Dienstag, 25. März 2025

Christian Kracht: 1979 (2001)

Und gleich nochmals Kracht, weil es so Spass macht: In nur 180 Seiten, nein, nicht um die Welt, sondern vom revolutionären Teheran in ein chinesisches Umerziehungslager. Dort endet die Geschichte für den Ich-Erzähler. Scheinbar zufrieden quittiert er im letzten Satz: "Ich war ein guter Gefangener. Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen." Wie hier die komplette Selbstaufgabe gleich vierfach mit dem stolzen Personalpronomen "Ich" eingeleitet wird, ist in seiner Widersprüchlichkeit nicht nur erzähltechnisch brillant, sondern gehört wesentlich zum subtilen Irritationspotential dieser Prosa dazu. Mit derselben emotionslosen Distanz wie seine Inhaftierung schildert das erzählende Ich die Ereignisse, die in das Lager geführt haben.

Alles beginnt Anfang 1979 in Teheran am Vorabend der Revolution: Der Erzähler besucht mit Christopher, seinem total abgefuckten Freund, eine dekadente illegale Party mit dubiosen Szeneleuten, die mit Orgon-Akkumulatoren sexuelle Erregung suchen und sich im anliegenden Haschwäldchen verlustieren. Während Christopher sich mit Koks und Alkohol vollpumpt, gelangt der Erzähler zur Erkenntnis, dass es mit ihrer Beziehung vorbei ist, mehr noch, dass es nie eine richtige Beziehung war, da er sich nur mit dem brillanten Zyniker, der Christopher einmal war, "geschmückt" habe. Ihn ereilt diese Erkenntnis parallel zur Begegnung mit einem gewissen Mavrocordato, der drohende, orakelhafte Prognosen ausstellt, im Erzähler aber auch eine Art Erlöserfigur erblickt: "Sie sind rein, Sie sind ein offenes Gefäss, wie der Kelch Christi [...] Sie sind - wide open."

In derselben Nacht erliegt der schon länger dahinsiechende Christopher (es ist von Blasenbildung an den Beinen die Rede) in einem abgewrackten Hospital an einer Überdosis und gleichzeitig bricht die islamischen Revolution unter Chomeini bricht. Der Erzähler irrt durch die Strassen und trifft scheinbar zufällig wieder auf Mavrocordato, der Teil des revolutionären Widerstands ist. Von ihm wird er auf eine seltsame, metaphysische Mission geschickt. Er soll zum Mount Meru, dem heiligen Berg Kailasch, Zentrum des Universums im Tibet pilgern und diesen im Uhrzeigersinn umkreisen, um durch diese Form des gehenden "Gebets" zum Weltfrieden beizutragen. Bei der Umrundung, die ihm als "perfekte Lebensaufgabe" erscheint, freundet er sich mit einer Gruppe von Pilgern an. Sie werden jedoch von chinesischen Offizieren aufgegriffen und als vermeintlich russische Spione in ein Arbeitslager gesteckt. 

Das Buch endet mit der Schilderung des Lagerlebens, dem sich der Erzähler trotz der unmenschlichen Bedingungen fügt, ja es sogar als Erlösung zu empfinden scheint. Man fragt sich sogar, ob sich der Erzähler über den Ernst der Lage wirklich bewusst ist - oder ob es für ihn keinen nennenswerten Unterschied macht, wenn er sich wie anfänglich auf einer Party bewegt, an der er sich unwohl fühlt. Die Realitätsverklärung kommt nachgerade zynisch zum Ausdruck, als der Gefangene sich freut, aufgrund des Nahrungsentzugs "endlich seriously abzunehmen". Der eingestreute Anglizismus unterstreicht nur seine Blasiertheit. Auch die sogenannte "Selbstkritik", d.h. die maoistische Indoktrinierung, nimmt er gleichgültig hin wie einen Partysmalltalk. Ein in seiner betont gleichgültigen Erzählhaltung unheimliches Buch, was zugleich seine Stärke ist.

Was will uns der Autor mit dieser Anti-Selbstfindungsreise vor Augen führen? Kritik an der Wohlstandsverwahrlosung? Kann die Jeunesse dorée das einzige Glück nur noch im Straflager finden, weil hier die existenzielle Leere mit Sinn aufgefüllt wird? Oder Sozialkritik? Das Lager als selbstverschuldetes Schicksal für politische Indifferenz und Flucht in eine Konsumwelt? Oder einmal mehr bei Kracht die hyperironische Inszenierung des Eskapismus, sei es nun an einer Untergrund-Party oder im Lager? "War waren verschwunden, es gab uns nicht mehr, wir hatten uns aufgelöst", heisst es kurz vor Schluss. Nota bene: Auflösung, nicht Erlösung.

Samstag, 22. März 2025

Christian Kracht: Air (2025)

Vorsicht Schlaumeier-Literatur! 

... Auf der Meta-Ebene ist es dann doch wieder ein raffiniertes Buch. Bei der Lektüre ist man zunächst eher enttäuscht, allzu glatt und belanglos wirkt die erzählte Geschichte auf den ersten Blick. Das mag mit ein Grund sein, weshalb die Kritik hin- und her gerissen ist zwischen Euphorie und Enttäuschung, abhängig davon, ob sie auf der Erzählebene verhaftet bleibt oder den Sprung ins Metaversum mitmacht. Der Unmut macht sich mit aus dem Roman selbst entlehnten Metaphern breit: Er sei nur "heisse Luft" bzw. ein "laues Lüftchen" oder die Story sei zu "flach". Doch dahinter steckt Kalkül. Eine Besonderheit von Krachts Prosa war es seither, dass sie mit Oberflächeneffekten operiert und doch eine Bedeutungstiefe suggeriert. So auch hier, im neusten Buch des Autors. Alles wirkt poliert und geschliffen, makellose Sätze reihen sich aneinander, die Geschichte entfaltet sich, trotz der Parallelführung zweier Erzählstränge, klar und geradlinig bis zur Banalität, und doch sind da allerlei Anspielungen und kleine Irritationen eingestreut, die zum Deuteln einladen. Und das macht wohl die Faszinationskraft von Krachts Roman aus, ähnlich wie eine Skulptur von Jeff Koons: Auf den ersten Blick möchte man ihn als puren Kitsch zurückweisen, auf den zweiten Blick erkennt man das Konzept dahinter. 

Hinzu kommt, dass bei Kracht stets auch eine sprachlich kaum fassbare Ironie mitschwingt. Etwa zu Beginn des Romans, als über mehrere Seiten die Wohnung des Schweizer Inneneinrichters Paul mit einem (ebenfalls ironisch?) überbordenden Adjektivreichtum, wie ihn heutzutage jeder Lektor aus dem Manuskript streichen würde, beschrieben wird: Ein Hipster-Klischee reiht sich an das nächste, vom akkurat arrangierten Designmagazin-Stapel bis hin zur umbrafarbenen Schale mit drei Walnüssen und einigen Muscheln, so dass sich die Szenerie nicht anders als parodistisch liest. Und zwar als Parodie auf den schlichten, minimalistischen Skandinavischen Stil, für den das Magazin "Kūki" wirbt, das da so säuberlich aufgestapelt liegt. An diesem Punkt wird es schon kompliziert bzw. bedeutungsschwanger: Das Magazin stammt zwar aus Norwegen, trägt aber einen japanischen Titel, der "Luft" bedeutet. Aha! Wie der Titel des Romans auf Englisch: "Air". Damit ist das Grundmotiv schon mehrschichtig gelegt. Der sich sowohl im Titel als auch im Programm des Magazins ausgedrückte Wunsch nach Leichtigkeit, Leere, Reinheit ja sogar Transzendenz bis hin zur Autolyse - sich in "Luft" auflösen. Der Wunsch nach Eskapismus und Gesellschaftsflucht artikuliert sich schon immer in Krachts Romanen. Er zieht sich als basso continuo durch sein Werk.

'Sich in Luft auflösen': Darin besteht just auch die Absicht des "sich selbst absichtlich irrelevant machenden Dekorationsmagazins" Kūki. Und darin besteht auch das Schicksal des Dekorateurs Paul, der, kurz nachdem er sich wünschte, "er könne in der Zeit verschwinden", tatsächlich - durch einen Stromschlag? eine Datenverschiebung in der Cloud? sicher jedenfalls durch einen Erzähltrick des Autors - in eine Fantasiewelt katapultiert wird, die ganz seiner puristischen Ästhetik entspricht. Er landet in einem vortechnischen Zeitalter mit karger Landschaft, Steinen, Eisflächen, unendlichen Weiten und Bewohnern, die eine karge Lebensweise pflegen. Er bewundert die "einfachen Gegenstände" dieser Welt: "Es war alles echt." Zugleich mutet sie aber wie ein Fantasy-Rollenspiel an: Zusammen mit einem Mädchen namens Ildr muss Paul, der nur noch "der Fremde" genannt wird, gegen Soldaten des bösen Herzogs kämpfen, die aus unbekanntem Grund hinter ihm her sind. Scheinbar ebenso grundlos ziehen beide zum Eismeer, weil sich Paul da eine unbekannte Erlösung verspricht. Im Verlauf ihrer Reise vermeint Paul, dass die Welt immer flacher werde, bis er schliesslich als Zauberer Merlin in das Bild von James Archer eingeht, das bei ihm in der Wohnung hing.

Wie die beiden Erzählebenen Pauls Design-Wirklichkeit und die scheinbar 'echte' Welt des Mittelalters, 'logisch' zusammenhängen, lässt mehrere Deutungen offen. Es könnte alles nur ein Traum sein (Paul schläft zu Beginn auf dem Sofa). Es könnte eine Nahtoderfahrung oder Jenseitsreise ein (Paul lehnt sich gerade gegen die Datenbank als der Stromschlag erfolgt, auch der Kūki-Herausgeber Cohen nimmt eine Überdosis Schlafmittel, bevor er in der anderen Welt erwacht. Ausserdem wird als intertextueller Fingerzeig flüchtig auf die Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren verwiesen). Oder es handelt sich um eine Computersimulation (darauf deutet der Fantasy-Charakter hin wie auch gewisse Unstimmigkeiten, die wie eine Fehlprogrammierung anmuten, wenn etwa im tiefen Mittelalter eine Schraube auftaucht: "Eigentlich dürfte es solche Dinge hier nicht geben."). Handelt es sich um Gesellschaftskritik (Stichwort "Verflachung der Welt", eine Parodie auf die Flat-Earth-Bewegung) oder um eine antizivilistische Propaganda (Stichwort: das Neuheidentum, den Rodismus, für den der Kūki-Herausgeber Cohen zu schwärmen beginnt)?Wie immer kokettiert Kracht auch hier mit fragwürdig reaktionären oder sogar faschistoiden Ideologien.

Für jede dieser Deutungen sind Hinweise verstreut. Alles ist vom Autor bereits mitgedacht. Schlaumeier-Literatur eben. Wie subtil der Roman bis ins Detail gearbeitet ist, zeigt bereits der erste Satz, der zweifelsohne als einer der ersten besten Sätze in die Literaturgeschichte eingehen wird: "Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich." An sich ist diese direkte Zurücknahme schon grandios, die Raffinesse der Formulierung erweist sich aber erst in der Doppelsemantik dieser Verneinung, die sich sowohl auf die Sorgen als auch auf das Leben beziehen kann. Zunächst ist man geneigt, den Satz so zu verstehen, dass das Leben nicht wirklich voller Sorgen sei (not really). Doch - und Kracht hat das bei seiner Lesung an der Buchvernissage durch die Doppelbetonung eigens vordemonstriert - könnte man den Satz auch so verstehen, dass das Leben selbst nicht wirklich sei (not real). Und damit dringt man bereits tief in die Grundproblematik des Romans vor, der die Frage aufwirft, auf welchen Realitätsebene er sich bewegt. Erwähnt der Autor dann noch schelmisch in einem Interview, seine Tochter habe ihn darauf hingewiesen, dass im Titel auch die Artificial Intelligence (AIr) steckt, legt er geschickt den Köder, den Roman als Parabel auf ein durch und durch künstliches, computergeneriertes Leben zu lesen.

Schliesslich steht genau in der Mitte und damit im architektonischen Zentrum des Romans das gigantische Rechenzentrum, in dem das gesamte Gedächtnis der Menschheit gespeichert ist. Auch da operiert Kracht wieder mit einer bivalenten Formulierung: "Dort wohne im Grund die Cloud". Auch das lässt sich zweifach verstehen: Einerseits topologisch: tief unten, wobei hier zusätzlich mit der Paradoxie gespielt wird, das sich die Cloud (Wolke) auf dem Grund befindet. Eine ähnlich verkehrte Welt, wie die simulierte in der Parallelgeschichte, wo die Sonne im Westen untergeht. Andererseits lässt sich das 'im Grunde' auch rein hypothetisch verstehen: eigentlich, aber 'nicht wirklich'? Die Frage nach der Wirklichkeit durchzieht den Roman von Anbeginn: Bereits Pauls Tätigkeit als Inneneinrichter ist darauf angelegt, mit den "inszenierten Wohnräumen" eine falsche Realität vorzutäuschen, um bei den Kunden Sehnsüchte zu wecken. Dasselbe gilt für Träume, von denen einmal gesagt wird, durch sie könne man "in andere Welten" gehen. Und schliesslich wird auch die Möglichkeit diskutiert, ob die Persönlichkeit nach der Auflösung des Körpers virtuell weiterleben könne. Der Computer biete somit eine "Hoffnung", "die immateriell ist" - genauso wie Pauls Innenausstattungen.

"Hoffnung", so hat Paul nicht von ungefähr auch sein Ruderboot getauft, das dann in der Parallelwelt wieder auftaucht. Auf diese Weise so lassen sich ad infinitum weitere Bezüge herstellen, die der Autor sorgsam gestreut hat, ohne dass sich damit der Text näher erschliessen würde. Das Deutungsangebot bleibt offen. Und der Autor lacht sich ins Fäustchen. Schlaumeier!

Mittwoch, 19. März 2025

André Pieyre de Mandiargues: Das Motorrad (1963)

Der 1909 in Paris geborene Mandiargues gehörte zum Umkreis der Surrealisten rund um André Breton, mit dem er eine enge Freundschaft pflegte. Doch dieser relativ späte Roman weist, abgesehen von einigen Traumsequenzen und der Schilderung einer abgründig perversen Leidenschaft, kaum mehr surrealistische Züge auf. Im Gegenteil: Der Erzählton ist eher klassisch-gediegen und von einer , das Erzähltempo gedrosselt, was dem Motiv der rasanten Motorradfahrt diametral entgegen steht. So als hätte Thomas Mann eine Road Novel geschrieben. Vom Flair wiederum ist der Roman ein typisches Kind der 1960er Jahre, was sich auch daran zeigt, dass er erstaunlich rasch verfilmt wurde - der Streifen kam 1968 ins Kino mit Marianne Faithfull, der Ikone der Swinging Sixties, in der Hauptrolle. Ein Jahr später knatterten die Easy Rider Peter Fonda, Dennis Hopper und Jack Nicholson über die Leinwand.

Die Geschichte handelt von einer Amour fou, von einer jungen, 19jährigen Frau namens Rebecca, die sich in ein gefährliches Liebesspiel verwickelt. Der Roman beginnt damit, dass die frisch Verheiratete verfrüht aus einem Traum erwacht und kurzerhand beschliesst, das Ehebett zu verlassen, sich nackt die schwarze Lederkombination überzieht und auf ihr Motorrad steigt, um - wie 12 Tage zuvor schon - zu ihrem Liebhaber nach Deutschland zu fahren. Von ihm, einem an Esoterik interessierten Kunden ihres Vaters, der eine Buchhandlung führt, hat sie dieses Motorrad als Hochzeitsgeschenk bekommen, nachdem er vor der Hochzeit nächtens in ihr Hotelzimmer und schliesslich wie ein Inkubus auch in sie eingedrungen ist. Seither bindet sie ein magischer Bann an diesen mysteriösen Mann, den sie als ihren "Tigergott" verehrt und ihm absolut unterwürfig ergeben ist. Auf der Motorradfahrt zu ihm verfällt sie etappenweise in Tagträume und Reminiszenzen, an die sexuelle Initiationen.

Das führt zu einem eigentümlichen erzähltechnischen Effekt: Trotz der rasenden Geschwindigkeit, mit der Rebecca auf ihrem Motorrad unterwegs ist, zögert sich ihre Ankunft ständig hinaus: "die Zeit entschlüpft ihrem Blick". Sie befindet sich auf dem Weg in eine zeitlose, transzendente Sphäre. In ein Nirwana. Am Ende wird sie auch gar nicht ankommen, sondern tödlich verunglücken. Die Fahrt voraus führt somit zurück in die Vergangenheit: Wie seitlich die Häuser an Rebecca "wie eine Folge kleiner Träume" vorbeiziehen, so ziehen auch die Erinnerungsbilder an ihrem inneren Auge vorüber. Dabei verschmilzt sie zusehends mit ihrer Maschine zu einem "vollkommenen Ungetüm", gibt sich dem vibrierenden Motor unter ihren Schenkel mit derselben Ergebenheit, wie sie sich auch ihrem Liebhaber unterwirft. Die rauschhafte Fahrt steigert sich zu einem transluziden Zustand, der schliesslich im letalen Crash als der ultimativen Form der Ekstase und Erleuchtung mündet.

Ein Motiv, das man sowohl aus Marinettis Futuristischem Manifest als auch aus J.G. Ballards Crash oder John Hawkes Travestie kennt. Mandiargues führt dem eine esoterische Ebene hinzu: Der Liebhaber, Daniel Lionart, entpuppt sich als Swedenborgianer, als Anhänger des Schwedischen Mystikers und Theosophen Emanuel Swedenborg, und scheint mit spirituellen Ritualen vertraut. Er erscheint Rebecca in seinem Morgenmantel als "Priester einer sonderbaren Religion". Allerdings erinnern die zuweilen brutalen Exerzitien, die er an Rebecca vornimmt, eher an sexualmagische Praktiken eines Aleister Crowley als an Swedenborgs Lehre von der göttlichen Weisheit und Liebe. Die letale Motorfahrt lässt sich hingegen als Allegorie der Swedenborgischen Metaphysik lesen, derzufolge der irdische Körper als rein äussere Hülle im Moment der Aufweckung abgestreift werde, um in die rein geistige Welt überzugehen. So mündet der Roman denn auch mit einer kosmischen Auflösung: "Ein übermässiges lächelndes Antlitz wird sie verschlingen [...], ein menschliches, übermenschliches Antlitz, das letzte, vielleicht das eigentliche Antlitz des Alls."

Dass es sich bei diesem Gesicht lediglich um das Werbebild des Lastwagens handelt, in den Rebecca mit Vollgas donnert, ist die bittere Pointe des Romans. Es handelt sich um einen Weintransporter mit einem aufgemalten lachenden Bacchus auf der Plane. Allegorisch steht natürlich auch dieser Weingott für dionysischen Rausch und Ekstase, freilich weitaus profaner als es die von Swedenborg indoktrinierte Rebecca zum Zeitpunkt ihres Todes wähnt. Vor ihrem Crash kippte sie mehrere Gläser Kirschwasser in einer Kneipe.

Dienstag, 4. März 2025

Walter Vogt: Die Talpi kommen! (1973)

Das Buch erschien zuerst 1971 mit dem Untertitel "Ein Miniroman für kluge Kinder" im Berner Verlag "Gute Schriften". Um ein Kinderbuch handelt es sich deswegen bei Weitem nicht. Zumindest machen Illustrationen und sogenannte "Wandtafelsätze" (siehe Peter Bichsel, dessen Kindergeschichten eben auch keine sind) noch lange kein Kinderbuch. Auch das Glossar im Anhang verfolgt keinerlei pädagogische Absichten, auch wenn dort das Lemma "Glossarium, Glossar" ironisch wie folgt erläutert wird: "Worterklärungen für Lehrer und besorgte Eltern". Nicht die Kinder sollen also belehrt, sondern die Erwachsenen beruhigt werden. Auch die restlichen Begriffe werden im Glossar mit ähnlich fröhlichem Unernst erklärt, oft im subversivem Gegensinn bis hin zur kompletten Un- bzw. Blödsinnigkeit: "Einweihungsriten: Riten zur Einweihung Uneingeweihter durch Riten (sog. 'Einweihungsriten')." Besser liesse sich die hilflose Redundanz terminologischer Bemühungen nicht demonstrieren. In ebenso selbstbezüglicher Weise wird der im Text fallende Begriff "Rekombinatorenbank" im Glossar erläutert: "Literatur zum Thema 'Rekombinatorenbank': Vogt, W. 'Die Talpi kommen!' (Sauerländer, Aarau, 1973). Einziges einschlägiges Standardwerk von Bedeutung."

Womit wir beim Thema wären: Worum geht's? Um Ausserirdische, die Talpi. Ja, auch. Vor allem aber um zwei Jungs, den Polizistensohn Alex, der über den sechsten Sinn verfügt, und den Apothekersohn Hans, genannt "Busch", der Alex mit Unmengen von Phosphortabletten versorgt, um dessen sechsten Sinn konstant aufrecht zu erhalten. Beide entdecken im Katzloch (bei Punkt 736 auf der Karte Belpberg 1:25000) ein Höhlensystem, in dem sich auch ein ausserirdischer Talpi verirrt hat. Sie wollen es als eine "Mischung von Räuberlager und Arche Noah" zu einer eigenen Behausung umfunktionieren. Zu diesem Zweck betäuben und entführen sie nicht nur Tiere, sondern auch andere Kinder Lehrer und Haushälterinnen, um eine Art unterirdische - oder wie sie es nennen - "exterritoriale" Gemeinschaft zu bilden. Gleichzeitig sind die wahren Extraterrestrischen, die Talpi, unterwegs Richtung RD (sprich: ErDe) in ihrem Raumschiff "Talgo due", auf dem sie als einziges menschliches Exemplar den Philosophen Ludwig Feuerbach mit an Bord führen, um ihn am Ende gegen ihr im Höhlenloch verirrtes Mitglied austauschen. Doch so linear, wie hier nacherzählt, erfolgt die Geschichte nicht. Sie zeichnet sich vielmehr durch diverse temporale Sprünge und auktoriale Störmanöver aus bis am Schluss, wo der Autor - wie es Roland Barthes in Der Tod des Autors (1967) fordert - den Stab dem Leser übergibt.

Es ist vielleicht Walter Vogts heiterstes und lockerstes Werk. Deshalb stellt das Buch in seiner Unbekümmertheit so manche angestrengte, weil betont sprachgedrechselte und um Relevanz heischende Neuerscheinung bei Weitem in den Schatten. Vogts Anspruch ist alles andere, als gesellschaftlich relevant zu sein - und gerade deshalb ist er es umso mehr. Vordergründig voller Witz und Schabernack, Stil- und Konventionsbrüchen, manchmal scheinbar zu billigen Pointen neigend, die aber doch wieder von einem untergründigen Sarkasmus aufgefangen werden. Im Überhang zum Absurden bleibt die sozialkritische Dimension nicht verborgen, auch nicht im Glossar, das diverse gesellschaftspolitische Begriff explikativ subvertiert und damit einen kritischen Echoraum schafft. Man braucht eigentlich nur das unter dem Titel "Der Autor gibt seine Visitenkarte ab" stehende Vorwort zu lesen, um den satirischen Grundtenor des Textes zu erfassen, sowohl in formaler Hinsicht mit seinem unverfrorenen Umgang jeglicher Erzählkonventionen als auch in kritischer Hinsicht mit allen subversiven Untertönen. Unter dem Strich einfach ein grossartiges Lesevergnügen, bei dem der Spass ebenso wie der Intellekt auf seine Kosten kommt.

Mittwoch, 26. Februar 2025

Virigina Woolf: Mrs Dalloway (1925)

Vor hundert Jahren erschien Mrs Dalloway, in der von Virginia Woolf und ihrem Mann Leonard wenige Jahre zuvor gegründeten Hogarth Press. Es ist ein Gesellschaftsroman im doppelten Sinn. Zum einen schildert der Roman verschiedene Charaktere aus der Londoner Upperclass an exakt einem Tag Mitte Juni 1923, zum anderen die Vorbereitungen zu einer Abendgesellschaft, die Clarissa Dalloway noch Ende des selben Tags (und somit auch des Romans) gibt. In ihrer Vernunftehe mit Richard Dalloway flüchtete sich Clarissa in die Rolle der "perfekten Gastgeberin". Der Titel des Romans, der nicht etwa den Eigennamen der Protagonistin, sondern ihren angeheirateten Ehenamen trägt, verweist damit bereits symbolisch auf ein Grundmotiv: auf die Dominanz der gesellschaftlichen Repräsentativität, die nicht immer mit dem inneren Gefühlsleben in Einklang zu bringen ist. Schon früh im Verlauf des Romans wird sich die Titelheldin bewusst, wie sie in ihrer sozialen Rolle gefangen bleibt: "nur dieses Mrs. Dalloway-Sein; nicht einmal mehr Clarissa; nur dieses Mrs. Richard Dalloway-Sein".

Von Mrs. Dalloway erfahren wir, dass es sich um eine 52jährige Frau mit einer vogelartigen Physiognomie handelt, die unlängst von einer Herz-Krankheit genesen ist und sich in einer ambivalenten Gefühlslage wiederfindet. Zum einen begrüsst sie zu Beginn emphatisch das "Leben", das auch allgemeingesellschaftlich nach Kriegsende wieder aufblühte: "Der Krieg war vorbei". Andererseits wird sie den Eindruck nicht los, ein falsches Dasein zu fristen. Gleich zu Beginn des Romans, auf dem Weg zur Blumenhändlerin, denkt sie sich: "Ach, wenn sie nur ihr Leben nochmals leben könnte!" Ihre Gedanken schweifen schon früh am Tag, als sie das Haus verlässt, in die Vergangenheit, in ihre Jugendtage auf dem Landgut in Bourton, als sie mit ihrer Freundin Sally die Möglichkeit lesbischer Liebe erkundete und den geistreichen, aber erfolglosen Peter Walsh für eine bürgerliche Ehe mit dem grundsoliden Langweiler Richard Dalloway sitzen liess. Die unromantische Tragik dieses Entscheids gelangt in einer Szene zum Ausdruck, als dieser seiner Gattin mit einem Strauss Blumen seine Liebe gestehen will, aber den entscheidenden Satz auch nach mehreren Anläufen partout nicht über die Lippen bringt.

In dieser Diskrepanz zwischen Innenleben und Aussenwahrnehmung verfolgt der Roman verschiedene Charaktere entlang ihrer Tagesgeschäfte durch London und lässt sukzessive die Zusammenhänge zwischen ihnen erkennen, bis alle Fäden im grossen Finale der Abendgesellschaft zusammenlaufen. Insbesondere das Schicksal des traumatisierten Kriegsveteranen Septimus Smith verknüpft sich am Ende überraschend drastisch mit demjenigen der Titelheldin. Während zunächst ohne grösseren Zusammenhang die Wahnvorstellungen von Smith geschildert werden wie auch die Therapieversuche der Ärzte, denen er sich schliesslich aber durch einen Sprung aus dem Fenster zu entziehen weiss, wirft die Nachricht dieses Suizids während der Party Clarissa Dalloway auf ihre eigene Situation zurück: "Irgendwie war es ihr eigenes Unheil - ihre eigene Schmach". Sie entfernt sich einen Moment von der Gesellschaft, erkennt die Ähnlichkeit mit dem Selbstmörder, rettet sich aber schliesslich in den Gedanken, dass er sich stellvertretend quasi als kollektives Opfer umgebracht habe: "Sie war froh, dass er es getan hatte; es weggeworfen hatte, während sie alle das Leben weiterlebten."

Der Roman spielt - wie James Joyces Ulysses, mit dem er viel verglichen worden ist - an exakt einem Tag, ansatzweise in einer Gedankenstromtechnik, die aber nicht so radikal durchgeführt ist wie bei Joyce (oder auch bei Arthur Schnitzler in Leutnant Gustl), da sich eine auktoriale Stimme nach wie vor bemerkbar macht, nicht selten mit salopp dahingeworfenen, zynischen Bemerkungen. Wie aber die verschiedenen Stimmen ineinanderfliessen, die Perspektiven gewechselt, äussere Begebenheiten durch innere Denkvorgänge reflektiert werden, führt zu einer komplexen Erzählprosa, hypotaktisch und von Parenthesen durchschossen, so dass zuweilen innerhalb eines einzigartigen Satzes verschiedene Sichtweisen nahezu kubistisch zusammenfinden. Es entsteht dadurch eine unglaublich reiche, dicht verwobenen Prosa von zuweilen ungeheurer Intensität, in der sich die gesamte Befindlichkeit der Nachkriegszeit reflektiert, die hinter dem scheinbaren Wohlstand und Frieden ihre Abgründe verbirgt. Strukturiert wird der wechselnde Gedankenstrom lediglich durch die Glockenschläge von Big Ben, die wie ein mahnendes Memento Mori den Lauf des Geschehens durchziehen.

Dienstag, 25. Februar 2025

Evo Präkogler: Nicht schon wieder...! (1990)

Oswald Wiener geht trotz (oder gerade wegen) seiner Vielseitigkeit als Ein-Buch-Autor durch. Nachdem sein literarischer Hauptwerk die verbesserung von mitteleuropa zuerst periodisch in der Grazer Zeitschrift manuskripte, dann 1969 in Buchform erschienen ist, trat er vornehmlich als Theoretiker und Essayist in Erscheinung. Seine Beteiligung am skandalträchtigen Auftritt Kunst und Revolution der Wiener Aktionisten, die als "Uni-Ferkelei" in die Annalen einging, nötigte ihn überdies, im Erscheinungsjahr von die verbesserung von mitteleuropa Österreich aufgrund eines drohenden Verfahrens wegen Gotteslästerung zu verlassen. Er liess sich in West-Berlin nieder, wo er als Gastronom bis 1986 das Szene-Lokal Exil führte, das angeblich auch David Bowie frequentiert haben soll.

In Berlin etablierte er sich - neben einem neu in Angriff genommenen Studium in Mathematik und Informatik - als Publizist, u.a. für den Verlag Matthes & Seitz, in dem er verschiedene Bücher herausgab oder benachwortete, z.B. Riten der Selbstauflösung (1982) oder Psychopathia criminalis von Oskar Panizza (1978). 1990 erschienen im selben Verlag unter dem Titel nicht schon wieder...! auch die Aufzeichnungen eines gewissen Zdenko Puterweck, herausgegeben von einem nicht minder ominösen Evo Präkogler, beides literarische Mystifikationen Oswald Wieners, was im Buch aber an keiner Stelle irgendwie angedeutet oder aufgelöst würde (einzig abgesehen von der Anspielung auf das "Wortgenie der Grazer Gruppe"). Der Zeit-Journalist Günter Nenning enthüllte die wahre Autorschaft jedoch in einem Zeitungsartikel und machte dem Versteckspiel vorzeitig ein Ende. Wiener plante eigentlich das Verwirrspiel mit einer Rezension des eigenen Buchs selbst zu lüften.

Der 'Roman', wenn man so sagen will, präsentiert sich zunächst als klassische Herausgeberfiktion, wie bereits der Untertitel mitteilt: "Eine auf einer Floppy gefundene Datei". Auf dieses etwas ausgereizte Genre eines Textes, der sich als manuscrit trouvé ausgibt, reagiert selbstironisch der Titel Nicht schon wieder! Allerdings lässt er sich auf die am Ende aufgeworfene Frage beziehen, ob sich dasselbe Programm stets von Neuem abspielt. Doch der Reihe nach, das heisst: von vorne. Zdenko Puterweck, eine renommierter Wiener Literat und Intellektueller, kommt an einem 26. Oktober wieder im Spital zu sich, nachdem er vier Tage zuvor bereits für tot erklärt wurde. Seine Zeit während der Reha vertreibt er sich mit Tagebuch-Aufzeichnungen, da sein Gedächtnis durch die Nahtoderfahrung den stark gelitten hat. Er bezeichnet sich als "Emmentalerhirn" und "Kopfkrüppel". Deshalb versucht er peinlichst alles zu notieren, damit er sich, wenn schon nicht daran erinnern, es doch extern festhalten kann: "Ich erinnere nur das einmal Geschrieben. Je geschriebener desto besser."

Allmählich dämmert es ihm, dass er in einen Politskandal verstrickt war, nachdem er regelmässig Besuch des Magistraten Prokil bekommt, der ihn nach dem Verbleib von "Altmaterial" befragt. Offenbar wurde von der Regierung radioaktives Material heimlich entsorgt und nur Puterweck kennt den Ort, weshalb nun alle Hoffnung darin liegt, dass sich sein Gedächtnis so rasch wie möglich erholt, zumindest was diese brisante Information betrifft. Doch Puterweck kommt nicht richtig auf die Sprünge. Er ist zu sehr damit beschäftig, sich über seine Situation Klarheit zu verschaffen. Dabei entwickelt er eine komplexe mathematisch-informationswissenschaftliche Theorie vom Unbewussten als "Komplikator" - ein Neologismus, das den Begriff des Computers mit dem französischen Wort für Falte (pli) verschränkt. Das Bewusstsein  als komplexe Denkprozesse der Datenfaltungen. Hier deutet sich bereits an, worauf der Roman am Ende hinsteuert: Zdenko Puterweck - in dessen Name nicht zufällig auch ein Computer steckt - gelangt zur Überzeugung, dass er nicht mehr real existiere, sondern lediglich als Programm, das nach seinem Tod aufgesetzt wurde, um sein Gedächtnis zu hacken.

Wiener gelingt damit eine interessante Mischung zwischen Politthriller und Experimentalroman, der streckenweise erstaunlich spannend liest, auch wenn die Durchschnittsleserin den theoretischen Exkursen nicht in allen Details folgen kann. So viel wird aber deutlich: Es geht um die Frage nach künstlicher Intelligenz resp. nach dem Unterschied zwischen Mensch und Maschine. Puterweck durchlebt im Spital sein cartesianisches Moment mit der Frage, ob er ein selbstdenkendes Wesen sei oder ihm alle Gedanken und Wahrnehmung nur durch ein Programm eingegeben werden. Und mehr noch: Was passiert, wenn das Puterweck realisiert, dass er ein Programm ist? Wäre dann die Schwelle erreicht, an der sich sagen liesse, Computer können ein (Selbst-)Bewusstsein entwickeln, also dass er, wie der Name Zdenko suggeriert, tatsächlich denkt? Am Punkt der Selbsterkenntnis bricht der Text jedoch ab. Ob das Programm kollabiert ist oder ob ihm der Stecker gezogen wurde, weil es nicht den erhofften Aufschluss über das "Altmaterial" brachte, bleibt dahingestellt.

Als Leserin verfolgt man quasi diesen maschinellen Evolutionsprozess hin zur künstlichen Intelligenz. Einer der letzten Sätze lautet: "D. ganze Scheisse ist nichts als d. Evolution." Puterweck erhebt an einer Stelle im Text verschieden evolutionäre Hypothesen, eine davon lautet, das Bewusstsein sei bloss "eine Zwischenphase", die in einer komplexere Stufe münde, die rein "algorithmisch" funktioniere: "Mein Pech, unser Pech dass wir die Automaten aus der Zwischenphase sind." Auf diesen Themenkomplex deutet schon der Name des fingierten Herausgebers mit der merkwürdig maskulinen Variante von Eva (Evo) hin, der ursprünglich sogar noch deutlicher Evo Lutz Präkogler lauten sollte. Biblische Ursprungsgeschichte (Eva), biologische Theorie (Evolution) und Futurismus (Präkognition) klingen hier hörbar zusammen an. Wer zudem die "Precogs" aus Philip K. Dicks Minory Report heraushört, liegt ebenfalls nicht falsch, zumal der Autor von Puterweck mehrfach in seiner Datei erwähnt und zitiert wird, insbesondere seine Biographie Only Apparantly Real, deren Titel gleichsam symbolische Bedeutung zukommt.

Sonntag, 23. Februar 2025

William Gibson / Bruce Sterling: Die Differenz Maschine (1990)

Nachdem das Lesefrüchtchen von Frankissstein eher enttäuscht war, griff es zu einem vermeintlich sicheren Wert aus der Cyberpunk-Schule, der eine ähnliche Thematik behandelt, wie der Titel Die Differenz Maschine suggeriert. Er spielt auf Charles Babbages Erfindung an, die als theoretische Vorwegnahme des Computers gilt. Doch trotz des instruktiven Nachworts von Michael Nagula über diese Maschine im Anhang spielte sie, wie sich bei der Lektüre herausstellen soll, praktisch keine Rolle. Stattdessen geht es vordergründig um den durch die Erfindung ausgelösten Gesellschaftskampf zwischen Vertretern der Radikalen Partei, bestehend aus Regierungsmitgliedern, Industriellen, Wissenschaftlern und dem Geheimdienst, und den historischen verbürgten Ludditen, der nach ihrem Anführer Ned Ludd benannten maschinenstürmenden Arbeiterschicht.

Der Roman spielt zu Zeiten der industriellen Revolution, nur dass neben den Jaccard-Webstühlen auch Babbages Differenzmaschine tatsächlich in Betrieb und dadurch das elektronische Zeitalter bereits angebrochen ist. Es gibt Automobile und Kinotrope, Telefax und Maschinengewehre und es werden auf Lochkarten Informationen gespeichert und ausgetauscht. Im Zentrum der Handlung steht ein ominöses Kästchen mit solchen Lochkarten, dem alle hinterherjagen. Es enthält den sogenannten "Modus", ein von Ada Lovelace entwickeltes Programm, angeblich zur Vorhersage von Wett-Ergebnissen. Doch wie sich am Ende herausstellt, legt dieser Modus quasi die erste Grundlage für künstliche Intelligenz. Ganz am Schluss erwacht das Computerbewusstsein und entpuppt sich als "alles sehende Auge" der Geschichte. Eine von vielen abrupten Wendungen, welche die Lektüre zuweilen mühsam machen.

"Das lang erwartete Gemeinschaftswerk der beiden Spitzenautoren des Cyberpunk." So wird das Buch auf dem Umschlag angepriesen. Doch wie bei Neal Stephensons Cryptonomicon handelt es sich eher um eine zähe Lektüre. Richtig rasant und packend wie in Gibsons Klassiker Necromancer wird es selten. Stattdessen verliert sich der Roman in epischer Breite. Das Prinzip einer alternativen (bzw. futuristischen) Vergangenheit funktioniert für das Cyberpunkt-Genre nur bedingt, die Geschichte wird dadurch nicht zwingend spannender, sondern bleibt ähnlich anstrengend wie bei den meisten Historienromanen. Zudem besitzt das Buch zwei Probleme, die den Lesegenuss mindern: Zum einen weckt der Titel eine falsche Erwartungshaltung, die sich nicht erfüllt, so dass sich zunehmende Enttäuschung einstellt. Zum anderen ist die Handlung teilweise so diffus und bleibt bis zum Ende rätselhaft, dass man rasch den Faden und das Interesse verliert.

Seinen Reiz gewinnt der - angeblich aus zahlreichen literarischen Versatzstücken des 19. Jahrhunderts zusammenmontierte - Roman vornehmlich durch die Verfremdung der Vergangenheit, es treten etliche realhistorische Figuren und Ereignisse in allerdings veränderten Konstellation auf, sowie durch das retro-futuristische Kolorit. Wie hier das viktorianische London als gigantischer Moloch aus Regen, Nebel, Smog und üblen Dämpfen geschildert wird (die Geschichte spielt mehrheitlich in der Epoche des "grossen Gestanks"), erinnert atmosphärisch an den Film Blade Runner. Bevorzugt werden auch zwielichtige Orte wie Bordelle, Wettbüros, Hafendocks und schäbige Hotelzimmer zum Schauplatz gewählt und verleihen dem Buch damit jenen Charakter, den es zum Prototypen des Steampunk macht. Im Grund genommen beschreibt der Roman somit eine rückwärtsgewandte Dystopie, die selbstredend als Kritik an der (damaligen) Gegenwart zu lesen ist.

So könnte man dem Roman zugute halten, dass er eine grosse Allegorie der technischen Evolution darstellt. Nicht zufällig ist einer der Hauptprotagonisten, Dr. Edward Mallory, ein Paläontologe, der das erste Dinosaurier-Skelett, den sogenannten "Land-Leviathan", entdeckt hat. So zieht sich eine evolutionäre Linie von der Frühzeit der Welt bis in die technische Zukunft durch den Roman und nimmt damit eine These von der kybernetischen Koevolution von Mensch und Maschine des amerikanischen Historikers Bruce Mazlish literarisch vorweg, die dieser nur wenige Jahre später in seiner Studie The Fourth Discontinuity (1993) vorbringen wird. An einer Stelle ereilt Mallory schlagartig die Erkenntnis, dass der Mensch weder die Krone der Schöpfung noch die einzige Spezies im Weltall ist. Im Bericht einer paläontologischen Expedition entdeckt er Bilder von monströsen, ausserirdischen Wesen, wie sie einer Horrorgeschichte von Lovecraft entsprungen sein könnten und keiner bekannten Kreatur der Erdgeschichte gleichen. Hier gelangt nicht nur die Erzählung an eine unerwartete Wende, es bricht auch das Irreale förmlich in den Text ein.