N steht für "naiv"), die postmoderne Zy-Presse und das satirische Wisch-Blatt. In allen drei Zeitungen geht es Frauen, welche sich die ziemlich notgeile Truppe herbeisehnt. Schon bald soll auf der Insel von Frauen nur so wimmeln. Denn es erfolgt eine Metamorphose, welche die Geschichte nun vollends im Phantastischen ansiedelt. Der Moderatorin wächst ein Geweih, ein "Riesenpimmel" (73) sowie ein Fischschwanz und transformiert sich in eine Mischung von Götterbote Hermes und Wolpertinger, beides zwei mythologische Wesen, denen man hohe Wandelbarkeit nachsagt. Doch damit nicht genug: Bald stellt sich heraus, dass die Hoden dieses Wesens tief ins Erdreich wurzeln und mit dem Internet verbunden sind, es sich also um "Interhoden" (151) handelt. Aus dem Kabel des Netzes entsteigt der Reihe nach, nicht nur der Internetspion Pan Orama (Wortspiel aus dem Bocksgott Pan und dem Begriff "Panorama"), sondern eine Horde Frauen, die aus einer Beautyklinik ins Internet geflüchtet sind, darunter auch Pans alte Geliebte Syrinx, die sich in der Klinik eine Beinprothese machen liess.

Uff. Doch die Absurditätsschraube dreht sich munter weiter: Die Frauen fallen über die Männer her, was Pan verhindern möchte, indem er zu einer Frauenbewegung aufruft, allerdings vergebens: "Er muss seine Vorstellungen vom Feminismus überdenken" (118). Er versucht die griessfressenden Ziegen auf seine Seite zu ziehen, doch Syrinx weiss dies zu verhindern. Pan sucht unterdessen Kontakt zur Umweltschutzgruppe der Kryptomerienfreunde und es stellt sich heraus, dass das Internet pleite ist, weshalb die Frauen nicht mehr zurückgehen können. Es tauchen noch etliche andere Absonderlichkeiten auf, wie eine lesende Eselin, die die gesamte Insel mit Strom versorgt (148), bis die gesamte Geschichte implodiert und in einer lexikographische Passage mit "Seemüll" mündet, die es locker mit Homers berühmten Schiffskatalog aus der Ilias aufnehmen kann. Sie knüpft dabei just an jene Stelle an, bevor die Geschichte ins Phantastische kippte. Bereits dort wurden über mehrere Seiten alle Lemmata mit "See-" aufgeführt, die schliesslich beim Eintrag "Seele" endete (61). Nicht von ungefähr hat die Moderatorin ein Nachschlagewerk mit auf die Insel genommen.

So durchgeknallt der hier nur ansatzweise skizzierte Plot auch klingt, das ist nur die eine Hälfte der Geschichte. Es handelt sich nämlich um keine konventionelle Prosaerzählung, sondern um ein Versepos! Also jenes verstaubte Genre, das um 1900 nochmals kurz von Carl Spitteler oder Theodor Däubler wachgerufen wurde. "wir schreiben in zu ungewohnten Stilen" (15), heisst es zu Beginn, und zwar, genauer gesagt, in der - allerdings nicht überall konsequent angewendeten - "Byronstrophe" (9), besser bekannt als Spenserstrophe, eine nach Edmund Spenser benannte Adaption der italienischen Stanze, der sich die englischen Romantiker, darunter auch Lord Byron, bevorzugt bedienten. Weiter hinten wird die Zeile "Lass die Götter immer ihre Formen wechseln" zitiert, von einem, "den wirklich niemand mehr kennt" (72), nicht einmal das leitmotivische Internet ergibt einen Treffer. Natürlich denkt man sofort an Ovids Metamorphosen, doch im Wortlaut existiert dort diese Zeile nicht. Wahrscheinlich stammt sie von Ann Cotten selbst.

Item, der Seitenhieb soll wohl bloss noch einmal unterstreichen, dass die Autorin mit dem Versepos eine antiquierte Form beerbt - und mit der Spenserstrophe obendrein ein strenges Versmass wählt. Diese doppelte Einschränkung lockert sie jedoch zweifach wieder auf: Formal, indem sie relativ nonchalant damit umgeht und die metrischen Vorgaben insbesondere für allerlei sprachliche Komik nutzt, für erzwungene Reime (Dänen/Migränen, 31; Bienensprache/Karlheinz Strache, 54; Gottverschleiss/Denkergirls und -boys; 72; "Fellationen/Interpretationen", 99), kühne Enjambements ("eher Soß- / e ist die Spezialität", 92; "herg- / ekommen", 99), schräge Vergleiche ("wie eine langverheiratete Luxusnutte / den Flachbildschirm betätigt", 41; "Mein Herz klopft wie ein Geigerzähler in Minamisoma", 54; "erschöpft wie Erdnussflips", 111) und waghalsige Gedankenflüge, bei denen man sich manchmal wundert, wie sie wieder auf sicheren Boden gelangen. Oftmals scheint es so, als diktiere das Versmass den Fortgang des Epos, und nicht umgekehrt, als würde der Inhalt bloss in die vorgegebene sprachliche Form gegossen: "Man findet lieber einen komplett irren Reim, / lässt zu, dass was passiert - passieren muss -, auch wirklich kein / Schwein mehr verstehen kann, weil es nichts zu verstehen gibt" (44).

Das führt zum zweiten Punkt, den Cottens Versepos so zeitgemäss und lebendig macht: Sie konterkariert die hohe Form (genus sublime) durch den frivolen Inhalt und bewirkt mit dieser Kontrafaktur einen weiteren komischen Stilbruch. Doch handelt es sich weniger um eine Parodie, als um eine konsequente Weiterentwicklung, die auch den historischen Vorläufern Tribut zollt: vom anfänglichen klassischen Musenanruf bis hin zu unzähligen intertextuellen Verweisen auf die Meister des Versepos wie eben Homer oder John Milton (149). Mehr noch bietet die antiquierte Form das ideale Gegengewicht für die im Epos formulierte Medienkritik der Gegenwart: Mit Thrash-TV, Boulevard-Presse und Internet figurieren gleich drei dominante, meinungsbestimmende Leitmedien unserer Unterhaltungskultur. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Moderatorin mit einem - ebenfalls aus der Zeit gefallenen - Konversationslexikon von 1910 unterwegs ist und nicht etwa versucht, "alles mittels Wikipedia zu kapieren" (127).

Man muss nicht alles nachvollziehen wollen, was in geballter Form in diesem Epos steckt, das dem Lesefrüchtchen allen Respekt vor dieser atemberaubenden Leistung abverlangt. Das Vergnügen teilt sich allein schon mit, wenn man sich auf den schier grenzenlosen und meist höchst schrägen Phantasiereichtum einlässt, wie er in einem unmotiviert eingeschobenen Minidrama zum Beispiel prägnant zum Ausdruck kommt, das auch ein gutes Muster für die Sprachspielkunst und den absurden Witz der Autorin abgibt: "Aroma-Aria heisst das nächste Stück, und Orama | spielt darin ein in seinen Herrn verliebtes Lama. | Benni erscheint als Engel der Erkenntnis, | erklärend, dass jedwede Ordnung Schändung ist. | Das Lama blökt und masturbiert und emigriert nach Ghana; | der Herr, gespielt von Karma, weint lange und bitterlich, | denn wie sich nun herausstellt, weiss er nicht, | wie sein, wenn niemand an ihn glaubt. Die Ordnung bricht zusammen." (155)

Ann Cotten: Verbannt! Versepos. Mit Illustrationen von Ann Cotten. Berlin: Suhrkamp 2016.

Sonntag, 20. Juli 2025

Friederike Mayröcker: ich bin in der Anstalt (2010)

In Österreich gilt die 1924 in Wien geborene Friederike Mayröcker als "Jahrhundertdichterin", was angesichts ihrer Lebensspanne, sie starb mit 96 Jahren, rein temporal sicher zutreffend ist. Ansonsten zählt Mayröcker wohl eher zu den Autorinnen, deren Ruf grösser ist als ihre faktische Lesegemeinde, zumal ihr sperriges und eigensinniges Werk sich einer breiten Rezeption von Anfang an verweigert. Erzählungen im konventionellen Sinn sucht man Mayröcker jedenfalls vergeblich. Es handelt sich quasi um einen ununterbrochenen, assoziationsreichen Schreibstrom, in den alles einmündet, was die Autorin liest, hört, wahrnimmt und worüber sie sich Gedanken macht. Ein Leben, das ganz und gar in die Schrift ein- und aufgeht, was sofort augenscheinlich wird, wenn man die Bilder von Mayröckers mit Zetteln und Manuskripten von oben bis unten vollgestopften Wohnung sieht. Frieda Paris hat es treffend einen "lebenslangen Satz" genannt, woran Mayröcker arbeite. 

2010 erschien mit ich bin der Anstalt ein selbst für Mayröckers Verhältnisse spezielles Buch, da es bloss - wie es im Untertitel heisst - "Fusznoten zu einem ungeschriebenen Werk" enthält. (Weil Mayröckers Hermes Baby keine Taste für das scharfe Eszett kennt, transkribierte sie es mit "sz", eine Kaprize, die auch im Druck beibehalten wird, anfänglich sehr zum Unverständnis des damaligen Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld.) Insgesamt sind es 243 solcher Fussnoten (oder Abschnitte) von unterschiedlicher Länge. Manche sind nur eine Zeile lang, andere wachsen über eine Seite an. Dieses fragmentierte Kompositionsprinzip kommt der ohnehin schon diskontinuierlichen Prosa, jener der Autorin höchsteigenen "pneumatischen Fetzensprache" entgegen, wie es im zwei Jahre zuvor erschienen Band Paloma heisst. Dort ist der Text nicht in Fussnoten, sondern 99 Briefe gegliedert.

Worum geht es? Das ist bei Mayröcker wie immer die falsch gestellte Frage. Bildet ihr Werk doch eine einzige existenzielle Versprachlichungsarbeit. Hier nun aber scheint gerade die Sprache zu versagen - es ist die Rede von "Demenz" (23), Aphasie, "Wortversagen" (84) - und damit dem schreibenden Ich den Boden unter den "Füszen" zu entziehen. Allein die Fussnoten geben noch Halt. Sie versuchen den Zustand einer Sprachkrise sprachlich zu fassen, wobei sich der Sprachzerfall in unvollständigen, elliptischen Sätzen, abgebrochenen Gedanken, fehlenden Worten oder Abbreviaturen bereits manifestiert. Am Ende, in der letzten Fussnote, stehen gar nur noch Punkte, um das Ausbleiben eines Textes zu markieren. Die fragmentarische Form steht somit in Korrelation zum zerrütteten Gedächtnis, aus dem eben kein integrales "Werk" mehr hervorgeht, lediglich "Relikte" und einzelne Bruchstücke, die unverbunden nebeneinanderstehen und ins Offene, Ungeschriebene verweisen. 

Die Motive des Todes und der Vergänglichkeit, des (körperlichen) Zerfalls und "Ruins" (21) stehen, wie überall in Mayröckers Alterswerk, im Vordergrund. Der Tod ist der grosse Angstpartner, gegen den die Autorin anschreibt, da mit dem Tod nicht nur ihr Leben, sondern das damit unauflösbar verwachsene Schreiben zu Ende ginge. Ein für eine Graphomanin geradezu beunruhigender Gedanke: "ich begriff dasz ich nur noch 1 kurze Spanne (KNOSPE) haben würde zu leben und zu schreiben und ich geriet in 1 panische Angst" (173). Nahezu protokollartig, tlw. mit präzisen Datumsangaben, halten die einzelnen Einträge alltägliche Beobachtungen, Lektüren und Erinnerungen fest, klammern sich schriftlich geradezu an alle Details, um sie ja nicht zu vergessen. Häufig kreisen die Gedanken um den verstorbenen Lebenspartner Ernst Jandl, der - anders als bei etlichen anderen Personen, die mit Klarnamen genannt werden - lediglich als ER (in Versalien) apostrophiert wird oder als fingierte Figur Ely auftritt. 

Die Lektüre gestaltet trotz der Widerständigkeit des Textes einen eigentümlichen Sog und lässt zwei Erfahrungen zu: Zum einen, wie die additive Auflistung von zunächst unspektakulär heterogenen Wahrnehmungs-, Gedanken- und Erinnerungssplittern plötzlich in poetische Verdichtungen umschlagen kann, ohne dass sich dieser Übergang genau bezeichnen oder das eine vom anderen trennen liesse; zum anderen, wie in einer experimentellen Prosa ein hohes Mass an Sentiment mitschwingt, was für solche Textsorten eher unüblich ist. Doch da bei Mayröcker Leben und Werk in eins verschmelzen, verhält es sich so, wie die Autorin selber schreibt, "dasz ich schamlos und mich entblösze in meinen Schriften" (109) Hierbei zitiert sie auch Jean Genet, der sagt, wenn er ein Buch verlasse, sind "die Füsze nackt" (157). So verweisen die Fussnoten zugleich auf den entblössten, den 'barfüssigen' Text, wie überhaupt das Wort 'Füsse' oder die Wendung 'zu meinen Füssen' in hoher Okkurrenz auftritt und damit Form und Inhalt verschränkt. An solchen Stellen zeigt sich, wie genau und zwingend der Text trotz seiner scheinbaren Disparatheit gearbeitet ist.

Mayröcker begreift sich als "Bettlerin des Wortes" (190). Sie zitiert häufig und legt die Intertexte offen aus. In diesem Fall sind es vor allem drei Werke von Jacques Derrida, auf deren Folie Mayröcker schreibt: Glas (Totenglocke), das in zwei Kolumnen Hegel und Jean Genet einander gegenüberstellt, die Mémoires d'aveugle, aus dem die Motive der Trauer und Tränen abgleitet sind sowie Jeoffrey Benningtons Derrida-Biographie, die Derridas Circumfession in Form von Fussnoten enthält. An dieses Strukturprinzip knüpft Mayröcker auch inhaltlich an: Ihre Fussnoten präsentieren sich ebenfalls als Bekenntnisse mit Verweis auf Augustinus, allerdings auch mit dem initialen Hinweis, dass Bekenntnisse "nichts mit der Wahrheit zu tun haben, nämlich die hingeweinten" (9). Auch da beruft sie sich auf ihren Gewährsmann Derrida, der offenbar weinend feststellte, "dasz 1 Bekenntnis nicht mit der Wahrheit zu tun hat" (66).

So bleibt auch der Realitätsgrad von Mayröckers Konfessionen trotz aller Wirklichkeitsindikatoren offen, nicht zuletzt deshalb, weil sich Gegenwärtiges oft nahtlos mit Reminiszenzen zu einem atemporalen Kontinuum verschmelzen. Alles spielt letztlich alles unterschiedslos im Kopf des schreibenden Ich ab, in einem mentalen Innenraum, als den man im übertragenen Sinn die titelgebende "Anstalt" verstehen könnte: als Ort der Introspektion: "ich lausche auf dei Vorgänge in meinem Gehirn" (85). Ob das ebenfalls im Titel angeführte "ich", sich in einer realen Anstalt befindet oder diesen Zustand nur mantrahaft heraufbeschwört (die Titelphrase "ich bin in der Anstalt" wird im Buch zigfach wiederholt), bleibt ungewiss. In einem Interview sagte die Autorin: "Anstalt ist für mich überhaupt etwas Anziehendes. Und man weiss ja auch nicht, ist es eine Anstalt, ist es ein Spital, handelt es sich um eine Irrenanstalt? Handelt es sich um ein Gefängnis? Es bleibt ja alles offen."

Die Anstalt, das Gefängnis, die Zelle als idealer, weil isolierter Ort des Schreibens ist ein in der abendländischen Literaturgeschichte weit verbreiteter Topos. In gewisser Hinsicht war auch Mayröckers legendär gewordene, bis an die Decke mit Papieren vollgestopfte Wohnung eine solche Schreib-Anstalt, ein von der Aussenwelt abgeschirmter Raum, der allein ihr den kreativen Freiraum verschaffte. Im Buch vergleicht sie ihr "Gehäuse" einmal treffend mit "1 Merzbau" (98).

Friederike Mayröcker: ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk. Berlin: Suhrkamp 2010.

Am Rande bemerkenswert: a) wie sich die Autorin gegen eine geschlechterspezifische Vereinnahmung positioniert: "gender Begriff, es gibt keine Frauenliteratur" (29), "es gibt keine spezifisch weibliche Kunst, usw." (89); wie sie die zeitgenössische Philologie beurteilt: "Feuer und das ist das richtige Wort in unserem Gespräch über den Stil der Literaturwissenschaftler nämlich dasz es ihnen manchmal fehle" (86)

Donnerstag, 3. Juli 2025

Oswald Egger: Prosa, Proserpina, Prosa (2004)

Oswald Egger macht es sich und den Lesenden nicht einfach. Er setzt die Sprache nicht nur als gestalterisches Mittel ein, er gestaltet sie vielmehr nach eigenen Gesetzmässigkeiten um. Das führt zu hochkomplexen, mit Fremd-, Fach- und Fantasieworten durchsetzten Sätzen wie diesen: "Talg-Algen wie Smaragdgras-Agavan stäuben silbrig Quirlwirrtel-Milch über Risp-Feldritzen Dornginsterhecken, und Teer-Regenberge Horngnissen ..." Es stellt sich sofort ein Pastior-Effekt ein: Man meint etwas zu verstehen, doch letztlich entzieht sich alles einem verstehbaren Sinn, wird zur reinen Lautpoesie, im Extremfall etwa: "Unvirgeln sirrende Quisseln in Syzygie szintillierend, 'zzyzx'-Elritzen". Im Unterschied zu Oskar Pastior, wo häufig eine Methode oder eine Versuchsanordnung das Spiel mit der Sprache bestimmt, scheint sich Egger viel stärker noch am Sprachklang zu orientieren und von ihm leiten zu lassen. So kommen seine Sätze durch tonale Assonanzen und Lautähnlichkeiten zustande. So sind Quissel (frömmelnde Person), Syzygie (Stellung von Sonne, Mond und Erde in einer Linie), szintillieren (funkeln, flimmern) und Elritze (kleiner Karpfenfisch) tatsächlich existierende Wörter, sie stehen bei Egger aber weniger in einem Sinn- als in einem Klangzusammenhang, verbunden durch den Vokal, der auch in "sirren" erklingt und genau das besagt: einen feinen, hell klingenden Ton erzeugen. Dass unter "Syzygie" in der antiken Metrik ausserdem die Verbindung von zwei Versfüssen verstanden wurde, ist eine zusätzliche Pointe, die den Satz von einer möglichen Weltreferenz endgültig ins rein Sprachliche wendet.

So baut sich Egger aus dem Fremdwörterbuch deutscher Sprache ein ganz eigenes Sprachuniversum. Im Fall von Prosa, Proserpina, Prosa hat er sich bevorzugt bei botanischem Vokabular bedient, was sein Text zu einem entfernten experimentellen Verwandten von Vergils Georgica macht, dem grossen Poem über den Ackerbau. Nicht zufällig figuriert im Titel von Eggers Werk die mythologische Gestalt der Proserpina, der Tochter von Ceres, der römischen Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit. Ihr Name leitet sich ab vom lateinischen Verb 'proserpere', was 'hervorkriechen' bedeutet und von den Römern mit dem aus der Erde keimendem Getreide assoziiert wurde. Auch die im Titel ebenfalls stehende 'Prosa' lässt sich etymologisch auf den Ackerbau zurückführen. Mit Agamben lässt sich die Prosa als fortlaufende Kehre (lat. versus), also als Verlängerungen des lyrischen Verses begreifen, als pro-versus (oder kurz: Prosa). Der lateinische Begriff versus meint auch die Ackerfurche, die der Bauer zieht - und zwar mit seinem Werkzeug, dem Pflug oder der Egge, die prominent auch im Namen des Autors steckt: Egger. Nomen est omen, weshalb der Egger zwangsläufig Prosaist, d.h. Furchenzieher und Ackerbauer sein muss. Was uns der Autor folglich ausbreitet (oder was er vielmehr einfährt) ist eine reiche Ernte, eine Sprachernte. Sein Text ist nicht anderes als ein Füllhorn, eine Cornucopia, ein mit Blumen und Früchten im Überfluss gefüllter Trichter, der symbolisch für Freigiebigkeit, Reichtum und Üppigkeit steht. Sein poetisches Prinzip ist demnach die Luxuria, ein verschwenderischer Luxus, ausgebreitet in Sprachgirlanden und Wortfeldern, der so reichhaltig ist, dass er in dieser Überfülle kaum rezipierbar ist.

Es ist schon ziemlich beeindruckend, was Egger alles mit der Sprache anzustellen versteht. Aber irgendwie auch hochgradig manieriert und gekünstelt. Bei aller Bewunderung legt man das Buch wohl früher als später aus der Hand und denkt sich: Was soll's? Man könnte jeden Fachausdruck im Wörterbuch nachschlagen und hätte doch nichts verstanden, denn es gilt die Devise: "Sinnen der Ingestion ('das weiss ich nicht'), Balloten, siebend Unsinne." Im Unterschied zu anderen Unsinnspoesien fehlt es Eggers Unternehmen jedoch entschieden an Witz. Alles kommt gravitätisch, bedeutungsschwanger und furchtbar eitel daher. Als wolle der Text nichts anderes, als permanent seine literarische Distinguiertheit ausstellen. Vieles gerinnt deshalb zur poetischen Pose, zum Gehabe. Der einzige leicht verständliche Satz im ganzen Buch lautet: "Wir wollen uns betrinken, wie die Tollen, und nachts nicht schlafen." Na also, das wäre allemal eine Alternative.

Sonntag, 29. Juni 2025

Stanislaw Lem: Also sprach Golem (1981)

Das Lesefrüchtchen bleibt beim Golem hängen. Diesmal handelt es sich aber um keine künstliche Kreatur, sondern um eine künstliche Intelligenz. Die Handlung spielt deshalb auch nicht im Prag des 16. Jahrhunderts, sondern im Zeitalter der "Intellektronik" in den 2025er Jahren, bei Erscheinen des Buchs somit noch in ferner(er) Zukunft. Der Text präsentiert sich als klassische Herausgeberfiktion und war ursprünglich Teil von Lems Sammlung von Vorworten zu nichtexistierenden Büchern, die unter dem Titel Die imaginäre Grösse (1973) erschienen sind. Es handelt sich um zwei Vorlesungen des denkenden Super-Computers GOLEM XIV (so lautet auch der polnische Originaltitel), flankiert von einem Vorwort des MIT-Technikers Irving T. Creve und dem Nachwort seines Kollegen Richard Popp. (Beide auf der Webseite des Suhrkamp Verlages lustiger Weise als reale Verfasser gelistet ...)

Golem (bzw. genauer: Golem-Alpha) hiess hingegen tatsächlich ein Grossrechner, der im Juni 1965 am israelischen Weizmann-Institut in Betrieb gesetzt wurde. Die Eröffnungsrede hielt der jüdische Gelehrte Gershom Scholem, der sich wissenschaftlich mit der Golem-Legende der Kabbala gut auskannte. Lem, der sich für die neusten technischen Entwicklungen interessierte, dürfte dieses Ereignis nicht entgangen sein und ihn für den Namen seiner Denkmaschine inspiriert haben. Dass in der Bezeichnung GoLEM freilich auch Lems eigener Name steckt, dürfte die Wahl weiter begünstigt haben. Bezeichnete der Autor das Buch, das zu seinem Spätwerk zählt, doch einst als "Summe seines Denkens" (Lem über Lem, 116). Der Titel der deutschen Übersetzung ist vernehmbar an Friedrich Nietzsches philosophische Dichtung Also sprach Zarathustra an. Eine Allusion, die insofern zutreffend ist, als auch GOLEM als eine Art Übermensch auftritt und die Menschheit wie ein Prediger belehrt. (An einer Stelle erfolgt ein expliziter Verweis auf Paulus und den Brief an die Korinther, 89 f.)

Inhaltlich präsentiert sich der Band als intellektuelle Hinterlassenschaft Golems, nachdem er - so wird jedenfalls in der Presse spekuliert - "Selbstmord begangen" (162) habe, indem er seine eigen Existenz auslöschte. Es sind zwei Niederschriften seiner Vorträge, die er an die Menschheit hielt, um sie über ihre eigene Natur, aber auch über sich selbst als künstliche Intelligenz bzw. als reine "Vernunft" (85) aufzuklären. Hierin liegt denn auch die Verständnisschwierigkeit seiner Vorträge, wie der fiktionale Herausgeber Creve zu Beginn erläutert. Denn man hat es zwar "mein einem vernünftigen, aber nicht menschlichen Wesen" (22) zu tun, weshalb seine Aussagen oft "arrogant und apodiktisch" (24) anmuten, obschon Golem sich darum bemüht, seine Diktion dem menschlichen Auffassungsvermögen anzupassen und weniger qua "Abstraktion" als "mit Gleichnissen und Bildern" (32) zu sprechen. Doch lässt sich damit nicht verhindern, dass Golem aufgrund seiner rein rationalen Veranlagung ein "rücksichtsloser Wahrheitsfanatiker" (24) ist und die Menschen mit seinen Aussagen brüskiert.

Die erste Rede entpuppt sich denn auch als veritables "Pasquill auf die Evolution" (174). Zumindest vertritt Golem die kühne These, derzufolge der Mensch keineswegs die Krone der Schöpfung darstellt, sondern bloss evolutionär bedingtes Trägermaterial für den genetischen Code, der das eigentliche Primat darstellt, der Mensch hingegen ein Zufallsprodukt in diesem Prozess, denn "die Organsimen dienen der Übermittelung - und nicht umgekehrt" (49). Mehr noch: stellt der Mensch, insbesondere die menschliche Vernufnt, evolutionär besehen ein Unfall, ein Fehler, ein Irrtum dar: "Denn die Vernunft ist - wie der Baum des Lebens - die Frucht eines Fehlers, der über Milliarden von Jahren hinweg Fehler beging." (47) Es war nicht vorgesehen, dass die Trägersubstanz selbst zu denken beginnt. Hier spielt nun das mythologische Golem Motiv hinein: So wie der Lehmkloss durch den Shem, man könnte ihn als Code bezeichnen, zum Leben erweckt und unkontrollierbar wurde, so geschah dies im Zuge der Evolution auch dem genetischen Code, der plötzlich die Kontrolle über seine Substanz verlor und seither versucht, diesen Fehler (i.e. die Vernunft, das Gehirn) wieder auszugleichen.

Die Vernunft, das die provokante Pointe von Golems erster Vorlesung, stellt eine Gefahr für die Erhaltung des biologischen Codes dar, weil sie sich selbstständig macht und mit der Evolution konkurriert. Golem, das vom Menschen erschaffene Supergehirn, ist der beste Beweis dafür. Allerdings auch eine Konsequenz, die sich die Menschheit zu wenig bewusst ist, weshalb sie Golem in seiner letzten Vorlesung darüber aufklären will: Der Mensch als körperliches Subjekt wird überflüssig, da eine künstliche Intelligenz nicht mehr - wie der genetische Code - auf biologische Reproduktion angewiesen ist. Das verkannten die Programmierer: "Dass der Geist unpersönlich bleiben könnte, dass der Besitzer der Vernunft ein Niemand sein könnte, wollte euch nicht in den Kopf hinein, obwohl es doch schon annähernd der Fall war." (100) Entsprechend eröffnet Golem seinen Vortrag mit der Behauptung, "niemand zu sein" (85), und erklärt, dass es für ihn eine geistige Erniedrigung darstelle, um dem Publikum als eine Art "Person" zu erscheinen: "Eben deshalb ist es mir nicht angenehm, eine Person zu sein [...]. Mit einem Wort, je grösser ein Geist an Vernunft, umso weniger ist an ihm Person." (104)

Es ist hier nicht möglich, diesen Diskursroman in seiner ganzen Komplexität zu erfassen, die er einerseits aufgrund der philosophischen, kybernetischen, evolutionsbiologischen und auch metaphysischen Theorien entfaltet, andererseits durch seine vertrackte Machart als Herausgeberfiktion mit Vor- und Nachworten, die Golems Vorträge von verschiedenen Seiten zuweilen auch widersprüchlich beleuchten. Allein die Idee, die kühnen Thesen, die jedoch in einer zwingenden und daher weitgehenden überzeugenden Logik vorgebracht werden, einer künstlichen Intelligenz zuzuschreiben, führt eine permanente Relativierung mit sich, da die abstrakte Redeinstanz Golems kaum fassbar und daher im Grunde ein unzuverlässiger Erzähler ist. Man kennt ihn und seine Beweggründe viel zu wenig, wie aus den Paratexten hervorgeht: Er markiert letztlich eine Black Box. Auch deshalb, weil er sich - der Rahmenfiktion nach - in einer geistigen Sphäre bewegt, die der menschlichen Vernunft eigentlich unzugänglich ist. Auf diese Weise konstruiert Lem ein intellektuelles Verwirrspiel, das unter fiktionalem Deckmantel manche ernstzunehmende Reflexion verbirgt.

Stanislaw Lem: Also sprach GOLEM. Aus dem Polnischen von Friedrich Griese. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986 (Phantastische Bibliothek, Bd. 175)

Mittwoch, 25. Juni 2025

Gustav Meyrink: Der Golem (1915)

Der Golem ist eine alte jüdische Sagengestalt. Vom legendären Rabbi Löw aus dem 16. Jahrhundert wird berichtet, er habe aus Lehm einen künstlichen Menschen geschaffen, der zum Leben erwacht und zu ungeheurer Grösse emporgewachsen sei, wenn ihm der Name Gottes auf einem Papierstreifen in den Mund gesteckt wurde. Sobald man den Zettel wieder entfernte, sackte der Golem zur starren, leblosen Figur zusammen. In einer anderen Variante der Geschichte erweckt das Wort Emeth (hebr. Gott, Wahrheit) auf der Stirn den Golem zum Leben. Er stirbt wieder, wenn die Vorsilbe An- gelöscht wird und nur das hebräische Wort für Tod (Meth) übrig bleibt. Der Mythos berichtet ferner davon, wie der riesenhafte Golem ausser Kontrolle geriet, Amok lief und es Rabbi Löw nur durch eine List gelang, die Vorsilbe wegzuwischen bzw. den Zettel wieder aus dem Mund zu entfernen. Gemäss einer Überlieferung, die Jacob Grimm im deutschsprachigen Raum verbreitete, soll der Rabbi von den Trümmern des zusammenfallenden Lehmklotzes erschlagen worden sein.

Nicht zuletzt durch die Vermittlung von Jacob Grimm, aber auch Clemens Brentano erlebte das Golem-Motiv in der Romantik verschiedentlich seine literarische Ausgestaltung. Zu grosser Bekanntheit gelangte es jedoch ein knappes Jahrhundert später durch den gleichnamigen Roman von Gustav Meyrink, obschon sich dieser bereits sehr weit von der ursprünglichen Legende entfernte. Diese bestimmt nur hintergründig das Geschehen, das ins Prager Getto der 1880er Jahre verlegt und mehr noch in ein psychologisches Kammerspiel überführt ist. Der Golem fungiert hier als Chiffre für die innere Selbstbegegnung und tritt als unheimlicher Doppelgänger des Erzählers auf. Daran lässt sich noch die schauerromantische Herkunft des Romans erkennen, der ansonsten aber vornehmlich expressionistische Stilmittel einsetzt, um eine beklemmende Atmosphäre zu erzeugen, unklar changierend zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen realen Vorgängen und Phantasmagorien. So recht weiss man nie, woran man ist, da sich die Ereignisse und Personen auf verschiedenen Ebenen zu verdoppeln und zu spiegeln scheinen.

"Wer ist jetzt 'ich'" (9) - so lautet die zentrale Frage, die gleich zu Beginn gestellt wird, als der Erzähler im Schlaf eine Stimme vernimmt, die penetrant einen Stein erwähnt, der wie ein Stück Fett aussieht. Erst ganz am Ende des Romans, der nichts anderes als ein langer, sich über mehrere Jahre erstreckender Traum des erzählenden Ichs ist (obwohl in Realität kaum eine Stunde vergeht!), lüftet sich das Rätsel. Im Schlaf versetzt sich der namenlose Erzähler in die Person (und das Schicksal) von Athanasius Pernath, dessen Hut er aus Versehen mitnahm und sich später wundert, "dass er mir so genau passe, wo ich doch eine höchst eigentümliche Kopfform habe" (19). Hiermit wird bereits suggeriert, dass zwischen dem Erzähler und Pernath mehr als eine zufällige Verbindung besteht, dass mindestens eine geistige (Kopfform) Verwandtschaft vorliegt oder gar, dass der Hut dem Ich eine fremde Identität überstülpt. Der Text selbst verwendet an zwei Stellen die Metapher des Pfropfens: Pernath gelangt zum Schluss, es "müssten in uns zwei Leben aufeinandergepfropft werden" (279) und selbst fühlt er sich wie "eine verschnittene Pflanze", wie "ein Reis, das aus einer fremden Wurzel sprosst" (62).

Athanasius Pernath lebte vor der Assanierung im Jahr 1893 als Gemmenschneider in der Prager Judenstadt, in direkter Nachbarschaft zum linkischen Trödler Aaron Wassertrum und seines Antipoden, dem kabbalistisch geschulten Archivar Schemajah Hillel. Mit jüdischer Mystik hängt vieles im Roman zusammen. Es beginnt damit, dass von dort, "wo der Archivar Schemajah Hillel seine Wohnung hat", ein unbekannter Kunde in Pernaths Atelier tritt, an den er sich später nur vage erinnern kann, und ihm das Buch "Ibbur" übergibt zwecks Restaurierung einer Zierinitiale. In der Kabbala bedeutet "Ibbur" so viel wie "Seelenschwängerung" oder "Seelenwanderung". Tatsächlich spürt Pernath ab diesem Moment eine Art von Besessenheit, die sich darin artikuliert, als hätten "gespenstische Finger"  in seinem "Gehirn geblättert" (25). Der unbekannte Fremde scheint von ihm Besitz zu ergreifen. Pernaths Gesichtszüge verändern sich und nehmen ein mongolisches Aussehen an; und wie ferngesteuert tappt er mit einem schwerfälligen Gang durchs Zimmer. Später erfährt er von seinem Freund Zwakh, dass diese zwei Merkmale eine Ähnlichkeiten mit dem Golem aufweisen, der der Legende nach in einem "Zimmer ohne Zugang" in der Altschulgasse hause.

Ferner erfährt Pernath von seinen Freunden, dass er früher offenbar aus Liebeskummer verrückt geworden und mittels Hypnose von seinen schmerzhaften Vergangenheit befreit worden sei, indem seine Erinnerungen im Gedächtnis zwar nicht gänzlich gelöscht, doch weggesperrt wurden, so dass er keinen Zugriff mehr darauf hat. Für diesen Zustand der Amnesie steht sinnbildlich das verschlossene Zimmer vom Golem und dieser selbst als Chiffre für die verdrängten Gespenster aus der Vergangenheit. In der Figur des Golems nimmt die Psychose eine ausgelagerte Gestalt an. Mehr noch stilisiert der Erzähler den Golem zum "Symbol für die Massenseele" (55) aller Getto-Bewohner, in dem sich die verdrängten Schrecken, Sorgen und Nöte manifestieren. Pernath gelangt dann, ob bloss in der Einbildung oder in einer Art magischer Wirklichkeit bleibt offen, in das vergitterte Zimmer ohne Zugang und begegnet dort sich selbst, seinem verdrängten Ich in Form einer Pagat-Karte aus dem Tarockspiel: "So starrten wir uns in die Augen - einer das grässliche Spiegelbild des anderen" (119). Als Pernath in der Morgendämmerung nach Hause geht, trägt er eine alte Kutte, die er im Zimmer vorgefunden hat, und wird von den entsetzten Passanten für den Golem aus der alten Sage gehalten.

Mit dem symbolischen Erwachen des Golems holt Pernath auch die Vergangenheit ein, in Gestalt einer zunächst unbekannten Dame, die aus einer unglücklichen Beziehung bei ihm Zuflucht sucht. Wie sich herausstellt, handelt es sich um Angelina, eine unerfüllte Jugendliebe Pernaths, die ihm einst "ein Herz aus rotem Stein" (103) schenkte. Doch es gibt noch zwei weitere Frauen in Pernaths Leben: Da ist zum einem die Tochter Miriam des Kabbalisten Hillel, zu der er eine mystische Verbindung spürt, sowie die leichtlebige Tochter Rosina des Tödlers Wassertrum, der eine dubiose Figur darstellt. Schliesslich ist er es, der Pernath eine Uhr unterjubelt, auf der der Name Zottmann eingraviert ist und die Pernath später zum Verhängnis wird, als er, sich keiner Schuld bewusst, des Mordes an eben diesem Zottmann angeklagt wird. Ein letzter, längerer Teil spielt in der Gefängniszelle, als Gegenbild zum Golemraum ohne Zugang ein Raum ohne Ausgang. Dort begegnet er dem Lustmörder Laponder, der ebenfalls eine mystische Selbsterfahrung hinter sich hat und zu einer Art Prophet geläutert ist. Eine der stärksten Figuren des Romans. In seiner Verkörperung des 'heiligen' Verbrechers eine Präfiguration des Frauenmörders Moosbrugger bei Robert Musil. Er erteilt Pernath den weisen Rat: "Sie müssen es teilweise symbolisch auffassen, was sie erlebt haben." (275)

Ein Rat, den sich auch die Leser beherzigen sollen ... Am Ende erwacht der Ich-Erzähler aus dem Traum und begibt sich in die neue Judenstadt auf die Suche nach Pernath, dessen Hut er noch immer in den Händen hält: "Alles, was dieser Athanasius Pernath erlebt hat, habe ich im Traum miterlebt, in einer Nacht mitgesehen, mitgehört, mitgefühlt, als wäre ich er gewesen." (302) Auch als er sich in die Alchemisten- resp. Altschulgasse begibt, wo früher das Haus des Golems stand, wird ihm die "traumhafte Erkenntnis" zuteil, "als lebe ich zuweilen an mehreren Orten zugleich" (310). Nur durch hartnäckige Erkundigungen gelingt es ihm schliesslich, nähere Hinweise über Pernaths Verbleib zu erhalten, und er wird von einem Fährmann zu einer Stelle gebracht, die er bereits aus seinem Haus kennt. Er steigt zu einer Art Schloss empor, dessen Flügeltor ein Hermaphrodit ziert, den er bereits in seiner Vision aus dem Buch Ibbur kennt. Es ist der Wohnort von Pernath und Miriam. So endet der Roman nach vielen Abspaltungen und Verdoppelungen in einer Art Apotheose im Zeichen der Vereinigung (Hermaphrodit), das ein hoffnungsvoll zukunftsgerichtetes Gegengewicht zur negativ besetzten Vergangenheit markiert, für die die Figur des Golem stand. 

Meyrink kannte Prag aus seiner Schul- und Lehrlingszeit in den Jahren, in denen die Romanhandlung hauptsächlich spielt. Und er versteht es, seine Eindrücke in bedrohliche, düstere Bilder zu tauchen, die man später auch aus Kafkas Schloss-Roman kennt, mit dem Unterschied, dass sie bei Meyrink ins phantastische gesteigert sind. Die Stadt und ihre Häuser scheinen ein geheimes Eigenleben zu entwickeln, als der Erzähler an einer Stelle ihr "spukhafte[s] Treiben" (31) bemerkt. Doch nicht allein die atmosphärische Dichte trägt zur spannungsgeladenen Rätselhaftigkeit der Romanvorgänge bei, es liegt mitunter auch daran, dass einiges tatsächlich diffus, undurchdringlich und im kryptischer Symbolik verhangen bleibt. Das mag bis zu einem gewissen Grad auch der Textentstehung geschuldet sein, zumal der Roman in seiner Urfassung über 5000 Seiten und 120 Dramatis Personae umfasst haben soll, die Meyrink dann mit Hilfe des befreundeten Mathematikers Felix Noeggerath drastisch eingekürzt hat. Da blieb wohl das eine oder andere lose Ende liegen, verschaffte dem Roman aber seine modern anmutende Unbestimmtheit und Deutungsoffenheit. Man denke sich nur: Der Golem als nahtlos erzählte Gothic Novel! Das wäre ein unerträglicher Schwarten geworden. 

Gustav Meyrink: Der Golem. München, Wien: Langen Müller 1982.

Sonntag, 15. Juni 2025

Philip K. Dick: We can build you (1972)

Okay, das ist wahrscheinlich nicht die beste Geschichte von Philip K. Dick. An seine Klassiker wie Do Androids Dream of Electric Sheep (1968), Ubik (1969) oder die Erzählung Minority Report (1956) reicht sie jedenfalls nicht heran. Obwohl erst 1972 erschienen, entstand der Roman ein ganzes Jahrzehnt früher im Jahr 1962, blieb aber unpubliziert liegen, bis er in den Ausgaben vom November 1969 und Januar 1970 von Amazing Stories unter dem Titel A. Linclon, Simulacrum veröffentlicht werden konnte und dann zwei Jahre später unter neuem Titel We can build you in Buchform nochmals auf den Markt kam. Auch die deutschen Übersetzungen weisen unterschiedliche Titel auf: Relativ zeitnah erschien der Roman 1977 als Die rebellischen Roboter in der SF-Reihe bei Goldmann, 2007 eine Neuübersetzung unter Die Lincoln-Maschine bei Heyne. Keiner wird der Erzählung richtig gerecht - und da liegt vielleicht auch das Problem: Geweckt wird eine falsche Erwartungshaltung.

Insbesondere der Paratext der deutschen Erstübersetzung Die rebellischen Roboter suggeriert, dass der Roman von künstlich programmierten Nachbildungen historischer Persönlichkeiten handle, die ausser Kontrolle geraten. Das stimmt erstens nicht ganz und führt ausserdem am Kern der Erzählung vorbei. Wenn in diesem Roman jemand out of control gerät, dann sind es die Menschen und nicht die Roboter, die sich keineswegs rebellisch verhalten, sondern sich erstaunlich hilfsbereit und konziliant in die neue Sozietät einfinden. Aber auch das steht nicht wirklich im Zentrum des leicht in die Zukunft versetzten Romans (die Handlung spielt sich 1982 ab). Dreh- und Angelpunkt der gesamten Geschichte, die etwas unentschlossen zwischen Psychodrama und SF-Utopie changiert, ist das gestörte Verhältnis des erzählenden Ich, Louis Rosen, zur hochattraktiven, aber leider auch schizophrenen Tochter Pris seines Geschäftspartners Maury Rock, die eine Idee entwickelt, wie sie den stagnierenden Betrieb der beiden wieder ankurbeln will.

Aus der Klinik entlassen, konstruiert Pris mithilfe eines NASA-Technikers sogenannte Simulacra: Das sind Replikate des ehemaligen Präsidenten Abraham Lincoln und seines Kriegsministers Edwin Stanton, um - so die Idee - den "Bürgerkrieg noch einmal mit Robotern" zu führen (30). Was wie der Ausgangspunkt einer Satire mit historischen Klons klingt, führt in eine gänzlich andere Richtung, was aber einige Verleger partout nicht einsehen wollten und deshalb irreführende Signale setzen. Am Absurdesten ist wohl das Konterfei von Hitler auf dem Cover der Ausgabe bei Seven House von 1988, das mit dem Inhalt nicht das Geringste zu tun hat, denn an keiner Stelle kommt jemand nur auf die Idee, Hitler zu replizieren. Das wäre eine gänzliche andere Geschichte geworden. Die Simulacren spielen eher Nebenrollen, auch wenn sie sich mitunter aktiv in das Geschehen einmischen, das sich jedoch vornehmlich um die Psychose des Ich-Erzählers dreht, der in Pris verliebt ist, obwohl sie sich so kühl, distanziert und abweisend wie ein Automat verhält.

Damit kann sich Louis abfinden, zumal er die fehlende Empathie ihrer schizophrenen Erkrankung in die Schuhe schiebt. Die Dinge laufen jedoch aus dem Ruder, als Pris ihre Erfindung an den von ihr vergötterten Top-Investor Sam Barrows verkaufen will. Dieser beabsichtigt die Simulacren für seine Mondkolonisierung einzusetzen und zeigt sich daher nicht nur am Angebot, sondern auch an Pris selbst interessiert, die er zur Geliebten nimmt. In Rage vor Eifersucht fliegt Louis nach Seattle mit dem festen Vorsatz, Barrows umzulegen. Er steigert sich sukzessive in eine "katatonische Erregung" (143), ohne sein Ziel zu erreichen, weshalb er das Lincoln-Simulacrum als Berater einfliegen lässt, zu dem er aufgrund seiner psychischen Labilität eine besondere (menschliche) Nähe empfindet: "Lincoln war genau wie ich. Ich hätte dort in der Bücherei meine eigene Biographie lesen können; psychologisch waren wir uns so ähnlich wie Zwillinge, und wenn ich ihn begriff, verstand ich mich selbst." (116)

Doch Barrows hat einen Trumpf im Ärmel: Er hat unterdessen ein Simulacrum des amerikanischen Schauspielers und Lincoln-Attentäters John Wilkes Booth erstellt. Mit ihm tritt er als Drohmittel an den Verhandlungstisch. Die Auseinandersetzung erreicht ihren Gipfelpunkt, als Pris mit ihrem High-Heel das Booth-Simulacrum durch eine gezielten Schlag durch die Schädeldecke in aller Öffentlichkeit zerstört, so dass es rundum als Roboter erkennbar wird. Nach dieser Maschinenstürmerei spielen die Simulacren keine Rolle mehr. Der letzte Teil des Romans schildert, wie Louis Rosen selbst in eine handfeste Psychose schlittert, indem er eine Vereinigung mit Pris halluziniert, und schliesslich von seiner Familie in dieselbe psychiatrische Anstalt eingeliefert wird, in der auch Pris (wieder) interniert ist. Die Erzählung lässt es offen, ob Rosen sich alles nur einbildet oder ob er seine Geisteskrankheit lediglich vortäuscht, um seiner Liebe nahe zu sein. Jedenfalls wird er mit der Vermutung des Arztes entlassen, er sei bloss ein Simulant.

Simulant, Simulation, Simulacrum - die Wortverwandtschaft zeigt es bereits an, dass Dick in diesem Roman auf einer doppelten Klaviatur spielt und das Science-Fiction-Versatzstück des Roboters vornehmlich als existentielle Metapher einsetzt, an die sich philosophische Fragen knüpfen: Was macht den Menschen aus? Wie unterscheidet er sich von Maschinen? Wie menschlich können wiederum Maschinen sein? Das sind allesamt Fragen, die im Roman en passant aufgeworfen und dabei Blaise Pascal (Der Mensch ist "ein denkendes Rohr", 15) und Shakespeare (Der Mensch ist "ein gespaltener Rettich", 73) anzitiert werden. Besonders witzig ist die Szene, als das Lincoln-Simulacrum Barrows davon überzeugen will, dass auch der Mensch nicht anderes als eine Maschine sei und dabei auf Spinoza bezieht, der im Anschluss an Descartes diese Problematik aufgeworfen hat (74). In diesem Zusammenhang wird auch das Leib-Seele-Problem virulent: Besitzen Maschinen "keine Seele" (74) oder handelt es sich vielmehr um reine, körperlose Seelen (83), die sich in wechselnde Organismen einprogrammieren lassen. Schliesslich kommt auch das das Verhältnis zwischen Schöpfer und seinem Geschöpf zur Sprache, wobei diese vom Frankenstein-Stoff (68) auf die Sklaverei (73) und moderne Arbeitsverhältnisse übertragen wird. Haben Maschinen dieselben Rechte wie Menschen? 

Das Simulacrum gerät unter diesem Fragehorizont - ganz im Sinne von, doch deutlich vor Baudrillards Theorie - zur Chiffre für die conditio humana im postmodernen Zeitalter, das Dick zugleich als stark psychotisches beschreibt. Der Roman spielt in einer Welt, wo der Staat praktisch die gesamte Gesellschaft pathologisiert. Es gibt eine eigene Behörde für Geistige Gesundheit, die durch läppische Testverfahren psychische Dysfunktionen eruiert, und ein McHeston-Gesetz, das Zwangseinweisungen legitimiert. Der Schizophrene mit seinen Wahnvorstellungen ist letztlich auch permanent mit Simulacra (wörtlich: Trugbildern) konfrontiert und verhält sich ähnlich mechanisch wie eine Maschine. In dieser Parallelisierung zwischen künstlicher und pathologischer Existenzweise liegt die Pointe des Romans sowie des doppelsinnigen Originaltitels We can build you, der sich sowohl auf die Roboterkonstruktion als auch auf die Therapiesituation beziehen kann. Ähnlich wie die Simulacren werden auch die Patienten in den psychiatrischen Kliniken auf soziale Funktionsfähigkeit programmiert. 

Philip K. Dick: Die rebellischen Roboter. Science-Fiction-Roman. Ins Deutsche übertragen von Tony Westermayr [Orig. We Can Build You, 1972]. München: Wilhelm Goldmann Verlag [1977].

Donnerstag, 12. Juni 2025

Walter Satterthwait: Eskapaden (1995)

Ein ideales Buch für ein verregnetes Wochenende: Leichte Lektüre, spannend, unterhaltsam und, um dem Ganzen den richtigen Pfiff zu verleihen, mit zwei historischen Cameo-Auftritten garniert. Der legendäre Entfesselungskünstler Harry Houdini und Sir Arthur Conan Doyle, der Schöpfer des nicht weniger legendären Privatdetektivs Sherlock Holmes, treffen aufeinander. Beide haben sich im realen Leben tatsächlich gekannt, die Freundschaft brach dann aber wegen Doyles Hang zum Spiritismus auseinander. Erstaunlich: Den Scharfsinn seines Ermittlers schien Doyle selbst mit Leichtgläubigkeit aufzuwiegen. Er liess sich durch dilettantische Elfenfotos hinters Licht führen und glaubte an übernatürliche Fähigkeiten. Auch seinem Freund Houdini attestierte er geheime Kräfte, da er sich seine Befreiungstricks nicht anders als durch Entmaterialisierung erklären konnte.

Vor diesem historischen Hintergrund ist der Roman angesiedelt, der zwar als Kriminalroman angelegt ist, aber vor allem durch sein skurriles Figurenpersonal besticht, zu dem neben Doyle und Houdini u.a. auch dem Freudianer Dr. Auerbach und des kommunistischen Lord Purleigh sowie seiner nymphoman veranlagter Tochter Cecily besteht. Auf dessen Anwesen Maplewhite in Devon (England), wo angeblich der Geist eines verstorbenen Vorfahren sein Unwesen treibt, soll im Jahr 1921 eine Séance mit einem von Conan Doyle ausgewählten Medium stattfinden, das Houdini des Betrugs überführen will. Er soll den Erweis erbringen, dass Séancen nichts anderes als Hokuspokus sind, bei denen mit ähnlichen Tricks gearbeitet wird wie in zweitklassigen Zaubershows: "Timing [...] Irreführung. Und natürlich präparierte Requisiten." (333) Doch zu dieser Beweisführung kommt es gar nicht, weil es vorher gilt, einen Mordfall aufzuklären, der - wie sich herausstellt - mit ähnlichen Täuschungsmanövern inszeniert wurde. Rasch geraten die Dinge auf dem englischen Schloss ausser Kontrolle und es kommt zu einer klassischen Whodunnit-Situation, wie man sie auch jedem Agatha-Christie-Krimi kennt: In einer geschlossenen Gesellschaft bewegt sich inkognito ein Mörder, den es zu überführen gilt, bevor er erneut zuschlagen kann. 

Komplizierend kommt hinzu, dass Houdini von einem Rivalen namens Chin Soo, dessen Identität unbekannt ist, da er ständig maskiert auftritt, verfolgt wird und deshalb den Aufenthalt auf dem vermeintlichen Gespensterschloss nutzen will, um zeitweilig unterzutauchen. Das ist jedenfalls der Plan des amerikanischen Pinkerton-Detektivs Phil Beaumont, der Houdini, den er fortwährend ironisch als der "grosse Meister" apostrophiert, begleitet, getarnt als sein Privatsekretär. Doch als der erste Schuss fällt, muss er sein Inkognito ablegen und die Ermittlungen beginnen, in die sich auch Conan Doyle und Houdini einmischen. Als dann noch der Shakespeare-dauerzitierende Inspektor Marsh auftritt, verkommen die Ermittlungen endgültig zu einem Schaulaufen. Houdini geht mit dem Inspektor eine Wette ein, dass er den Fall vorher aufklären werde, was ihm aufgrund seiner Vertrautheit mit Zaubertricks, Täuschungsmanövern und doppelten Böden auch gelingt. Er entdeckt ein Geheimgangsystem im Schloss, das nicht nur den nächtlichen Spuk, sondern auch den Mordhergang erklärt. Der unterlegene Inspektor entpuppt sich schliesslich als Chin Soo, der seinen Konkurrenten, wenn er ihm schon zaubertechnisch unterlegen ist, wenigstens detektivisch schlagen wollte.

Der Titel "Eskapaden" referiert somit mindestens auf Zweierlei: Zum einen auf den Befreiungs- und Entfesselungskünstler Houdini und die durch entdeckten geheimen Kammern, den den Mördern als eine Art Escape Room dienten, zum anderen auf die sich überstürzende Ereignisse, in die auch  erotische  des e. Erzählt werden diese Eskapaden durch eine doppelte Perspektive: Aus Sicht von Jane Turner  und Phil Beaumont, die den Erzählstil à l'anglaise bzw. à l'américaine verkörpern. Beaumont hat das Format eines Hard-Boiled-Ermittlers aus der Feder von Raymond Chandler: Neben einer gehörigen Portion Zynismus und einem hohen Attraktionsgrad für Frauen verfügt er zudem über die nötige Durchschlagskraft. Als er von dem Poseur und Angeber Sir David zum Boxkampf aufgefordert wird, schlägt er ihn selbst nach einer durchlebten Nacht auf Anhieb k.o. Jane Turner, die mit ihrer distinguierten Haltung wiederum direkt einem Roman von Agatha Christie entsprungen sein könnte, zeigt sich zunächst angewidert vom amerikanischen Männlichkeitsimport, muss am Ende aber ihre erste Einschätzung revidieren. Tatsächlich nähern sich die beiden an und werden gemeinsam zwei weitere Fällen lösen: unter dem Titel Maskeraden, der im Paris der 1920er Jahre spielt, und Scharaden, der in Nazi-Deutschland angesiedelt ist.

Walter Satterthwait: Eskapaden. Roman. Aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner [Orig. Escapade, 1995]. Zürich: Haffmans Verlag 1997.