Donnerstag, 3. Juli 2025

Oswald Egger: Prosa, Proserpina, Prosa (2004)

Oswald Egger macht es sich und den Lesenden nicht einfach. Er setzt die Sprache nicht nur als gestalterisches Mittel ein, er gestaltet sie vielmehr nach eigenen Gesetzmässigkeiten um. Das führt zu hochkomplexen, mit Fremd-, Fach- und Fantasieworten durchsetzten Sätzen wie diesen: "Talg-Algen wie Smaragdgras-Agavan stäuben silbrig Quirlwirrtel-Milch über Risp-Feldritzen Dornginsterhecken, und Teer-Regenberge Horngnissen ..." Es stellt sich sofort ein Pastior-Effekt ein: Man meint etwas zu verstehen, doch letztlich entzieht sich alles einem verstehbaren Sinn, wird zur reinen Lautpoesie, im Extremfall etwa: "Unvirgeln sirrende Quisseln in Syzygie szintillierend, 'zzyzx'-Elritzen". Im Unterschied zu Oskar Pastior, wo häufig eine Methode oder eine Versuchsanordnung das Spiel mit der Sprache bestimmt, scheint sich Egger viel stärker noch am Sprachklang zu orientieren und von ihm leiten zu lassen. So kommen seine Sätze durch tonale Assonanzen und Lautähnlichkeiten zustande. So sind Quissel (frömmelnde Person), Syzygie (Stellung von Sonne, Mond und Erde in einer Linie), szintillieren (funkeln, flimmern) und Elritze (kleiner Karpfenfisch) tatsächlich existierende Wörter, sie stehen bei Egger aber weniger in einem Sinn- als in einem Klangzusammenhang, verbunden durch den Vokal, der auch in "sirren" erklingt und genau das besagt: einen feinen, hell klingenden Ton erzeugen. Dass unter "Syzygie" in der antiken Metrik ausserdem die Verbindung von zwei Versfüssen verstanden wurde, ist eine zusätzliche Pointe, die den Satz von einer möglichen Weltreferenz endgültig ins rein Sprachliche wendet.

So baut sich Egger aus dem Fremdwörterbuch deutscher Sprache ein ganz eigenes Sprachuniversum. Im Fall von Prosa, Proserpina, Prosa hat er sich bevorzugt bei botanischem Vokabular bedient, was sein Text zu einem entfernten experimentellen Verwandten von Vergils Georgica macht, dem grossen Poem über den Ackerbau. Nicht zufällig figuriert im Titel von Eggers Werk die mythologische Gestalt der Proserpina, der Tochter von Ceres, der römischen Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit. Ihr Name leitet sich ab vom lateinischen Verb 'proserpere', was 'hervorkriechen' bedeutet und von den Römern mit dem aus der Erde keimendem Getreide assoziiert wurde. Auch die im Titel ebenfalls stehende 'Prosa' lässt sich etymologisch auf den Ackerbau zurückführen. Mit Agamben lässt sich die Prosa als fortlaufende Kehre (lat. versus), also als Verlängerungen des lyrischen Verses begreifen, als pro-versus (oder kurz: Prosa). Der lateinische Begriff versus meint auch die Ackerfurche, die der Bauer zieht - und zwar mit seinem Werkzeug, dem Pflug oder der Egge, die prominent auch im Namen des Autors steckt: Egger. Nomen est omen, weshalb der Egger zwangsläufig Prosaist, d.h. Furchenzieher und Ackerbauer sein muss. Was uns der Autor folglich ausbreitet (oder was er vielmehr einfährt) ist eine reiche Ernte, eine Sprachernte. Sein Text ist nicht anderes als ein Füllhorn, eine Cornucopia, ein mit Blumen und Früchten im Überfluss gefüllter Trichter, der symbolisch für Freigiebigkeit, Reichtum und Üppigkeit steht. Sein poetisches Prinzip ist demnach die Luxuria, ein verschwenderischer Luxus, ausgebreitet in Sprachgirlanden und Wortfeldern, der so reichhaltig ist, dass er in dieser Überfülle kaum rezipierbar ist.

Es ist schon ziemlich beeindruckend, was Egger alles mit der Sprache anzustellen versteht. Aber irgendwie auch hochgradig manieriert und gekünstelt. Bei aller Bewunderung legt man das Buch wohl früher als später aus der Hand und denkt sich: Was soll's? Man könnte jeden Fachausdruck im Wörterbuch nachschlagen und hätte doch nichts verstanden, denn es gilt die Devise: "Sinnen der Ingestion ('das weiss ich nicht'), Balloten, siebend Unsinne." Im Unterschied zu anderen Unsinnspoesien fehlt es Eggers Unternehmen jedoch entschieden an Witz. Alles kommt gravitätisch, bedeutungsschwanger und furchtbar eitel daher. Als wolle der Text nichts anderes, als permanent seine literarische Distinguiertheit ausstellen. Vieles gerinnt deshalb zur poetischen Pose, zum Gehabe. Der einzige leicht verständliche Satz im ganzen Buch lautet: "Wir wollen uns betrinken, wie die Tollen, und nachts nicht schlafen." Na also, das wäre allemal eine Alternative.

Sonntag, 29. Juni 2025

Stanislaw Lem: Also sprach Golem (1981)

Das Lesefrüchtchen bleibt beim Golem hängen. Diesmal handelt es sich aber um keine künstliche Kreatur, sondern um eine künstliche Intelligenz. Die Handlung spielt deshalb auch nicht im Prag des 16. Jahrhunderts, sondern im Zeitalter der "Intellektronik" in den 2025er Jahren, bei Erscheinen des Buchs somit noch in ferner(er) Zukunft. Der Text präsentiert sich als klassische Herausgeberfiktion und war ursprünglich Teil von Lems Sammlung von Vorworten zu nichtexistierenden Büchern, die unter dem Titel Die imaginäre Grösse (1973) erschienen sind. Es handelt sich um zwei Vorlesungen des denkenden Super-Computers GOLEM XIV (so lautet auch der polnische Originaltitel), flankiert von einem Vorwort des MIT-Technikers Irving T. Creve und dem Nachwort seines Kollegen Richard Popp. (Beide auf der Webseite des Suhrkamp Verlages lustiger Weise als reale Verfasser gelistet ...)

Golem (bzw. genauer: Golem-Alpha) hiess hingegen tatsächlich ein Grossrechner, der im Juni 1965 am israelischen Weizmann-Institut in Betrieb gesetzt wurde. Die Eröffnungsrede hielt der jüdische Gelehrte Gershom Scholem, der sich wissenschaftlich mit der Golem-Legende der Kabbala gut auskannte. Lem, der sich für die neusten technischen Entwicklungen interessierte, dürfte dieses Ereignis nicht entgangen sein und ihn für den Namen seiner Denkmaschine inspiriert haben. Dass in der Bezeichnung GoLEM freilich auch Lems eigener Name steckt, dürfte die Wahl weiter begünstigt haben. Bezeichnete der Autor das Buch, das zu seinem Spätwerk zählt, doch einst als "Summe seines Denkens" (Lem über Lem, 116). Der Titel der deutschen Übersetzung ist vernehmbar an Friedrich Nietzsches philosophische Dichtung Also sprach Zarathustra an. Eine Allusion, die insofern zutreffend ist, als auch GOLEM als eine Art Übermensch auftritt und die Menschheit wie ein Prediger belehrt. (An einer Stelle erfolgt ein expliziter Verweis auf Paulus und den Brief an die Korinther, 89 f.)

Inhaltlich präsentiert sich der Band als intellektuelle Hinterlassenschaft Golems, nachdem er - so wird jedenfalls in der Presse spekuliert - "Selbstmord begangen" (162) habe, indem er seine eigen Existenz auslöschte. Es sind zwei Niederschriften seiner Vorträge, die er an die Menschheit hielt, um sie über ihre eigene Natur, aber auch über sich selbst als künstliche Intelligenz bzw. als reine "Vernunft" (85) aufzuklären. Hierin liegt denn auch die Verständnisschwierigkeit seiner Vorträge, wie der fiktionale Herausgeber Creve zu Beginn erläutert. Denn man hat es zwar "mein einem vernünftigen, aber nicht menschlichen Wesen" (22) zu tun, weshalb seine Aussagen oft "arrogant und apodiktisch" (24) anmuten, obschon Golem sich darum bemüht, seine Diktion dem menschlichen Auffassungsvermögen anzupassen und weniger qua "Abstraktion" als "mit Gleichnissen und Bildern" (32) zu sprechen. Doch lässt sich damit nicht verhindern, dass Golem aufgrund seiner rein rationalen Veranlagung ein "rücksichtsloser Wahrheitsfanatiker" (24) ist und die Menschen mit seinen Aussagen brüskiert.

Die erste Rede entpuppt sich denn auch als veritables "Pasquill auf die Evolution" (174). Zumindest vertritt Golem eine kühne These, derzufolge der Mensch keineswegs die Krone der Schöpfung darstellt, sondern bloss evolutionär bedingtes Trägermaterial für den genetischen Code, der die eigentliche Hauptsache darstellt, der Mensch hingegen ein Zufallsprodukt in diesem Prozess. Mehr noch: ein Unfall, ein Fehler, ein Irrtum.

Stanislaw Lem: Also sprach GOLEM. Aus dem Polnischen von Friedrich Griese. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986 (Phantastische Bibliothek, Bd. 175)

Mittwoch, 25. Juni 2025

Gustav Meyrink: Der Golem (1915)

Der Golem ist eine alte jüdische Sagengestalt. Vom legendären Rabbi Löw aus dem 16. Jahrhundert wird berichtet, er habe aus Lehm einen künstlichen Menschen geschaffen, der zum Leben erwacht und zu ungeheurer Grösse emporgewachsen sei, wenn ihm der Name Gottes auf einem Papierstreifen in den Mund gesteckt wurde. Sobald man den Zettel wieder entfernte, sackte der Golem zur starren, leblosen Figur zusammen. In einer anderen Variante der Geschichte erweckt das Wort Emeth (hebr. Gott, Wahrheit) auf der Stirn den Golem zum Leben. Er stirbt wieder, wenn die Vorsilbe An- gelöscht wird und nur das hebräische Wort für Tod (Meth) übrig bleibt. Der Mythos berichtet ferner davon, wie der riesenhafte Golem ausser Kontrolle geriet, Amok lief und es Rabbi Löw nur durch eine List gelang, die Vorsilbe wegzuwischen bzw. den Zettel wieder aus dem Mund zu entfernen. Gemäss einer Überlieferung, die Jacob Grimm im deutschsprachigen Raum verbreitete, soll der Rabbi von den Trümmern des zusammenfallenden Lehmklotzes erschlagen worden sein.

Nicht zuletzt durch die Vermittlung von Jacob Grimm, aber auch Clemens Brentano erlebte das Golem-Motiv in der Romantik verschiedentlich seine literarische Ausgestaltung. Zu grosser Bekanntheit gelangte es jedoch ein knappes Jahrhundert später durch den gleichnamigen Roman von Gustav Meyrink, obschon sich dieser bereits sehr weit von der ursprünglichen Legende entfernte. Diese bestimmt nur hintergründig das Geschehen, das ins Prager Getto der 1880er Jahre verlegt und mehr noch in ein psychologisches Kammerspiel überführt ist. Der Golem fungiert hier als Chiffre für die innere Selbstbegegnung und tritt als unheimlicher Doppelgänger des Erzählers auf. Daran lässt sich noch die schauerromantische Herkunft des Romans erkennen, der ansonsten aber vornehmlich expressionistische Stilmittel einsetzt, um eine beklemmende Atmosphäre zu erzeugen, unklar changierend zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen realen Vorgängen und Phantasmagorien. So recht weiss man nie, woran man ist, da sich die Ereignisse und Personen auf verschiedenen Ebenen zu verdoppeln und zu spiegeln scheinen.

"Wer ist jetzt 'ich'" (9) - so lautet die zentrale Frage, die gleich zu Beginn gestellt wird, als der Erzähler im Schlaf eine Stimme vernimmt, die penetrant einen Stein erwähnt, der wie ein Stück Fett aussieht. Erst ganz am Ende des Romans, der nichts anderes als ein langer, sich über mehrere Jahre erstreckender Traum des erzählenden Ichs ist (obwohl in Realität kaum eine Stunde vergeht!), lüftet sich das Rätsel. Im Schlaf versetzt sich der namenlose Erzähler in die Person (und das Schicksal) von Athanasius Pernath, dessen Hut er aus Versehen mitnahm und sich später wundert, "dass er mir so genau passe, wo ich doch eine höchst eigentümliche Kopfform habe" (19). Hiermit wird bereits suggeriert, dass zwischen dem Erzähler und Pernath mehr als eine zufällige Verbindung besteht, dass mindestens eine geistige (Kopfform) Verwandtschaft vorliegt oder gar, dass der Hut dem Ich eine fremde Identität überstülpt. Der Text selbst verwendet an zwei Stellen die Metapher des Pfropfens: Pernath gelangt zum Schluss, es "müssten in uns zwei Leben aufeinandergepfropft werden" (279) und selbst fühlt er sich wie "eine verschnittene Pflanze", wie "ein Reis, das aus einer fremden Wurzel sprosst" (62).

Athanasius Pernath lebte vor der Assanierung im Jahr 1893 als Gemmenschneider in der Prager Judenstadt, in direkter Nachbarschaft zum linkischen Trödler Aaron Wassertrum und seines Antipoden, dem kabbalistisch geschulten Archivar Schemajah Hillel. Mit jüdischer Mystik hängt vieles im Roman zusammen. Es beginnt damit, dass von dort, "wo der Archivar Schemajah Hillel seine Wohnung hat", ein unbekannter Kunde in Pernaths Atelier tritt, an den er sich später nur vage erinnern kann, und ihm das Buch "Ibbur" übergibt zwecks Restaurierung einer Zierinitiale. In der Kabbala bedeutet "Ibbur" so viel wie "Seelenschwängerung" oder "Seelenwanderung". Tatsächlich spürt Pernath ab diesem Moment eine Art von Besessenheit, die sich darin artikuliert, als hätten "gespenstische Finger"  in seinem "Gehirn geblättert" (25). Der unbekannte Fremde scheint von ihm Besitz zu ergreifen. Pernaths Gesichtszüge verändern sich und nehmen ein mongolisches Aussehen an; und wie ferngesteuert tappt er mit einem schwerfälligen Gang durchs Zimmer. Später erfährt er von seinem Freund Zwakh, dass diese zwei Merkmale eine Ähnlichkeiten mit dem Golem aufweisen, der der Legende nach in einem "Zimmer ohne Zugang" in der Altschulgasse hause.

Ferner erfährt Pernath von seinen Freunden, dass er früher offenbar aus Liebeskummer verrückt geworden und mittels Hypnose von seinen schmerzhaften Vergangenheit befreit worden sei, indem seine Erinnerungen im Gedächtnis zwar nicht gänzlich gelöscht, doch weggesperrt wurden, so dass er keinen Zugriff mehr darauf hat. Für diesen Zustand der Amnesie steht sinnbildlich das verschlossene Zimmer vom Golem und dieser selbst als Chiffre für die verdrängten Gespenster aus der Vergangenheit. In der Figur des Golems nimmt die Psychose eine ausgelagerte Gestalt an. Mehr noch stilisiert der Erzähler den Golem zum "Symbol für die Massenseele" (55) aller Getto-Bewohner, in dem sich die verdrängten Schrecken, Sorgen und Nöte manifestieren. Pernath gelangt dann, ob bloss in der Einbildung oder in einer Art magischer Wirklichkeit bleibt offen, in das vergitterte Zimmer ohne Zugang und begegnet dort sich selbst, seinem verdrängten Ich in Form einer Pagat-Karte aus dem Tarockspiel: "So starrten wir uns in die Augen - einer das grässliche Spiegelbild des anderen" (119). Als Pernath in der Morgendämmerung nach Hause geht, trägt er eine alte Kutte, die er im Zimmer vorgefunden hat, und wird von den entsetzten Passanten für den Golem aus der alten Sage gehalten.

Mit dem symbolischen Erwachen des Golems holt Pernath auch die Vergangenheit ein, in Gestalt einer zunächst unbekannten Dame, die aus einer unglücklichen Beziehung bei ihm Zuflucht sucht. Wie sich herausstellt, handelt es sich um Angelina, eine unerfüllte Jugendliebe Pernaths, die ihm einst "ein Herz aus rotem Stein" (103) schenkte. Doch es gibt noch zwei weitere Frauen in Pernaths Leben: Da ist zum einem die Tochter Miriam des Kabbalisten Hillel, zu der er eine mystische Verbindung spürt, sowie die leichtlebige Tochter Rosina des Tödlers Wassertrum, der eine dubiose Figur darstellt. Schliesslich ist er es, der Pernath eine Uhr unterjubelt, auf der der Name Zottmann eingraviert ist und die Pernath später zum Verhängnis wird, als er, sich keiner Schuld bewusst, des Mordes an eben diesem Zottmann angeklagt wird. Ein letzter, längerer Teil spielt in der Gefängniszelle, als Gegenbild zum Golemraum ohne Zugang ein Raum ohne Ausgang. Dort begegnet er dem Lustmörder Laponder, der ebenfalls eine mystische Selbsterfahrung hinter sich hat und zu einer Art Prophet geläutert ist. Eine der stärksten Figuren des Romans. In seiner Verkörperung des 'heiligen' Verbrechers eine Präfiguration des Frauenmörders Moosbrugger bei Robert Musil. Er erteilt Pernath den weisen Rat: "Sie müssen es teilweise symbolisch auffassen, was sie erlebt haben." (275)

Ein Rat, den sich auch die Leser beherzigen sollen ... Am Ende erwacht der Ich-Erzähler aus dem Traum und begibt sich in die neue Judenstadt auf die Suche nach Pernath, dessen Hut er noch immer in den Händen hält: "Alles, was dieser Athanasius Pernath erlebt hat, habe ich im Traum miterlebt, in einer Nacht mitgesehen, mitgehört, mitgefühlt, als wäre ich er gewesen." (302) Auch als er sich in die Alchemisten- resp. Altschulgasse begibt, wo früher das Haus des Golems stand, wird ihm die "traumhafte Erkenntnis" zuteil, "als lebe ich zuweilen an mehreren Orten zugleich" (310). Nur durch hartnäckige Erkundigungen gelingt es ihm schliesslich, nähere Hinweise über Pernaths Verbleib zu erhalten, und er wird von einem Fährmann zu einer Stelle gebracht, die er bereits aus seinem Haus kennt. Er steigt zu einer Art Schloss empor, dessen Flügeltor ein Hermaphrodit ziert, den er bereits in seiner Vision aus dem Buch Ibbur kennt. Es ist der Wohnort von Pernath und Miriam. So endet der Roman nach vielen Abspaltungen und Verdoppelungen in einer Art Apotheose im Zeichen der Vereinigung (Hermaphrodit), das ein hoffnungsvoll zukunftsgerichtetes Gegengewicht zur negativ besetzten Vergangenheit markiert, für die die Figur des Golem stand. 

Meyrink kannte Prag aus seiner Schul- und Lehrlingszeit in den Jahren, in denen die Romanhandlung hauptsächlich spielt. Und er versteht es, seine Eindrücke in bedrohliche, düstere Bilder zu tauchen, die man später auch aus Kafkas Schloss-Roman kennt, mit dem Unterschied, dass sie bei Meyrink ins phantastische gesteigert sind. Die Stadt und ihre Häuser scheinen ein geheimes Eigenleben zu entwickeln, als der Erzähler an einer Stelle ihr "spukhafte[s] Treiben" (31) bemerkt. Doch nicht allein die atmosphärische Dichte trägt zur spannungsgeladenen Rätselhaftigkeit der Romanvorgänge bei, es liegt mitunter auch daran, dass einiges tatsächlich diffus, undurchdringlich und im kryptischer Symbolik verhangen bleibt. Das mag bis zu einem gewissen Grad auch der Textentstehung geschuldet sein, zumal der Roman in seiner Urfassung über 5000 Seiten und 120 Dramatis Personae umfasst haben soll, die Meyrink dann mit Hilfe des befreundeten Mathematikers Felix Noeggerath drastisch eingekürzt hat. Da blieb wohl das eine oder andere lose Ende liegen, verschaffte dem Roman aber seine modern anmutende Unbestimmtheit und Deutungsoffenheit. Man denke sich nur: Der Golem als nahtlos erzählte Gothic Novel! Das wäre ein unerträglicher Schwarten geworden. 

Gustav Meyrink: Der Golem. München, Wien: Langen Müller 1982.

Sonntag, 15. Juni 2025

Philip K. Dick: We can build you (1972)

Okay, das ist wahrscheinlich nicht die beste Geschichte von Philip K. Dick. An seine Klassiker wie Do Androids Dream of Electric Sheep (1968), Ubik (1969) oder die Erzählung Minority Report (1956) reicht sie jedenfalls nicht heran. Obwohl erst 1972 erschienen, entstand der Roman ein ganzes Jahrzehnt früher im Jahr 1962, blieb aber unpubliziert liegen, bis er in den Ausgaben vom November 1969 und Januar 1970 von Amazing Stories unter dem Titel A. Linclon, Simulacrum veröffentlicht werden konnte und dann zwei Jahre später unter neuem Titel We can build you in Buchform nochmals auf den Markt kam. Auch die deutschen Übersetzungen weisen unterschiedliche Titel auf: Relativ zeitnah erschien der Roman 1977 als Die rebellischen Roboter in der SF-Reihe bei Goldmann, 2007 eine Neuübersetzung unter Die Lincoln-Maschine bei Heyne. Keiner wird der Erzählung richtig gerecht - und da liegt vielleicht auch das Problem: Geweckt wird eine falsche Erwartungshaltung.

Insbesondere der Paratext der deutschen Erstübersetzung Die rebellischen Roboter suggeriert, dass der Roman von künstlich programmierten Nachbildungen historischer Persönlichkeiten handle, die ausser Kontrolle geraten. Das stimmt erstens nicht ganz und führt ausserdem am Kern der Erzählung vorbei. Wenn in diesem Roman jemand out of control gerät, dann sind es die Menschen und nicht die Roboter, die sich keineswegs rebellisch verhalten, sondern sich erstaunlich hilfsbereit und konziliant in die neue Sozietät einfinden. Aber auch das steht nicht wirklich im Zentrum des leicht in die Zukunft versetzten Romans (die Handlung spielt sich 1982 ab). Dreh- und Angelpunkt der gesamten Geschichte, die etwas unentschlossen zwischen Psychodrama und SF-Utopie changiert, ist das gestörte Verhältnis des erzählenden Ich, Louis Rosen, zur hochattraktiven, aber leider auch schizophrenen Tochter Pris seines Geschäftspartners Maury Rock, die eine Idee entwickelt, wie sie den stagnierenden Betrieb der beiden wieder ankurbeln will.

Aus der Klinik entlassen, konstruiert Pris mithilfe eines NASA-Technikers sogenannte Simulacra: Das sind Replikate des ehemaligen Präsidenten Abraham Lincoln und seines Kriegsministers Edwin Stanton, um - so die Idee - den "Bürgerkrieg noch einmal mit Robotern" zu führen (30). Was wie der Ausgangspunkt einer Satire mit historischen Klons klingt, führt in eine gänzlich andere Richtung, was aber einige Verleger partout nicht einsehen wollten und deshalb irreführende Signale setzen. Am Absurdesten ist wohl das Konterfei von Hitler auf dem Cover der Ausgabe bei Seven House von 1988, das mit dem Inhalt nicht das Geringste zu tun hat, denn an keiner Stelle kommt jemand nur auf die Idee, Hitler zu replizieren. Das wäre eine gänzliche andere Geschichte geworden. Die Simulacren spielen eher Nebenrollen, auch wenn sie sich mitunter aktiv in das Geschehen einmischen, das sich jedoch vornehmlich um die Psychose des Ich-Erzählers dreht, der in Pris verliebt ist, obwohl sie sich so kühl, distanziert und abweisend wie ein Automat verhält.

Damit kann sich Louis abfinden, zumal er die fehlende Empathie ihrer schizophrenen Erkrankung in die Schuhe schiebt. Die Dinge laufen jedoch aus dem Ruder, als Pris ihre Erfindung an den von ihr vergötterten Top-Investor Sam Barrows verkaufen will. Dieser beabsichtigt die Simulacren für seine Mondkolonisierung einzusetzen und zeigt sich daher nicht nur am Angebot, sondern auch an Pris selbst interessiert, die er zur Geliebten nimmt. In Rage vor Eifersucht fliegt Louis nach Seattle mit dem festen Vorsatz, Barrows umzulegen. Er steigert sich sukzessive in eine "katatonische Erregung" (143), ohne sein Ziel zu erreichen, weshalb er das Lincoln-Simulacrum als Berater einfliegen lässt, zu dem er aufgrund seiner psychischen Labilität eine besondere (menschliche) Nähe empfindet: "Lincoln war genau wie ich. Ich hätte dort in der Bücherei meine eigene Biographie lesen können; psychologisch waren wir uns so ähnlich wie Zwillinge, und wenn ich ihn begriff, verstand ich mich selbst." (116)

Doch Barrows hat einen Trumpf im Ärmel: Er hat unterdessen ein Simulacrum des amerikanischen Schauspielers und Lincoln-Attentäters John Wilkes Booth erstellt. Mit ihm tritt er als Drohmittel an den Verhandlungstisch. Die Auseinandersetzung erreicht ihren Gipfelpunkt, als Pris mit ihrem High-Heel das Booth-Simulacrum durch eine gezielten Schlag durch die Schädeldecke in aller Öffentlichkeit zerstört, so dass es rundum als Roboter erkennbar wird. Nach dieser Maschinenstürmerei spielen die Simulacren keine Rolle mehr. Der letzte Teil des Romans schildert, wie Louis Rosen selbst in eine handfeste Psychose schlittert, indem er eine Vereinigung mit Pris halluziniert, und schliesslich von seiner Familie in dieselbe psychiatrische Anstalt eingeliefert wird, in der auch Pris (wieder) interniert ist. Die Erzählung lässt es offen, ob Rosen sich alles nur einbildet oder ob er seine Geisteskrankheit lediglich vortäuscht, um seiner Liebe nahe zu sein. Jedenfalls wird er mit der Vermutung des Arztes entlassen, er sei bloss ein Simulant.

Simulant, Simulation, Simulacrum - die Wortverwandtschaft zeigt es bereits an, dass Dick in diesem Roman auf einer doppelten Klaviatur spielt und das Science-Fiction-Versatzstück des Roboters vornehmlich als existentielle Metapher einsetzt, an die sich philosophische Fragen knüpfen: Was macht den Menschen aus? Wie unterscheidet er sich von Maschinen? Wie menschlich können wiederum Maschinen sein? Das sind allesamt Fragen, die im Roman en passant aufgeworfen und dabei Blaise Pascal (Der Mensch ist "ein denkendes Rohr", 15) und Shakespeare (Der Mensch ist "ein gespaltener Rettich", 73) anzitiert werden. Besonders witzig ist die Szene, als das Lincoln-Simulacrum Barrows davon überzeugen will, dass auch der Mensch nicht anderes als eine Maschine sei und dabei auf Spinoza bezieht, der im Anschluss an Descartes diese Problematik aufgeworfen hat (74). In diesem Zusammenhang wird auch das Leib-Seele-Problem virulent: Besitzen Maschinen "keine Seele" (74) oder handelt es sich vielmehr um reine, körperlose Seelen (83), die sich in wechselnde Organismen einprogrammieren lassen. Schliesslich kommt auch das das Verhältnis zwischen Schöpfer und seinem Geschöpf zur Sprache, wobei diese vom Frankenstein-Stoff (68) auf die Sklaverei (73) und moderne Arbeitsverhältnisse übertragen wird. Haben Maschinen dieselben Rechte wie Menschen? 

Das Simulacrum gerät unter diesem Fragehorizont - ganz im Sinne von, doch deutlich vor Baudrillards Theorie - zur Chiffre für die conditio humana im postmodernen Zeitalter, das Dick zugleich als stark psychotisches beschreibt. Der Roman spielt in einer Welt, wo der Staat praktisch die gesamte Gesellschaft pathologisiert. Es gibt eine eigene Behörde für Geistige Gesundheit, die durch läppische Testverfahren psychische Dysfunktionen eruiert, und ein McHeston-Gesetz, das Zwangseinweisungen legitimiert. Der Schizophrene mit seinen Wahnvorstellungen ist letztlich auch permanent mit Simulacra (wörtlich: Trugbildern) konfrontiert und verhält sich ähnlich mechanisch wie eine Maschine. In dieser Parallelisierung zwischen künstlicher und pathologischer Existenzweise liegt die Pointe des Romans sowie des doppelsinnigen Originaltitels We can build you, der sich sowohl auf die Roboterkonstruktion als auch auf die Therapiesituation beziehen kann. Ähnlich wie die Simulacren werden auch die Patienten in den psychiatrischen Kliniken auf soziale Funktionsfähigkeit programmiert. 

Philip K. Dick: Die rebellischen Roboter. Science-Fiction-Roman. Ins Deutsche übertragen von Tony Westermayr [Orig. We Can Build You, 1972]. München: Wilhelm Goldmann Verlag [1977].

Donnerstag, 12. Juni 2025

Walter Satterthwait: Eskapaden (1995)

Ein ideales Buch für ein verregnetes Wochenende: Leichte Lektüre, spannend, unterhaltsam und, um dem Ganzen den richtigen Pfiff zu verleihen, mit zwei historischen Cameo-Auftritten garniert. Der legendäre Entfesselungskünstler Harry Houdini und Sir Arthur Conan Doyle, der Schöpfer des nicht weniger legendären Privatdetektivs Sherlock Holmes, treffen aufeinander. Beide haben sich im realen Leben tatsächlich gekannt, die Freundschaft brach dann aber wegen Doyles Hang zum Spiritismus auseinander. Erstaunlich: Den Scharfsinn seines Ermittlers schien Doyle selbst mit Leichtgläubigkeit aufzuwiegen. Er liess sich durch dilettantische Elfenfotos hinters Licht führen und glaubte an übernatürliche Fähigkeiten. Auch seinem Freund Houdini attestierte er geheime Kräfte, da er sich seine Befreiungstricks nicht anders als durch Entmaterialisierung erklären konnte.

Vor diesem historischen Hintergrund ist der Roman angesiedelt, der zwar als Kriminalroman angelegt ist, aber vor allem durch sein skurriles Figurenpersonal besticht, zu dem neben Doyle und Houdini u.a. auch dem Freudianer Dr. Auerbach und des kommunistischen Lord Purleigh sowie seiner nymphoman veranlagter Tochter Cecily besteht. Auf dessen Anwesen Maplewhite in Devon (England), wo angeblich der Geist eines verstorbenen Vorfahren sein Unwesen treibt, soll im Jahr 1921 eine Séance mit einem von Conan Doyle ausgewählten Medium stattfinden, das Houdini des Betrugs überführen will. Er soll den Erweis erbringen, dass Séancen nichts anderes als Hokuspokus sind, bei denen mit ähnlichen Tricks gearbeitet wird wie in zweitklassigen Zaubershows: "Timing [...] Irreführung. Und natürlich präparierte Requisiten." (333) Doch zu dieser Beweisführung kommt es gar nicht, weil es vorher gilt, einen Mordfall aufzuklären, der - wie sich herausstellt - mit ähnlichen Täuschungsmanövern inszeniert wurde. Rasch geraten die Dinge auf dem englischen Schloss ausser Kontrolle und es kommt zu einer klassischen Whodunnit-Situation, wie man sie auch jedem Agatha-Christie-Krimi kennt: In einer geschlossenen Gesellschaft bewegt sich inkognito ein Mörder, den es zu überführen gilt, bevor er erneut zuschlagen kann. 

Komplizierend kommt hinzu, dass Houdini von einem Rivalen namens Chin Soo, dessen Identität unbekannt ist, da er ständig maskiert auftritt, verfolgt wird und deshalb den Aufenthalt auf dem vermeintlichen Gespensterschloss nutzen will, um zeitweilig unterzutauchen. Das ist jedenfalls der Plan des amerikanischen Pinkerton-Detektivs Phil Beaumont, der Houdini, den er fortwährend ironisch als der "grosse Meister" apostrophiert, begleitet, getarnt als sein Privatsekretär. Doch als der erste Schuss fällt, muss er sein Inkognito ablegen und die Ermittlungen beginnen, in die sich auch Conan Doyle und Houdini einmischen. Als dann noch der Shakespeare-dauerzitierende Inspektor Marsh auftritt, verkommen die Ermittlungen endgültig zu einem Schaulaufen. Houdini geht mit dem Inspektor eine Wette ein, dass er den Fall vorher aufklären werde, was ihm aufgrund seiner Vertrautheit mit Zaubertricks, Täuschungsmanövern und doppelten Böden auch gelingt. Er entdeckt ein Geheimgangsystem im Schloss, das nicht nur den nächtlichen Spuk, sondern auch den Mordhergang erklärt. Der unterlegene Inspektor entpuppt sich schliesslich als Chin Soo, der seinen Konkurrenten, wenn er ihm schon zaubertechnisch unterlegen ist, wenigstens detektivisch schlagen wollte.

Der Titel "Eskapaden" referiert somit mindestens auf Zweierlei: Zum einen auf den Befreiungs- und Entfesselungskünstler Houdini und die durch entdeckten geheimen Kammern, den den Mördern als eine Art Escape Room dienten, zum anderen auf die sich überstürzende Ereignisse, in die auch  erotische  des e. Erzählt werden diese Eskapaden durch eine doppelte Perspektive: Aus Sicht von Jane Turner  und Phil Beaumont, die den Erzählstil à l'anglaise bzw. à l'américaine verkörpern. Beaumont hat das Format eines Hard-Boiled-Ermittlers aus der Feder von Raymond Chandler: Neben einer gehörigen Portion Zynismus und einem hohen Attraktionsgrad für Frauen verfügt er zudem über die nötige Durchschlagskraft. Als er von dem Poseur und Angeber Sir David zum Boxkampf aufgefordert wird, schlägt er ihn selbst nach einer durchlebten Nacht auf Anhieb k.o. Jane Turner, die mit ihrer distinguierten Haltung wiederum direkt einem Roman von Agatha Christie entsprungen sein könnte, zeigt sich zunächst angewidert vom amerikanischen Männlichkeitsimport, muss am Ende aber ihre erste Einschätzung revidieren. Tatsächlich nähern sich die beiden an und werden gemeinsam zwei weitere Fällen lösen: unter dem Titel Maskeraden, der im Paris der 1920er Jahre spielt, und Scharaden, der in Nazi-Deutschland angesiedelt ist.

Walter Satterthwait: Eskapaden. Roman. Aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner [Orig. Escapade, 1995]. Zürich: Haffmans Verlag 1997.

Samstag, 31. Mai 2025

Carter Brown: Leiche - oben ohne (1966)

Zwischendurch liebt das Lesefrüchtchen ein leicht bekömmliches Trivialromänchen, das man unangestrengt und verlustfrei in ein bis zwei Stunden ausgelesen - und sich dabei auch köstlich amüsiert hat. Zu dieser Sorte gehören die Krimis von Carter Brown um den Privatschnüffler "mit Bürstenhaarschnitt" Danny Boyd, an dessen zynischem Schmiss sich dazumal sogar der Lehrstuhl des Philosophen Hans Blumenberg delektierte. Wer faule Sprüche mag, kommt hier bestimmt auf seine Kosten. Wobei das auch an der deutschen Übersetzung liegen mag, in diesem Fall von Will Helm, der bereits im Titel - im Original lautet er schlicht The Black Lace Hangover - seine eigene Sprachkreativität walten lässt. Der Doppelsinn zielt natürlich auf Boyds Vorliebe für, wie es einmal heisst, "denkmalsreife Busen", in Kombination mit einer Leiche kann sich das "oben ohne" allerdings auch auf einen abgetrennten Oberkörper beziehen.

So beginnt der Krimi tatsächlich mit einem paar abgetrennter Frauenbeine, die unter dem Sofa von Boyds - nach einer "ganz verteufelten Party" zerstörten - Wohnung hervorschauen. Der fürchterlich verkaterte Boyd, der während der Party überdies von einem eifersüchtigen Catcher durch den Raum geschleudert wurde, registriert die Körperteile mit dem ihm eigenen Sarkasmus: "Bei so einer wilden Party bleibt ja immer mal was liegen, aber das hier war doch mehr als unglaublich. Irgendwo in Manhattan musste jetzt eine Dame ohne Unterleib herumlaufen." Die Diagnose stellt sich dann aber rasch als irrig heraus, als Boyd, attrahiert von den "prachtvollen Beinen" und "wohlgerundeten Schenkeln" diese zu betatschten beginnt und feststellen muss, dass der Oberkörper keineswegs abgetrennt ist, sondern vom Sofa verdeckt und eben im Begriff ist, einen gellenden Schrei auszustossen: "Sie sind ein Wüstling!"

Das ist der Beginn einer turbulenten Geschichte, die in der ersten Hälfte aus einer fortlaufenden Pechsträhne, an der eine Pleite auf die nächste Panne folgt, in der zweiten Hälfte dann aus einer Reihe an unglaublichen Kehrtwendungen (aka Plot Twists) besteht. Eine richtige Leiche taucht bald auf: Und zwar der ermordete Onkel Joe der namenlosen jungen Frau, die Boyd unter seinem Sofa entdeckte. Sie sei versehentlich auf die Party geraten, weil sie sich im Stockwerk irrte und eigentlich ihren Onkel besuchen wollte. Als sie gemeinsam mit Boyd seine Wohnung betritt, liegt er aufgeschlitzt in der Badewanne. Danach überstürzen sich die Ereignisse: Es stellt sich heraus, dass die junge Frau die Tochter Lucia des im Sterben liegenden Mafiabosses Duke Borman - und ausserdem in grosser Gefahr ist, weil sie entführt werden sollte, um aus Borman auf dem Sterbebett noch wichtige Informationen erpressen zu können.

Boyd wird deshalb von einem anderen Onkel Lucias, Jerome Lansing, gebeten, mit ihr für ein paar Wochen abzutauchen, bis Borman gestorben sei und damit Lucia auch aus der Gefahrenzone. Man kann sich vorstellen, dass sich ein Frauenheld wie Boyd nichts Besseres vorstellen kann, als mit einer attraktiven 22-Jährigen ein paar gemeinsame Wochen zu verbringen. Er hat allerdings die Rechnung ohne ihre "Anstandsdame" Roberta Carrol gemacht, die sie begleiten wird. Doch stellt sich das rasch als das kleinste Problem heraus: Lucia türmt mit Boyds Wagen aus dem Ferienbungalow auf Long Island und Roberta führt ihn an der Nase herum, das heisst konkret: sie ver-führt ihn, um gleich darauf auch abzuhauen. Boyd fühlt sich somit gleich doppelt betrogen - als Ermittler wie als Liebhaber: "Ich war nahe dran, den Geist aufzugeben, als ich erkannte, dass es keineswegs mein unwiderstehlicher Charme gewesen war, der sie in meine Arme geführt hatte."

Auch in der Folge reiht sich Betrug an Betrug und Bluff an Bluff. Alle werden reihum an der Nase herumgeführt. Als grosser Strippenzieher im Hintergrund erweist sich ein gewisser Dane Fordyce, der in wunderbar satirischer Überspitzung als kleines affenartiges Männchen geschildert wird, das fast hinter dem Telefonhörer verschwindet. Aber wie so oft, sind die kleinsten Wichte die grössten Bösewichte. Er hat Onkel Joe auf dem Gewissen, aus Gewinnsucht. Um den Verdacht von sich abzulenken, wollte er die Tat seiner Witwe - als die sich Roberta herausstellt - in die Schuhe schieben und Boyd sollte als nichtsahnender Strohmann dienen, als "einer, der leicht auf ein hübsches Lärvchen hereinfällt". Denn auch Lucia war keineswegs zufällig auf seiner Party, sondern sollte ihn auf eine falsche Fährte führen. Unerwartet taucht auch ihr Vater, der Duke, quicklebendig auf, der seinen baldigen Tod nur vortäuschte, um inkognito nach dem Rechten zu sehen. So bietet jede Seite eine neue Überraschung und die Geschichte endet so überstürzt wie sie begonnen hatte.

Samstag, 24. Mai 2025

Terry Southern / Mason Hoffenberg: Candy (1958)

In diesem Roman gibt sich Freuds gesamte Trieblehre ungehemmt ihr feucht-fröhliches Stelldichein, vom Ödipus-Komplex bis zu den sexuellen Neurosen. Geschildert wird eine Welt, in der sich jeder unmittelbar seine Befriedigung sucht. Das muss auch Candy erfahren, eine zwar bildhübsche, aber reichlich blauäugige Studentin, die einer rückständigen Romantik nachhängt. Sie idealisiert und vergöttert Männer und neigt zu einem devoten Verhalten, das auch ihre Sexualität bestimmt: "Sich hingeben", so schreibt sie in ihrer Seminararbeit über "Die Liebe in unserer Zeit", sei "nicht bloss eine von überholtem Aberglauben diktierte Pflicht, sondern ein erhebendes und erregendes Vorrecht." Und mit dieser Überzeugung gibt sie sich bereitwillig hin, wo Triebstau und sexuelle Not am Mann ist. Sie opfert sich quasi für einen guten Zweck. Doch wird ihr Idealismus jedes Mal herb enttäuscht, wenn sie bemerkt, wie wenig die Männer ihre romantischen Phantasien teilen und sie viel eher als williges Sexobjekt betrachten. Vollends ad absurdum getrieben (im wahrsten Sinne des Wortes) wird es am Ende bei der Sekte der "Knaller", wo Candy durch einen Yogi unter dem Vorwand, sie auf die spirituelle Ebene zu führen, penetriert wird, "nicht als Lustobjekt, sondern als Manifestation geistigen Fortschritts". Was hier aufgrund der Verkehrung der Gegensätze komisch wirken soll, ist eigentlich nicht zum Lachen, sondern war, wie wir heute wissen, in der Baghwan-Sekte bittere Realität.

Der Plot bezieht sich lose auf zwei Prätexte: Zum einen auf Marquis de Sade, der seine Justine als Personifikation von Unschuld und Rechtschaffenheit auf einen harten Leidensweg schickt, auf dem sie sich fortlaufend unfreiwillig hergeben muss. Das unterscheidet sie von Candy, die zum anderen an Voltaires Candide orientiert ist. Der Namen Candy markiert eine Art Schwundform von Candide. Voltaire entwarf diese Figur, um die These des Philosophen Leibniz über die beste aller möglichen Welten der Lächerlichkeit preiszugeben. Dazu erfand er die Figur des Candide, die im naiven Glauben an diese Prämisse durch die Welt schreitet und dabei stets nur das Gegenteil erlebt. Sein Idealismus wird im Verlauf der Geschichte ebenso hart auf die Probe gestellt wie Candys Unschuld. Während sich Candide aber am Schluss resigniert aus der Welt zurückzieht und seinen sprichwörtlich gewordenen Garten pflegt, begeht Candy auf der Suche nach transzendentaler Erleuchtung unbemerkt Inzest mit ihrem Vater, obschon sie noch kurz zuvor beteuert, dass sie nicht anders könne als begehrt zu werden - "ausgenommen von Daddy!" So endet der Roman abrupt mit einer Anagnorisis-Szene, welche die letzte Desillusionierung für Candy bereithält: Dass nicht einmal das Inzest-Verbot dem männlichen Begierde Einhalt gebietet. Ob Lehrer, Ärzte, Geistliche, ja sogar der leibliche Vater, sie alle sind nur scharf auf Candys "poussierliches Pünzelchen".

Das Buch erschien ursprünglich unter dem Pseudonym Maxwell Kenton in der Olympia Press, die für schlüpfrige Texte, aber auch den Vertrieb von gewagter Avantgarde-Literatur bekannt war. Candy versucht beides zu sein: Pornographie und Parodie. Und es gelingt doch nicht richtig. So vielversprechend die Idee ist, der Witz will nicht immer zünden. Die Masche ist allzu rasch durchschaubar und die Umsetzung grösstenteils plump oder nur fad. Es reicht einfach nicht, ein paar schräge Szenen (Sex im Spital, Sex mit einem Buckligen) oder serienweise Umschreibungen für das weibliche Geschlechtsorgan als "kleine Zuckerdose", "Gewürzbüchschen", "Pelztörtchen", "Honigtöpfchen", "Liebesmuschel", "Erdbeerkörbchen" oder "süsses Marzipanschneckchen" aufzutischen. Dabei wäre Terry Southern ein Mann von Fach, ein renommierter Drehbuchautor, der unter anderen für Stanley Kubrick die Nazi-Groteske Dr. Strangelove schrieb und das Skript für Easy Rider mitverfasste. Beides zwei überaus erfolgreiche Filme. Auch Candy selber wurde 1968 verfilmt, trotz beachtlichem Staraufgebot (Marlon Brando, Walter Matthau, Ringo Starr) reichlich erfolglos. Die pornographischen Sequenzen sind lediglich angedeutet, so dass allein der relativ dünne Plot übrigbleibt. So fehlt dem Film gerade, was allenfalls den Reiz des Roman ausmacht: der demonstrative Tabubruch, der von Vulgärsprache bis hin zum finalen Inzest zwischen Vater und Tochter reicht. Damit bleibt er seiner Zeit verhaftet, denn provokant wirkt das heute alles nicht mehr, eher allzu pennälerhaft.

Montag, 19. Mai 2025

Duca di Centigloria: Ich frass die weisse Chinesin (1967)

Was für ein Titel: "Ich frass die weisse Chinesin". Damit ist eigentlich schon alles gesagt und jeder Spoileralarm kommt zu spät. Auch jede Triggerwarnung. Die Pointe dieses "Menschenfresser-Romans" liegt also nicht auf dem vorweggenommenen Ende, sondern in der Frage, wie und aus welchen Beweggründen die weisse Chinesin verspeist wurde. Aber nicht einmal das steht wirklich im Vordergrund des an sich handlungsarmen Romans, der vielmehr eine enzyklopädische Kulturgeschichte der Anthropophagie in unzähligen Anekdoten und Beispielen auswalzt. Das klingt nach schwerer Kost, was es inhaltlich für zartbesaitete Gemüter sicherlich sein mag. Die kannibalistischen Kenntnisse werden jedoch so wohlunterrichtet und in einem leichtfüssigen Parlando vorgetragen, dass der ganze Wissenswust nicht lähmend wirkt. Im Gegenteil selten lesen sich Sachinformationen unterhaltsamer, was in diesem Falls sicher mit der pikanten Thematik zusammenhängt und der Erzählsituation.

Der "Roman" präsentiert sich nämlich gar nicht als Niederschrift, sondern als langer Monolog, den ein namenloses Ich - manche identifizierten es direkt mit dem pseudonymen Verfasser Duca di Centigloria - an Sir George richtet, um ihm zu erklären, weshalb er seine Frau verspeist hat; die in Peking geborene und aufgewachsene schwedische Diplomatentochter Ysabel, die aufgrund ihrer hellen Hautfarbe nur die "weisse Chinesin" genannt wurde. Der Bericht soll aber ausdrücklich nicht als "Geständnis" missverstanden werden, denn der Erzähler kennt keine Reue, vielmehr liefert er mit seiner Rede eine kulturhistorisch breit abtgestützte Legitimierung seiner Tat. Die Argumentation gipfelt darin, die Menschenfresserei zu einem rituellen, ja heiligen Akt und den Lustmord gleichsam zum absoluten Höhepunkt zu (v)erklären. Alles, was sich Sir George über die Bräuche und die Riten von Kannibalen anhören muss, schilderte der Erzähler zuvor dessen Frau, die - aufgrund einer suizidalen Veranlagung und einer Vorliebe für chinesische Mystik - immer stärker davon fasziniert ist, dass sie sich schliesslich bereitwillig zum Opfer darbietet.

Sie kann sich kein grösseres Glück vorstellen, als im Magen ihres Liebhabers zu enden, dem sie einst das Leben verdankte, als er bei einer Bluttransfusion als Spender für sie eintrat. Seither trägt sie sein Blut in sich und möchte sich für diese Gunst angemessen revanchieren. So nimmt sie dem Erzähler das Versprechen ab, dass er postum ihr Herz, ihre Leber und ihr Hirn verspeisen werde. Durch einen Trick arrangiert sie sogar, dass ihr Liebhaber zu ihrem Mörder wird, verschafft ihm also den Genuss des Lustmordes. Noch unter ihren letzten Zuckungen auf dem Totenbett liebt er sie ein letztes Mal, bevor er ihre Leiche auftrennt, die Organe entnimmt, und als besondere Leckerbissen mit einem Teelöffel zudem ihre Augen ausschält. Nach all den Ungeheuerlichkeiten, die zuvor mit sichtlichem Ergötzen lang und breit erörtert wurden, nimmt sich das finale Mal, am Tisch feierlich zubereitet, gleichsam gesittet aus und steht somit im latenten Widerspruch zu den archaischen Gewalttaten aus "weniger gefühlsduseligen Zeiten" - wie es einmal lakonisch heisst, um das Unverständnis oder gar die Abscheu gegenüber dem Kannibalismus einem unverständigen Zeitgeist in die Schuhe zu schieben.

Tatsächlich stellt sich der Erzähler letztlich auf den Standpunkt, dass die Anthropophagen "die besseren Menschen" seien, näher am Göttlichen, weil sie sich nicht durch niedere Tiere ernähren, sondern sich durch das Verzehren von Menschenfleisch sozusagen selbst optimieren. Hannibal Lector lässt grüssen, der popkulturelle Prototyp des soignierten Kannibalen. So richtig geht die gesamte Argumentation freilich nicht auf: Denn zwischen dem Verspeisen von Feinden aus Rache und der liebevollen Einverleibung von Familienmitgliedern wird genauso wenig unterschieden wie nicht in Rechnung gestellt wird, dass das vorgängige Quälen und Foltern der Opfer dem supponierten humanistischen Anspruch weit entgegen steht. Aber das rhetorische Prinzip dieser kannibalistischen Suada besteht auch weniger in der Persuasion als vielmehr im Schockmoment, im Einflössen einer grausligen Wollust. Denn in einem Punkt ist dem Erzähler gewiss zuzustimmen, dass selbst (oder gerade) die grausamsten Verbrechen seit jeher eine grosse Faszinationskraft ausübten: "noch in unseren Zeiten - die Zeitungen bezeugen es - umgibt den Mann oder die Frau, die getötet haben, eine Aura von Ächtung und Achtung; die grossen Mörder der Geschichte sind die Unsterblichen, ihre Opfer dagegen die Namenlosen". So die zynische Bilanz.

Als der skandalträchtige Roman 1967 erschien, rätselten alle über die Autorschaft. Heute weiss man, auch dank einem ausführlichen Wikipedia-Artikel, dass der damals bereits seit zwei Jahren verstorbene Johann Graf Coudenhove-Kalergi hinter dem Pseudonym steckte. In Ulrich Holbeins Narratorium (2008) kommt der exzentrische Graf nicht vor, obschon er darin einen Ehrenplatz verdient hätte. Der 1893 in Tokio als Sohn eines Diplomaten geborene Adelssprössling aus böhmischen Geschlecht entwickelte sich zu einem Bohème und Freigeist mit besonderem Hang für die makaberen Seiten der Kultur und den schwarzen Humor der Surrealisten (der sich etwa, dies nur nebenbei bemerkt, in der Verehrung des 'göttlichen Marquis' (de Sade) zeigt, in dessen Werk neben allerlei sexuellen Perversionen in der Gestalt des Riesen Minski tatsächlich auch ein Menschenfresser figuriert). So soll der Graf auf Reisen stets die ägyptische Mumie einer Prinzessin mit sich geführt und auch in sein Hotelzimmer mitgenommen haben. Der selbstentworfene Stammbaum seines Alter Ego Duca die Centigloria reichte, wie seine Nichte, die österreichische Journalistin Barbara Coudenhove-Kalegri, in ihrem Memoiren berichtet, über alle "Schurken der Weltgeschichte" bis auf die Schlange im Paradies zurück. Nicht von ungefähr kommt der Symbolik der Schlange auch im Roman ein besonderer Stellenwert bei der Schilderung von Voodoo-Ritualen zu.

Donnerstag, 15. Mai 2025

Giacomo Casanova: Geschichte meines Lebens (1789)

Giacomo Casanovas Geschichte meines Lebens umfasst 12 Bände mit durchschnittlich 330 Seiten, insgesamt also gut 4500 Seiten. Zum 300. Geburtstag des am 2. April 1725 geborenen Abenteurers, Philosophen, Diplomaten, Geheimagenten wie auch Geheimbündlers und - nota bene - Schürzenjägers nimmt sich das Leserfrüchtchen vor, seine Memoiren integral zu lesen. Ein Lektüreabenteuer wie es in vergleichbaren Dimensionen nur Marcel Prousts Recherche du temps perdu (auch um die 4000 Seiten) oder - in einer inferioren Liga spielend - Karl Mays Kolportageroman Das Waldröschen (2600 Seiten) darstellt, wenn man von nonfiktionalen Riesenwerken wie den Tagebüchern Samuel Pepys (3100 Seiten), der Gebrüder Goncourt (7000 Seiten) oder Henri-Frédéric Amiel (17'000 Seiten) absehen will. In jüngster Zeit nur getoppt durch die Open-Source-Novel Marienbad My Love von Mark Leach. Wie rüstet man sich zu einem solchen ungeheurem Unternehmen? Indem man beispielsweise ein Lektüreprotokoll führt.

Vorweg: Der alternde, nur noch - wie er an einer Stelle sagt - mit zwei Zähnen versehene Casanova beginnt ca. 1790, also als Mitsechziger, seine Memoiren aufzuschreiben, erstaunlicher Weise nicht auf Italienisch, sondern auf Französisch, eine Sprache, die er in jungen Jahren erlernen musste, als er in Rom in diplomatisch-klerikalen Kreisen verkehrte. Seine Laufbahn begann der aus einer Schauspielerfamilie stammende Lebemann, nicht weniger erstaunlich, als Geistlicher. Doch schon zu dieser Zeit regte sich sein glühendes Interesse am anderen Geschlecht, was sich oft nicht mit seiner öffentlichen Rolle als angehender Priester vertrug. Dieser Ruf als Frauenheld, der rücksichtslos venerischen Freuden frönt, eilt Casanova heute voraus. An einer Stelle rühmt er sich selbst als den "grössten Libertin" Venedigs. Sein Leben war gewiss nicht arm an erotischen Abenteuern, die er ohne falsche Scham auch ausbreitet, ohne dabei jemals pornographisch zu werden. Im Gegenteil: Er ist ein Meister der diskreten Andeutung, wenn er wieder "eine Blüte bricht", eine "Frucht" oder "Feige pflückt" und seine "Quintessenz" verströmt.

Seine Memoiren markieren somit das Gegenteil zu Augustinus oder Rousseaus Konfessionen. Es sind keine Bekenntnisse oder gar Beichten, die er ablegt, vielmehr lacht der Greis über die Torheiten, Fehler und Sünden seines Lebens, die er in keinster Weise bereut. Sein Motto lautet, mit Edith Piaf, gesprochen: "Je ne regrette rien"! Diese positive Lebenseinstellung dringt durch die gesamten Schilderungen hindurch, die den Erzähler selbst in unglücklichen Lebensphasen nicht verzagen lässt. Im Gegenteil: Mit Vehemenz richtet sich der dezidierte Kritiker des Selbstmords gegen diejenigen, die allzu rasch die Hoffnung aufgeben und sich aufgrund ihres Schicksals grämen: "Oh, ihr Verächter des Lebens, glaubt ihr, seiner würdiger zu werden, wenn ihr es verachtet!" Casanova hält sich lieber an seinen "Meister Horaz", den er gern und oft zitiert, und stellt sich auf den Standpunkt, dass sich ein "weiser Mann" "niemals restlos unglücklich" fühlen darf. Jeder ist seines Glückes eigener Schmied, lautet Casanovas Devise, nach der er sich ein Leben lang richtet, wobei für ihn Glück nichts anderes als das permanente Trachten nach Lustgewinn bedeutet.

Dieses grosse Selbstvertrauen sowie sein Unabhängigkeitsdrang prägt den Charakter Casanovas, der sich lebens- und liebesdurstig ins Dasein stürzt, sich vor Rückschlägen nicht entmutigen lässt und das Schicksal stets wieder von Neuem herausfordert. Er ist - neben dem Inbegriff des Verführers - der Typus des Spielers und Hasardeurs. Ein Freigeist, ein "Leichtfuss" und ein Verächter jeglicher "Spiessermoral", Heuchelei und Frömmelei. Wo immer sich die Gelegenheit zu einem Techtelmechtel oder kleinen Streichen bietet, um Armleuchter hinters Licht zu führen, setzt er alles daran, sein Ziel zu erreichen. So oft ihn dabei seine drängende Libido in die Bredouille bringt, so oft schafft er es, sich durch List und Menschenkenntnis Vorteile zu verschaffen, was er übrigens als Teil einer legitimen Klugheitslehre erachtet und deshalb von Betrügereien unterschieden wissen will: "Betrug ist gemein; eine rechtschaffene List ist jedoch nichts anderes als geschickt angewandte Klugheit, und das ist eine Tugend."

Mit Stolz und zurecht sagt er, wer ein ereignisreiches Leben geführt habe, werde gleich doppelt belohnt, denn er hätte am Ende desselben auch einiges zu erzählen. Hätte er alle guten Lehren und Ratschläge befolgt, meint er einmal, "so wäre mein Leben gewiss nicht so stürmisch verlaufen; dann würde ich es allerdings heute auch nicht für würdig halten, es niederzuschreiben". Und tatsächlich liest sich Casanovas Lebensgeschichte so spannend wie ein Abenteuer- oder Schelmenroman. Das liegt zum einem am Stoff mit etlichen Intrigen, Affären, Verschwörungen und Scharmützeln, der es locker mit damals populären Feuilletonromanen eines Eugène Sue aufnehmen kann, vor allem aber auch daran, weil der Autor ein brillanter Causeur und Unterhalter ist. Wobei natürlich die Frage berechtigt ist, wie viel Dichtung der notorische Scharlatan seinen Erinnerungen beigemischt hat, zumal er selbst an einer Stelle bekennt, dass er es liebt, "aus der Luft gegriffene Geschichten" zum Besten zu geben.

Doch wozu sollte er sich selbst belügen? Angeblich dachte Casanova vorderhand nicht an eine Publikation seiner Memoiren, als er er sie aus Schloss Dux bei Böhmen niederschrieb, wo er die letzten 13 Jahre seines Lebens als Bibliothekar des Grafen Waldstein verbrachte. Zwar interessierte sich Waldsteins Neffe, Fürst Karl Joseph de Linge, für Casanovas Memoiren, in erster Linie wird er sie aber für sich selbst, zu seiner eigenen Ergötzung, niedergeschrieben haben, auch wenn er - dem Stil der damaligen Zeit geschuldet - hin und wieder einen imaginären "Leser" apostrophiert. Nachdem er ein Alter erreichte, in dem er aktiv keine (Liebes-)Abenteuer mehr bestreiten konnte, verschaffte ihm die Erinnerung an seine zahlreichen Eroberungen und Erlebnisse eine supplementäre Wonne, auch um ihn über den oft garstigen Alltag auf Schloss Dux hinwegzutrösten, der von Streitigkeiten mit dem Dienstpersonal geprägt war. Mag sein, dass Casanova deshalb kompensatorisch einiges beschönigte, wie ja die Erinnerung überhaupt eine Schönfärberin ist.

1. Buch: behandelt die Kindheit und Ausbildung Casanovas zum Priester und Doktor beider Rechte, die ihn von seiner Geburtsstadt Venedig über Padua bis nach Rom führte, wo die Aussichten auf eine glänzende Karriere bald durch die unglückliche Verstrickung in einer Entführungsaffäre zunichte gemacht wurden, was zugleich den Beginn für Casanovas künftig unsteten Lebenswandel markierte. Der spätere Lebemann kommt als äusserst lebensschwaches Knäblein auf die Welt, so dass man schon um seinen frühen Tod fürchtet. Doch eine Hokuspokus-Behandlung bei einer "Fee" bzw. Zauberin, die das Kind in eine Kiste steckt und symbolisch zum zweiten Mal die Geburt durchleiden lässt, verschafft ihm tatsächlich ein zweites Leben. In der Folge entwickelt sich der Knabe prächtig und überdies einen grossen Appetit, der bereits auf seine unersättliche sexuelle Appetenz vorausweist: "Aber gerade die Gesundheit machte den Hunger um so quälender; er wurde zur Fresssucht." Häufig werden in Casanovas Memoiren die sexuellen Eskapaden von gediegenen Diners flankiert und die lukullischen Genüsse zu Tisch als Vorspiel zu den Sinnesfreuden im Bett gewertet. Den "ersten Funken jener Leidenschaft" (I,97), allerdings noch vergleichsweise keusch, entfachte ein 13jähriges Mädchen namens Bettina, die Schwester des Priesters Doktor Gozzi, bei dem der junge Casanova in Padua in Pension war, um sich für das Theologiestudium vorzubereiten. Er wird sofort zum Lieblingsschüler des Doktors und beeindruckt durch seine rasche Auffassungsgabe und Lernfähigkeit. Mit 16 Jahren erhält Casanova die niederen Weihen und verlässt Padua, ohne mit Bettina wirklich intim gewesen zu sein, was er rückblickend bereut, weil sie danach einem "Strolch" (I,136) in die Hände geraten ist. Dasselbe geschieht auch mit Lucia, auch da bereut Casanova seine "dumme Zurückhaltung", dass er sie "unberührt gelassen" habe (I,194). Künftig will er keine Frau mehr aus falscher Rücksicht schonen, damit sie - so seine heroische Rechtfertigung - nicht "dem ersten besten Lüstling zum Opfer falle" (I,160). Tatsächlich wird sein Leben bald reich an erotischen Abenteuern, selbst als angehender Prediger treibt er es bunt und vernascht zum Beispiel zuerst nacheinander, dann miteinander die Schwestern Angela, Martina und Nanetta. Als er das Angebot erhält, Sekretär des Bischofs von Martirano zu werden, macht er sich auf den Weg nach Kalabrien, unterwegs teilweise in Begleitung des liederlichen Bruders Stefano, der "nur Mönch geworden war, um ohne körperliche Anstrengungen zu leben" (I,269). Angekommen in Martirano erkennt Casanova schlagartig, dass er in diesem Bistum versauern und "binnen weniger Monate als Märtyrer in diesem Ort" sterben würde (I,290). Mit dem bischöflichen Segen zieht er weiter nach Rom, wo er in die Dienste des Kardinals Acquaviva tritt. Auf dem Weg macht er eine Reisebekanntschaft, die sein erotisches Doppelleben in Rom bestimmen wird: Donna Lucrezia, die Frau eines römischen Advokaten, den er nicht nur mit ihr, sondern sogar in Anwesenheiten ihrer Schwester Angelica betrügt, die einmal auch in den Genuss von Casanovas Liebeskünsten kommt: "Lucrezia, erstaunt und hingerissen vor Freude, küsste uns abwechselnd und sah entzückt, wie ihre Schwester verging, und ebenso begeistert, dass ich standhielt." (I,344) So lernt der junge Bursche fortlaufend die venerischen Freuden kennen und schätzen, wobei er stets betont, dass er sie nur in Verbindung mit "Liebe" richtig geniessen kann, wobei hier zu fragen wäre, was Casanova unter 'Liebe' genau versteht. Denn kaum gefällt ihm eine Frau, ist er auch schon in sie verliebt, so dass Liebe in diesem Kontext wohl eher als starkes Begehren verstanden werden muss. Schliesslich taxiert Casanova die Frauen nach ihrer Schönheit - und erst diese weckt sein Begehren oder seine "Liebe", wie er es nennt. In diesem Zusammenhang führt Casanova ein literarisch interessanter Vergleich an, der nicht nur sein wenig platonisches Verständnis von Liebe offenbart, sondern die optische Attraktivität eigens hervorhebt: "Am Beginn der Liebe steht [...] eine Neugier, die zusammen mit dem Trieb, den uns die Natur zu ihrer Erhaltung verleihen muss, alles vollbringt. Die Frau ist wie ein Buch, von dem, ob gut oder schlecht, zunächst die Titelseite gefallen muss; bietet sie keinen Anreiz, so erweckt sie auch nicht die Lust zum Lesen, und diese Lust ist nur so stark wie das Interesse, das sie uns einflösst." (I,244) 

2. Buch: behandelt Casanovas Flegeljahre, nachdem er Rom verlassen musste. Er heuert in seiner Heimatstadt Venedig als Soldat an und lässt sich nach Korfu einschiffen. Ein Abstecher nach Konstantinopel verschafft ihm die Bekanntschaft mit Jussuf Ali, einem türkischen Pascha, mit dem er ausführliche Gespräche über Kultur und Religion führt und der sich so begeistert von dem jungen Mann zeigt, dass er ihm seine Tochter zum Heiraten andrehen will. Doch Casanova kehrt unverrichteter Dinge zurück nach Korfu, von wo er aber aufgrund einer Schlägerei gleich wieder fliehen muss und sich allein mit einem Boot auf die Insel Casopo begibt und sich im Stall eines Priesters verschanzt. Die Bauern besticht er mit Geld und vergnügt sich derweil mit deren Frauen. Durch einen Unterhändler, der ihm verspricht, dass er ungeschoren davonkommt, wird Casanova schliesslich wieder nach Korfu geholt, wo sich eine Liebschaft mit der Signora F. entwickelt, eine Amour fou, die Casanova sogar dazu verleitet, aus den Haaren seiner Geliebten Schokoladenplätzchen zu backen und dabei die Vorstellung geniesst, "dass ich etwas ass, was ein Teil von ihr war". Ein "schreckliches Missgeschick" beendet die Affäre jedoch vorzeigt und zwingt Casanova, Korfu zu verlassen. Er steckt sich bei der Prostituierten Melulla mit der Lues an - eine Geschlechtskrankheit, die sich Casanova im Verlauf seines Lebens noch einige Dutzend Mal zuziehen wird. Nach seiner Rückkehr nach Italien gibt Casanova das Soldatenleben auf und zieht als "ausgemachter Taugenichts" durch die Gegend, versucht sein Glück im Spiel, gelangt unerwartet rasch an Reichtum und lebt auf grossem Fuss, ja selbst bezeichnet er sich sogar als "jungen Leichtfuss" (2,254). Mit Christina lacht er sich eine junge Schönheit an und macht sie in sich verliebt, verspricht ihr ewige Treue und Heirat, um sie zum Beischlaf zu bewegen, doch schliesslich verkuppelt er sie mit einer anderen Partie, um seine über alles geschätzte Freiheit weiterhin geniessen zu können. Eine Masche, die Casanova auch später regelmässig anwenden wird, um sich als Gentleman aus solchen Liebesaffären zu ziehen. Neben solchen Heiratsschwindeleien übt sich Casanova auch sonst in der Kunst des höheren Betrugs, wenn er sich etwa als Geisterbeschwörer anbietet. Doch auch hier pocht er auf seine Rechtschaffenheit: Seine Motivation sei nicht, die Leute über den Tisch zu ziehen, sondern sie vor noch schlimmeren Betrügern zu bewahren (3,53).

3. Buch: behandelt Casanovas Aufenthalte in Paris, Dresden und Wien, wo er unter dem Namen Farussi - wie immer rasch - Zugang zur besseren Gesellschaft und in mondäne Kreise fand, bis hin zum Hof von König Ludwig XV., was ihm ein angenehmes Auskommen ermöglicht. Sein Charme öffnet ihm Türen und Herzen und sein nur mangelhaftes Französisch sorgt für allgemeine Heiterkeit und hie und da sogar für ein unfreiwilliges Bonmot. Der gesellschaftlichen  Vernetzung förderlich ist auch Casanovas Beitritt zum Freimaurer-Orden, der es ihm erlaubt, in jeder neuen Stadt quer durch die ständischen Ordnung rasch Bekanntschaften zu knüpfen. Bevor Casanova aber in Paris reüssiert, lernt er in Italien die Frau seines Lebens kennen: Henriette. Doch das Glück ist nur von kurzer Dauer. Zuerst begegnet er ihr in einem Gast in Begleitung eines alten ungarischen Offiziers, sie selbst steckt auch in einer Uniform. Ihre Vorgeschichte bleibt weitgehend im Dunkeln, es wird lediglich angedeutet, dass sie sich einer Zwangsheirat entzogen habe und deshalb mit Hilfe des Offiziers aus Rom geflohen sei. Casanova verliebt sich in Henriette, die sich, neu angekleidet, als Frau aus gutem Hause entpuppt, die nicht nur über beste Manieren verfügt, sondern auch über einen "aufgeschlossen Geist". So vermag sie Casanova über ihre Reize hinaus auch intellektuell in den Bann zu schlagen. Sie verbringen einige glückliche Wochen in Parma, bis Henriette die Vergangenheit einholt. Um ihrer Familie und ihrem Ehemann die Schande, sich selbst aber eine öffentliche Ächtung zu ersparen, entschliesst sie sich zu einer freiwilligen Verbannung, was zugleich aber die Trennung von Casanova bedeutet. Man mag sich nicht ausmalen, welchen Verlauf sein Leben ohne diesen Vorfall genommen hätte: Wäre er Henriette treu geblieben, wäre er häuslich geworden und nicht der rastlose Abenteurer, von dem seine Memoiren erzählen? Bevor sie sich trennen, ritzt Henriette mit einem Diamanten folgenden Satz in die Glasscheibe im Genfer Hotel A la Balance, den er Jahre später, als er Voltaire in Genf besucht, wieder entdecken wird: "Du wirst auch Henriette vergessen." (3,110). Will sie damit andeuten, dass Casanova sie früher oder später wie jede andere Frau auch verlassen hätte? Tatsächlich wird Casanova wenig später in Paris mit der Mademoiselle Vesian ein neues Verhältnis eingehen, von der er ebenso hingerissen ist. Ihr eröffnet er auch seine epikureische Lebensphilosophie des Glücks: "Der Philosoph erfährt es [das Glück] in jeder Lust, die er sich verschafft und von der er weiss, dass er sie sich durch eigenes Bemühen verschafft hat, und dadurch, dass er alle Vorurteile über Bord wirft." Nach dieser Maxime hat Casanova stets gehandelt: ein fortlaufender Lustgewinn ohne falsche Skrupel.

4. Buch: schildert hauptsächlich die Liebesgeschichte mit C.C. und M.M., die so unglaublich ist, dass sie fast einen geschlossenen Roman innerhalb der Memoiren ausmacht. Aus dem vorangehenden Buch ist bekannt, dass der Vater von C.C. die Heirat ablehnte und seine Tochter ins Kloster auf der Insel Murano steckte. Von dort aus pflegt sie, vermittelt über die Zugehfrau Laura, einen heimlichen Briefverkehr mit Casanova, der nach wie vor Gefühle für sie empfindet, erst recht als er erfährt, dass sie aufgrund des Blutverlustes wegen einer Fehlgeburt - die im Kloster natürlich verheimlicht werden muss - in Todesnähe schwebt. Er versorgt Laura mit Leintüchern, die sie in C.C.s Zelle schmuggelt, um die Blutung zu stoppen. Es gelingt und C.C. kommt wieder zu Kräften. Zur gleichen Zeit erhält Casanova jedoch ein anonymes Billett von einer anderen Nonne, die um ein Stelldichein bittet. Es versteht sich von selbst, dass Casanova dieses Angebot nicht ignorieren kann. Allerdings reflektiert der alternde Autor den Grundirrtum, dem Frauenhelden anheimfallen, dass sie stets davon ausgehen, jede neue Frau müsse noch besser und schöner sein als die vorherigen, obschon "das, was man nicht sieht, immer ungefähr das gleiche ist". Doch der Reiz des Unbekannten ist zu gross, als dass dieses Vernunftargument im Moment des Entflammens irgendeine Gültigkeit hätte. Die "Neugier" obsiegt. So auch in diesem Fall: Es stellt sich heraus, dass es sich bei der Nonne um die wunderschöne M.M. handelt, die den französischen Gesandten Kardinal de Bernis handelt, eine historisch verbürgte Figur. Dieser arrangiert heimliche Treffen mit M.M. in seiner Villa auf Murano und er zeigt sich auch einverstanden, dass M.M. dort auch Liebesnächte mit Casanova verbringt, unter der Bedingung, dass er als Voyeur in einer geheimen Kammer zuschauen darf. M.M. erweist sich als derselbe "freie Geist" wie Casanova. Sie liest Pierre Charon und andere häretische Schriften, kennt die Akademie der Damen ebenso wie den Aretino. Von ihm lassen sie sich zu diversen Stellungen inspirieren. Zum ersten Mal in den Memoiren wird der Geschlechtsakt ausführlicher geschildert, was mit der neuartigen Voyeursituation zusammenhängt. M.M. verrät Casanova, dass de Bernis ihre Liebesnächten in einer eigens dafür eingerichteten Kammer jeweils heimlich beobachtet habe. Casanova, davon keineswegs aus der Rolle gebracht, zeigt sich weiterhin umstandslos bereit, diese "Komödie" mitzuspielen, weshalb sie vom Autor auch ausgiebig in Szene gesetzt wird. In der Folge lernt Casanova de Bernis persönlich kennen und es kommt schliesslich zu einer Orgie, bei der auch C.C. teilnimmt, auf die de Bernis ein Auge geworfen hat. All das wird Casanova schliesslich zum Verhängnis: Sein Ruf als Libertin, sein Umgang mit fremden Botschaftern sowie seine Betrügereien beim Glückspiel führen schliesslich zu einer Anklage als "Feind der Republik", gefolgt von einer Internierung unter den notorischen "Bleidächern" des Dogenpalastes mit Gefängnissen, die dem besseren Teil der Gesellschaft vorbehalten sind. Der zweite Teil des fünften Buches schildert ausführlich und detailliert Casanovas spektakulären Ausbruchsversuch, der ihn im zweiten Anlauf dann tatsächlich gelingt. Eine Geschichte, die er fortan in epischer Breite zum Besten geben wird und die vor seinen Memoiren sogar separat veröffentlicht hat. In ganz Europa bewundert man Casanova für seine kühne Tat.

Nach dem spektakulären Ausbruch steht im 5. Buch Casanovas Flucht nach Frankreich, sein Aufenthalt in Paris und in Holland im Zentrum. (Dort, in Den Haag, begegnet Casanova übrigens seiner Geliebten aus früheren Tagen wieder, der Schauspielerin Teresa, die ihm überraschend die gemeinsame Tochter Sophie vorstellt.) Casanova glaubt sich durch die Erfahrung seiner Inhaftierung zwar geläutert, doch setzt er sein Hochstapler-Leben ungeniert fort, um sich möglichst rasch in der besseren Pariser Gesellschaft zu etablieren. Sei es als kabbalistisches Orakel, in diplomatischer Mission oder bei seinen erotischen Abenteuern, stets prätentiert er mehr oder anderes, als was er eigentlich zu bieten hat. Und nicht selten steht das Glück oder der Zufall auf seiner Seite. Der Gipfel der Frechheit erlangt er wohl, als er der schwangeren Mademoiselle XCV zur Abtreibung den sogenannten "Aroph" von Paracelsus als "galantes Heilmittel" empfiehlt, das nur vermischt mit dem männlichen Sperma auf dem Muttermund aufzutragen sei. So erschleicht sich Casanova den erhofften Koitus, was Mademoiselle freilich nicht verborgen blieb, als sie bemerkte, diese Behandlung führe eher zu einer "Überbefruchtung" als zu einem "Abortus". An Dreistigkeit überbietet das nur Casanovas Kumpane Tiretta, der die Madame XXX im Publikum während einer öffentlichen Hinrichtung von hinten penetriert. Neben solchen Eskapaden zieht Casanova seinen Genuss daraus, sich mit kühnen Behauptungen wichtig zu machen oder Leichtgläubige zu übertölpeln. Oft kommt Casanova seine psychologische Menschenkenntnis dabei zu Gute. Andererseits bietet Paris, "wo man alles nach dem äusseren Schein beurteilt", auch ein ideales Pflaster für Betrüger jeglicher Couleur. Mit dem Grafen Saint-Germain trifft er in Paris tatsächlich auch auf einen anderen Hochstapler, dem er gelegentlich am Mittagstisch der alchemistisch veranlagten Madame d'Urfés (die Casanova ebenfalls hinters Licht führt) begegnet, wo er anstatt zu Essen seine Aufschneidereien zum Besten gibt. Casanova hält nicht besonders viel von den "Prahlereien" des "verführerischen Schwindlers", er ist ihm - da im Grunde seelenverwandt - aber auch nicht unsympathisch. Ganz im Unterschied zu Jean-Jacques Rousseau, dem er ebenfalls einen Besuch abstattet, ihn allerdings als "Grobian" und "Sonderling" wahrnimmt.

Das 6. Buch behandelt mehrheitlich Casanovas Aufenthalt in der Schweiz, der unter keinem glücklichen Stern stand: "was mir seit Ankunft in der Schweiz widerfahren ist, war missglückt". Dabei reflektiert Casanova durchaus selbstkritisch, dass er weitgehend selbst Schuld an seinem Unglück sei, weil er sich - die Inhaftierung unter den Bleidächern in Venedig war keine bleibende Lehre - sich immer wieder in Liebeshändel und Glückspiele verstrickt. So steht zu Beginn seines Aufenthaltes zunächst der Wunsch im Raum, ein Mönch zu werden, nachdem er das Klosterleben in Einsiedeln kennenlernte und sich ein ähnlich friedvolles Dasein erhofft. Er legt daher, mehr Mittel zum Zweck, eine halbherzige Beichte "im Stil eines reuigen Sünders" ab, um sich den Weg ins Klosters zu ebnen, als ihn der Anblick einer Frau im "Amazonenkostüm" bereits wieder den Kopf verdreht und ihn von seinem Vorhaben abbringt. Er setzt fortan alles daran, mit dieser Amazone, einer verheirateten Madame de ..., eine Affäre einzugehen. Er folgt ihr von Zürich nach Baden, freundet sich mit ihrem Gatten an und bezieht unter dem Vorwand einer Kur ein Landhaus, um dort alles für sein Liebesabenteuer einzurichten. Doch es stellen sich ihm zwei Hindernisse in den Weg: eine überaus attraktive und liebreizende Haushälterin namens Dubois, mit der Casanova später nach Bern durchbrennen wird, sowie eine weitaus weniger attraktive Madame F., die sich an Casanova rächen will, weil sie sich von ihm zurückgesetzt fühlt. Als alles bereit für das Schäferstündchen mit Madame de ... ist, schleicht sich Madame F. heimlich in das Gemach und überrascht Casanova im Dunkeln. Er denkt, es handle sich um seine Geliebte, und verbringt zwei selige Stunden mit der alten Vettel, diesem "der Hölle entsprungenen Scheusal". Sie droht tags darauf nicht nur, Madame de ... öffentlich zu entehren, sondern lässt Casanova wissen, dass sie ihm einen Tripper angehängt habe. Doch mit Hilfe seiner Haushälterin gelingt ihm eine Gegenintrige, um die böse Absicht der Madame F. abzuwenden. Aus der Affäre wird unter diesen Umständen freilich nichts mehr, weshalb Casanova mit Haushälterin Dubois gegen Bern weiterzieht, um sich dort mit ihr in der Matte zu Vergnügen. Einmal mehr verliebt sich der mittlerweile 35jährige Schwerenöter auch in diese Frau, verbringt mit ihr eine vergnügliche Zeit mit allerlei Liebes- und Treueschwüren, nur um sie dann an einem älteren Herr, der sie heiraten und für ihren Lebensunterhalt sorgen wird, abzutreten und die eigene Unabhängigkeit, die Casanova stets über alles stellt, zu bewahren. Auf seinem weiteren Weg durch die Schweiz besucht Casanova den Universalgelehrten Albrecht von Haller in Basel und seinen "Lehrmeister" Voltaire in Genf, wo dieser seit 1755 in seinem Anwesen Les Délices residierte. Von beiden zeichnet er ein äusserst einnehmendes Bild, wenngleich die beiden Geistesgrössen voneinander eher weniger hielten. Haller wird mit dem Ausspruch zitiert, Voltaire "hätten verschiedene Leute entgegen den Gesetzen der Physik aus der Ferne für grösser gehalten als aus der Nähe". Ein Denkzwerg also. Voltaire hingegen gibt, als er hört, Haller urteile weniger gut über ihn als umgekehrt, eine Probe seines berühmten Spottes gibt: "Nun ja, es ist sehr gut möglich, dass wir uns beide täuschen." Die ausführlich widergegebenen Gespräche verlaufen in diesem heiteren Ton und Casanova gelingt es weitgehend, Voltaire von der italienischen Dichtungen, insbesondere Ariost, zu überzeugen, ja ihn sogar zu Tränen zu rühren. Einziger Differenzpunkt bleiben die politischen Ansichten. Hier erweist sich erneut Casanovas demokratiefeindliche Einstellung, wenn er dem Philosophen als einzigen Fehler seine Menschenliebe zum Vorwurf macht. Selber stellt er sich auf den Standpunkt: "Das Volk kann nur glücklich sein, wenn es niedergehalten, getreten und an die Ketten gelegt wird." Ausgleich vom Disputieren findet Casanova in der Orgie mit drei jungen Mädchen, die ihm, wie er kavalierhaft vermerkt, "nach Mitternacht zu einem Erguss verhelfen, den ich wirklich nötig hatte". Doch bereits am nächsten Ort jenseits der Schweizer Grenze, in Aix-en-Provence, wartet eine neue Verlockung auf ihn: in Gestalt einer Nonne, die er aufgrund einer verblüffenden Ähnlichkeit zunächst für M.M. hält - und die, wie sich herausstellt, unglaublicher Weise auch so heisst, doch nicht mit ihr identisch ist. Sie weilt in einem Bauernhaus, um dort heimlich zu entbinden. Casanova entflammt selbstredend für die Doppelgängerin und versucht durch Fürsorge und Zärtlichkeit ihr Herz zu gewinnen, auch indem er sie in seine frühere Liebschaft zu M.M. einweiht und dabei keine Eskapade auslässt. Doch vorerst zeigt sich die Nonne, die allein schon aufgrund ihrer ungewollten Schwangerschaft eine Exkommunikation befürchtet, standhaft und keusch.

Montag, 21. April 2025

Richard Brautigan: Träume von Babylon (1977)

Die Meinung ist verbreitet, der Kultautor der amerikanischen Gegenkultur, Richard Brautigan, habe nach seinen ersten drei Büchern, allen voran Forellenfischen in Amerika (1967), den Zenit bereits überschritten. Seine Verballhornung des Hard-Boiled-Krimis bleibt jedoch eine wenngleich leichte, so doch amüsante Lektüre, die Lacher am Laufmeter provoziert. Nach der schrillen, vollkommen abgedrehten Westernparodie Das Hawkline-Monster von 1974 und dem "perversen Kriminalroman" Willard und seine Bowlingtrophäen von 1975 war Träume von Babylon die dritte Genre-Parodie des Autors mit dem Untertitel: "Ein Detektivroman 1942". Die abstruse Geschichte situiert sich also vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs, doch das spielt höchstens als Kontrast zur banalen Handlung eine Rolle: "Was konnte ein Mann schon mehr wollen in diesen schweren Zeiten? Ich meine, die Welt war im Krieg, aber für mich lief alles wie geschmiert."

Derjenige, der das sagt, ist der Ich-Erzähler C. Card, ein ausgemusterter Soldat, der beim Scheissen im Schützengraben ausrutschte und sich selbst in den Hintern schoss, und sich fortan als heruntergekommener, total erfolgloser Privatschnüffler durchschlägt. Seine grösste Herausforderungen darin besteht, täglich das Geld für seinen Lebensunterhalt zusammenzuschnorren. Doch einiges Tages winkt plötzlich ein lukrativer, wenngleich dubioser Auftrag: Eine attraktive Blondine, die literweise Bier vertilgt, ohne pinkeln zu müssen ("Wo hat sie denn bloss das ganze Bier hingesteckt?"), und ihr stiernackiger Chauffeur verlangen von Card, dass er die Leiche einer toten Nutte aus dem Leichenschauhaus entfernt und zum Friedhof bringt. Der Auftrag entpuppt sich am Ende jedoch als Falle: Die Blondine war selbst die Mörderin und will Card die Sache anhängen. Dieser sieht sich am Ende des Tages deshalb in derselben desolaten Situation wie immer mit dem "einzigen Unterschied, dass [er] am Morgen noch keine Leiche in meinem Kühlschrank gehabt hatte."

Mit diesem Satz endet der kurze Roman und unterstreicht damit nochmals, dass man es bei C. Card mit einem "richtigen Verlierer" zu tun hat. Psychologisch angedeutet wird diese Entwicklung mit einem Schuldkomplex, da er als Vierjähriger den Tod seines Vaters verursacht hat, als er einem Ball hinterher auf die Strasse rannte, gefolgt von seinem Vater, der dann vom Auto erwischt wurde, was ihm seine Mutter lebenslang zum Vorwurf macht. Card kompensiert sein Verlierertum einerseits durch Wirklichkeitsflucht, andererseits durch Humor. Es fehlt ihm zwar an allem, bloss nicht an faulen Sprüchen. Ausserdem imaginiert er sich regelmässig in eine babylonische Phantasiewelt, in der er anders als in Wirklichkeit ein heldenhaftes Leben führt. Der Aufprall eines Baseballs auf seinen Kopf katapultiert Card einst in dieses Traumreich, das er im Geist fortan immer wieder aufsucht, ihn aber umso lebensuntüchtiger erscheinen lässt. Denn oft in entscheidenden Momenten, wo alle Geistesgegenwart gefragt wäre, gleitet er jeweils in die gedankliche Parallelwelt ab.

Der Roman lebt hauptsächlich von Pointen und Einzelsequenzen. Entsprechend kurz fallen die jeweiligen Kapitel aus, deren Überschriften ausserdem höchst arbiträr anmuten, oft willkürlich einen beiläufigen Begriff oder Sachverhalt aus dem Kapitel aufgreifen und dadurch paratextuell die Absurdität der einzelnen Episoden noch steigern. Gegen Ende kommt tatsächlich auch ein wenig Spannung auf, mit Verfolgungsjagd und einer harmlosen Schiesserei, doch handelt es sich dabei lediglich um Versatzstücke aus klassischen Kriminalromanen, die hier durch den parodistischen Fleischwolf gedreht werden. Brautigan besitzt einen untrügliches Geschick für gute Situationskomik, die durch den knappen, lakonischen Stil sprachlich noch verstärkt wird. Insbesondere die oft schrägen Vergleiche verleihen dem Text eine derb-witzige Note: "Ich trank einen Schluck Kaffee. Er schmeckte, als wäre er einer der Leichen aus dem Arsch geflossen." Oder: "Das einzige, was noch weiter unten war als ich, war eine Leiche." Sicher kein Buch von weltliterarischem Rang, aber ein herrlich absurdes Leservergnügen, ähnlich einem Brenner-Krimi von Wolf Haas.

Montag, 14. April 2025

Ror Wolf: Pilzer und Pelzer (1967)

Drei Jahre nach Ror Wolfs Debut mit Fortsetzung des Berichts setzt Pilzer und Pelzer das narrative Verfahren konsequent fort, ja greift das serielle Prinzip der Fortsetzung bereits im Untertitel auf, der "Eine Abenteuerserie" verspricht. Das klingt nach Kioskroman, nach einem Trivialgenre, das Ror Wolf zwar lustvoll bedient, aber keineswegs erfüllt. Wer eine Geschichte mit einem simpel gestrickten, nachvollziehbaren Spannungsbogen erwartet, der liegt hier sicherlich falsch, denn der Autor setzt alles daran, Erzählkonventionen auf Schritt und Tritt zu sabotieren, etwa durch mutwillig eingestreute Satzanweisungen: "Punkt neuer Abschnitt". Dabei geschieht eigentlich ungeheuer viel in dem Roman, nur verbleibt das Meiste in Ansätzen stecken, findet nur andeutungsweise oder gar keine Erwähnung, weil es der Erzähler als bekannt voraussetzt oder nicht der Rede wert hält. Eine Poetik des Vagen und Ungefähren durchzieht diese Prosa, die dadurch ihren eigenen Reiz entfaltet und eine Spannung erzeugt, die nicht in der Handlung, sondern im obskuren Erzählverfahren selbst begründet liegt, das Erwartungen weckt, die ständig unerfüllt unterlaufen werden. 

Es beginnt schon mit dem Titel: Pilzer und Pelzer. Am Ende des Romans weiss man weder, wer die beiden sind, noch ob es sie überhaupt gibt - oder doch nur eingebildete Geschöpfe sind. Für den Erzähler sind sie kaum voneinander zu unterscheiden und er zweifelt mitunter an ihrer Existenz. Am Schluss verlieren sie sich - nach einem epischen Boxkampf im hohen Norden - "in die weisse knisternde Landschaft" aus ewigem Schnee. Neben dem Duo Pilzer und Pelzer sind da noch die Witwe, der Kapitän und der Matrose sowie weitere Figuren, die wie in einem Namedropping genannt werden. Sie alle tauchen eher wie Schemen auf denn als wirkliche Figuren. Es sind narrative Pappkameraden, mit denen der Erzähler so willkürlich verfahren kann, wie mit allem, was ihm unter die schreibenden Finger gerät. Es hat somit wenig Sinn, mehr noch ist es unmöglich, die Handlung des Romans, soweit überhaupt davon die Rede zu sein kann, wiederzugeben. Stattdessen soll versucht werden, auf ein paar Besonderheiten dieser Prosa hinzuweisen, welche die Lektüre zum Ereignis machen, das sich nicht inhaltlich begründen lässt.

Es handelt sich um ein grossartiges Antinarrativ, das irgendwo in der Tradition von Laurence Sterne und seinem Tristam Shandy zu verorten ist. Während dort allerdings Tristram nie richtig dazu kommt, seine Lebensgeschichte zu schildern, weil er ständig auf alles abschweift, was ihm in den Sinn kommt, und sich daher die Erzählung von selbst aufzuheben beginnt, resultiert derselbe Effekt bei Ror Wolf aus einer Technik der narrativen Diffusion, der den "Gang der Ereignisse" oder den jeweiligen "Fall" ins Unbestimmte auflöst, so dass er vor den Augen des Lesers verschwimmt. Stets wird zwar mit den Stilmitteln des Abenteuerromans operiert und spielt ironisch mit Floskeln der Spannungserzeugung, die meistens jedoch im luftleeren Raum hängen bleiben. Auf die Spitze getrieben an Stellen wie dieser: "Ich sah auf die Uhr, elf Uhr, es ist etwas passiert, sagte ich, ich nahm mein Notizbuch und schrieb: elf Uhr, es ist etwas passiert. Klar und deutlich." Was aber passiert ist, erfahren die Leser nie. Der Abschnitt endet auch mit dem relativierenden Kommentar: "doch ich glaube, das war nicht einmal das Problem des Tages."

Stets ist "es", "etwas" oder "vielleicht etwas Derartiges" im Gange, ohne dass es näher erläutert oder ausgeführt würde. Entweder weil es wie hier gänzlich ausgeklammert wird oder weil der Erzähler nur vage Andeutungen gibt. Ein Kapitel beginnt zum Beispiel: "Ich habe von einem Wachsen gesprochen, es ist also so, dass etwas wächst, während ich schreibe und weiterschreibe, aus den Ritzen und Fugen heraus [...]" Und fährt dann fort dieses "etwas" näher zu umschreiben, das durch den Beschreibungsexzess keineswegs fassbarer, nur umso undeutlicher wird: "[...] aufgeblasen jawohl spaltig aufklaffend fleischig mit Ritzen und Zipfeln aufspringend spitz an salzigen Orten buschigen Hängen Gruben und Pfützen Geröll wüsten Plätzen zum Küchengebrauch vielleicht Juli August graugrün mit klebrigen Haaren [...]" usw. Über eine Seite lang reihen sich scheinbar zusammenhangslose Worte aneinander, so dass dieses "etwas" zum reinen Sprachereignis wird. Es stellt sich ein Wahrnehmungseffekt wie bei einem Wimmelbild ein: Vor lauter Details bleibt alles diffus.

Diese Poetik des unbestimmten "Etwas" ist charakteristisch für den gesamten Text. Insofern kommt dem Kapitel, das schlicht mit "Etwas" überschrieben ist, einen besonderen poetologischen Stellenwert zu. Dort wird ebenfalls ein Wuchern beschrieben, das die Witwe wie eine Art Ektoplasma befällt: "Plötzlich aus dem geöffneten Mund etwas pflanzartig etwas keimweiss herauskriechend und weiterwachsen mit unerhörter Geschwindigkeit." Dieses "etwas" mutiert zu "filzigen Pilzfadengestrüppen" und es droht ferner, das "pelzig entgegenwüchse". Dass hier die Namen der beiden vermeintlichen Protagonisten Pilzer und Pelzer anklingen, lässt aufhorchen. Sind Pilzer und Pelzer nichts anderes als die Allegorie der sich zersetzenden Textstruktur, parasitäre Elemente sprachlicher Wucherung und Metastasen? Immerhin lassen sich ihre Namen auch als die personifizierten postmodernen Konzepte des Rhizoms (Deleuze/Guattari), der Wurzelflechten von Pilzen, und der Greffologie (Derrida), zu Deutsch auch Pfropfen oder Pelzen, verstehen.

Der Text Pilzer und Pelzer pfropft bzw. pelzt sich wie ein parasitärer Pilz auf das Trivialgenre des Abenteuerromans, um es rhizomatisch auszuhöhlen. Damit gleicht das narrative Verfahren den beigefügten Collagen, die aus alten Kupferstichen ebensolcher Unterhaltungsliteratur zu surrealen Kombinationen montiert sind. Diese stehen dabei nur in losem Bezug zum Text; gewisse motivische Übereinstimmungen bleiben erkennbar, ohne aber direkt miteinander zu korrespondieren. Die Collagen fungieren nicht als Illustrationen des Text. Vielmehr scheint es sich eher umgekehrt zu verhalten, als hätte sich der Autor von diesem Bildern in freier Assoziation anregen lassen und gewisse Elemente übernommen, um wenigstens ansatzweise über ein Handlungsgerüst zu verfügen, natürlich nur um es sofort wieder zu unterlaufen: "und mit einem Mal Ruhe sonst nichts zu berichten im Grunde wollte ich etwas anderes erzählen".

Sonntag, 6. April 2025

Kurt Schwitters: Franz Müllers Drahtfrühling (1919/20)

Bleiben wir beim Nonsens: Franz Müllers Drahtfrühling ist neben Anna Blume der wohl bekannteste Dada-Text von Kurt Schwitters, halb Manifest halb skurrile Geschichte, in der übrigens besagte Anna Blume auch einen Auftritt hat. Ursprünglich kündigte Schwitters das Vorhaben als der grosse Liebesroman der Anna Blume an. Daraus ist jedoch nichts geworden, falls die Ansage jemals ernst gemeint und nicht lediglich eine dadaistische Blague war. Was heute vorliegt sind verschiedene Fragmente aus dem Werkkomplex um den Drahtfrühling, wobei wiederum offen bleibt, wie intendiert dieser Fragmentcharakter ist. Bei einem Text, der- sich fortlaufend selbst dementiert, in sich schon Elemente des Zerfalls und der Uneinheitlichkeit enthält, etwa durch diverse Einschübe und Neueinsätze, gehört das Fragmentarische wesentlich zur Ästhetik dazu. So lässt der Autor zum Beispiel mitten in der Erzählung zusammenhanglos "ein selbstverfasstes Gedicht" folgen, nur um danach "wieder" mit dem "Anfang dieser Geschichte" zu beginnen.

Das ist nur ein markantes Beispiel für viele weitere Formen der erzähllogischen Verweigerung, die typisch für den Dadaismus und seine Antitexte ist. So heisst es programmatisch in der eingeschobenen Rede von Alve Bäsenstiel: "Durch den Dadaismus gelangen wir zum Stil, weil uns dada die ganze erhabene Stillosigkeit unserer Zeit so recht 'lieb' und eindringlich zeigt." Ein weiteres Merkmal sind scheinbar parenthetisch eingestreute, absurde Werbeslogans (die Bezeichnung "Dada" selbst leitet sich von einer damals geläufigen Seifenmarke ab): "Revon in Familienflaschen à 2,50 M.", "Bei rheumatischen Zahnschmerzen und Kopfweh genügen meist 2-3 Revontabletten, und zwar auf den Bauch." Revon? Das ist der halbe Städtename von Hannover rückwärts gelesen und zugleich auch der Schauplatz der Geschichte. Schwitters liebt es, Namen rückwärts zu lesen, etwa A-N-N-A, die von hinten wie von vorn gleich klingt, oder P-R-A, Hans Arp, mit dem zusammen Schwitters Ideen für den Text entwarf. Arp wird einmal sogar als "Chronist" erwähnt.

Hannover also. Dort fanden 1919 wie überall in Deutschland nach der Novemberrevolution Streiks und Aufstände statt, auf den er Untertitel der Erzählung offenbar anspielt: "Ursachen und Beginn der grossen glorreichen Revolution in Revon". Ausgelöst wird diese durch einen stumm und unbeweglich dastehenden Mann, der - das ist ein zeitgeschichtlicher Wink - einmal als "Bolschewik" verdächtigt wird. Doch der Mann löst nicht als politischer Akteur ein öffentliches Ärgernis aus, sondern einzig und allein deshalb, weil er bloss dasteht, gerade nichts unternimmt, sich weder rührt und auch keine Fragen beantwortet. Das provoziert einem Menschenauflauf, der sich schliesslich zu einem Tumult ausweitet, bei dem Kinder zerquetscht und Leute totgetreten werden, nachdem Alves Bäsenstiel, auch das eine bekannte Figur Schwitters, in einer Brandrede die Meute gegen den stehenden Mann aufgebracht hat. Wie sich später herausstellt, handelt es sich bei dem Mann um Franz Müller, die Personifikation von Schwitters Merzkunst, da Müller wie eine "wandelnde Merz-Plastik" aussieht, gestopft und geflickt und mit Draht umspannt. Sein Name ist Programm: Müller besteht aus Müll und er ernährt sich von Müll auf Basis einer bestimmten "Müller- oder Mülldiät".

Die Geschichte lässt sich somit auch als Allegorie auf das Unverständnis lesen, das die Hannoveraner seiner Merzkunst entgegenbrachten. Und nicht Wenige haben damals wohl auch die Geschichte selbst als Müll bezeichnet, weil sie aus inkohärenten Ein- oder vielmehr Abfällen zusammengeflickt ist, aus erzählökonomisch unnötigen Wiederholungen, unsinnigen Sätzen, die sich zuweilen grammatisch zersetzen und zu echtem Sprachmüll mutieren: "Schreck wühlte Augenlichter zischen Eingeweide. Der Polizist lächelte einen lakierten Apfel." Das ist Nonsenspoesie vom Feinsten und vor allem ein hochkomischer Text, der an etlichen Stellen vorwegnimmt, was Helge Schneiders schrägen Humor ausmacht: ein Spiel mit sprachlichen Unzulänglichkeiten, kalkulierten Missverständnissen, Aneinandervorbei-Reden und hanebüchenen Dialogen. Meisterhaft vorgeführt im zweiten Kapitel, das die Debatte im Revoner Parlament parodiert, wie mit Kurt Müller umzugehen sei. Hier führt Schwitters die oftmals politischen Leerformalen ad absurdum und macht somit deutlich, dass literarischer Nonsens oftmals eine, wenn nicht die adäquate Reaktion auf eine sinnlos gewordene Welt darstellt.

Dienstag, 1. April 2025

Jiří Kolář: Die Weisheiten des Herrn April (1961)

Der tschechische Aktivist und Künstler Jiří Kolář ist hierzulande kaum dem Namen nach bekannt, und wenn dann vorwiegend für seine - stets auch politisch lesbaren - Collagen unterschiedlichster Art und Materialien, die er in eigenständige Subtechniken wie Magrittagen, Chiasmagen, Muchlagen, Grumlagen, Decollagen oder Ventillagen weiterentwickelte. Vor seiner künstlerischen Laufbahn jedoch kannte Kolář auch eine literarische Phase, in der u.a. sein Poem Die Leber des Prometheus entstanden ist, für das er in den Jahren 1952/53 ins Gefängnis musste, weil es eine Generalkritik an allen totalitären Systemen unternimmt. Quasi an der Wende zum bildnerischen Schaffen entstand mit Die Weisheiten des Herrn April ein letztes literarisches Werk, das sich nahtlos in die Tradition der grossen Nonsens-Dichtungen reiht. Der Einfluss von Dadaismus und Surrealismus sind darin ebenso erkennbar wie die Motivik der verkehrten Welt sowie weitere volkstümliche Formen von Ulk und höherem (studentischem) Blödsinn.

Der Name "April" ist dabei Programm: Es ist der Launemonat, an dessen Erstem es überall Brauch ist, Unsinn in die Welt zu setzen. Und das machen die meist kurzen, die Länge eines Witzes selten übersteigenden Geschichten unentwegt. Sie entziehen sich hartnäckig jedem vernünftigen Sinn, sind deswegen aber noch lange nicht sinnfrei. Keinesfalls handelt es sich, wie man angesichts des Namens, vielleicht erwarten könnte, um klassische Aprilscherze, die zum Ziel haben, die Leserschaft hinters Licht zu führen. Dazu stellen die geschilderten Inhalte ihre Unmöglichkeit in geradezu übertriebener Weise aus. Die Verfahren der Sinnunterwanderung sind mannigfach: das Wörtlichnehmen von Ausdrücken und Redewendungen, Verkehrung ins Gegenteil (Bart, der beim Schneiden nicht kürzer wird, sondern wächst; Ofen, der eisige Kälte verbreitet, sobald man einheizt), Kombination von Widersächlichem ("Polarneger"), verquere Kausalitäten (die Sonne, die sich nach dem Hahnenkrähen ausrichtet), Absurditäten (die Geschichte des Herings, dem das Wasser abgewöhnt wurde und deshalb jämmerlich ertrank) usw.

Insgesamt erzeugen die einzelnen Texte eine Art Traumlogik, in der alle rationalen Gesetz ausser Kraft gesetzt sind. Das Buch gliedert sich in vier Teile. Der erste enthält skurrile Geschichten, die sich als Erinnerung an Kindheit und Jugend des Herrn April präsentieren; der zweite Teil enthält Ratschläge des Herrn April, die Märchenmotive und Redewendungen aufgreifen und sie in die Tat umsetzen, indem ihre übertragene Bedeutung im Wortsinn genommen wird, so dass die Sprache tatsächlich bewirkt, was sie behauptet (das Wort "platt" z.B. tatsächlich platt macht); der dritte Teil enthält absurde Tiergeschichten, spielt also mit dem Genre der Fabel, wobei auch eher merkwürdige Spezies wie die "Zeitungsente" vorkommen; im vierten Teil schliesslich sind verschiedene Einfälle untergebracht, die eher sprachspielerischer Natur sind und verschiedene gegenläufige Textverfahren erproben. Zum Beispiel die syntaktische Vertauschung von Worten ("Broten Sie sich ein Stück Schneid ab!") oder ein Brief, der allen Regeln der Höflichkeit widerspricht, die lautmalerische Verwendung von Satzzeichen, oder eine Speisekarte mit allerhand Unkulinarischem, das aber genauso verlockend klingt.

Dass Kolář neben den dargebotenen Absurditäten auch traditionelle Genres wie Märchen und Fabeln aufgreift, ist durchaus stimmig, besitzen sie doch eine heimliche Affinität zum Nonsens. Sprechende Tiere sind an sich schon eine Unmöglichkeit und viele Märchen warten ebenso mit unlogischen Elementen auf. Allen voran zum Beispiel das Märchen vom süssen Brei, das der Autor namentlich aufgreift und es noch einen Dreh absurder gestaltet. Auch das "Tischlein deck dich" oder der "Knüppel aus dem Sack" werden anzitiert und das aus den Schildbürgerstreichen bekannte Örtchen "Schilda" wird erwähnt, wo "unzählige Leute wohnen, die den Verstand verloren haben". Hier gewinnt der gesamte Unsinn eine kritische Komponente, was bei einem politischen Autor wie Kolář nicht verwunderlich ist. Die verkehrte Welt spiegelt immer auch eine aus den Fugen geratene Wirklichkeit. Der fröhlich zelebrierte Unsinn steht sinnbildlich für die Kapitulation der Vernunft. Der Nonsens ist somit stets doppelt konnotiert: einerseits kritisiert er die irrigen Zustände, andererseits bildet er auch ein Refugium für einen Geist, der sich dem herrschenden Irrsinn durch die Flucht in den Unsinn entziehen will.

Ein Schlüsseltext, wenn man so will, da er sich als poetologische Selbstaussage lesen lässt, findet sich relativ am Schluss des Bandes und heisst ironisch "Der kluge Kopf". Denn die hier in einem Frage- und Antwortspiel ausgebreitete Klugheitslehre ist nicht weniger verrückt als die restlichen Texte. So lautet die Antwort auf die Frage "Was ist Geschicklichkeit? - Die Grillen, die man im Kopf hat, zirpen zu lehren." Der kluge Kopf steckt also voller Grillen, hat viele wunderliche und sonderbare Einfälle, aber keine vernünftigen Ideen, und manchmal kommt er sogar abhanden: "Was ist Pech? - Sich einen neuen Hut kaufen und dann aus nichtigem Grund seinen Kopf zu verlieren." Die Pointe ergibt sich, wenn man die Redewendung von der Kopflosigkeit wörtlich nimmt - ein übrigens in der surrealistischen Kunst verbreitetes Motiv, wenn man etwa an René Magrittes Gemälde von anonymen Herren in Anzügen denkt, wo der Kopf vom Hut getrennt oder ganz verschwunden ist. Ohne Kopf, keinen Sinn. Und selbstverständlich wird auch diese Frage nach dem fehlenden Sinn gestellt - und beantwortet: "Was ist sinnlos? - einen Pumpenarm unter der Achsel zu kitzeln und den Mond aus dem Brunnen ziehen zu wollen".

Am Ende dreht Herr April der Leserschaft eine lange Nase.

Dienstag, 25. März 2025

Christian Kracht: 1979 (2001)

Und gleich nochmals Kracht, weil es so Spass macht: In nur 180 Seiten, nein, nicht um die Welt, sondern vom revolutionären Teheran in ein chinesisches Umerziehungslager. Dort endet die Geschichte für den Ich-Erzähler. Scheinbar zufrieden quittiert er im letzten Satz: "Ich war ein guter Gefangener. Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen." Wie hier die komplette Selbstaufgabe gleich vierfach mit dem stolzen Personalpronomen "Ich" eingeleitet wird, ist in seiner Widersprüchlichkeit nicht nur erzähltechnisch brillant, sondern gehört wesentlich zum subtilen Irritationspotential dieser Prosa dazu. Mit derselben emotionslosen Distanz wie seine Inhaftierung schildert das erzählende Ich die Ereignisse, die in das Lager geführt haben.

Alles beginnt Anfang 1979 in Teheran am Vorabend der Revolution: Der Erzähler besucht mit Christopher, seinem total abgefuckten Freund, eine dekadente illegale Party mit dubiosen Szeneleuten, die mit Orgon-Akkumulatoren sexuelle Erregung suchen und sich im anliegenden Haschwäldchen verlustieren. Während Christopher sich mit Koks und Alkohol vollpumpt, gelangt der Erzähler zur Erkenntnis, dass es mit ihrer Beziehung vorbei ist, mehr noch, dass es nie eine richtige Beziehung war, da er sich nur mit dem brillanten Zyniker, der Christopher einmal war, "geschmückt" habe. Ihn ereilt diese Erkenntnis parallel zur Begegnung mit einem gewissen Mavrocordato, der drohende, orakelhafte Prognosen ausstellt, im Erzähler aber auch eine Art Erlöserfigur erblickt: "Sie sind rein, Sie sind ein offenes Gefäss, wie der Kelch Christi [...] Sie sind - wide open."

In derselben Nacht erliegt der schon länger dahinsiechende Christopher (es ist von Blasenbildung an den Beinen die Rede) in einem abgewrackten Hospital an einer Überdosis und gleichzeitig bricht die islamischen Revolution unter Chomeini bricht. Der Erzähler irrt durch die Strassen und trifft scheinbar zufällig wieder auf Mavrocordato, der Teil des revolutionären Widerstands ist. Von ihm wird er auf eine seltsame, metaphysische Mission geschickt. Er soll zum Mount Meru, dem heiligen Berg Kailasch, Zentrum des Universums im Tibet pilgern und diesen im Uhrzeigersinn umkreisen, um durch diese Form des gehenden "Gebets" zum Weltfrieden beizutragen. Bei der Umrundung, die ihm als "perfekte Lebensaufgabe" erscheint, freundet er sich mit einer Gruppe von Pilgern an. Sie werden jedoch von chinesischen Offizieren aufgegriffen und als vermeintlich russische Spione in ein Arbeitslager gesteckt. 

Das Buch endet mit der Schilderung des Lagerlebens, dem sich der Erzähler trotz der unmenschlichen Bedingungen fügt, ja es sogar als Erlösung zu empfinden scheint. Man fragt sich sogar, ob sich der Erzähler über den Ernst der Lage wirklich bewusst ist - oder ob es für ihn keinen nennenswerten Unterschied macht, wenn er sich wie anfänglich auf einer Party bewegt, an der er sich unwohl fühlt. Die Realitätsverklärung kommt nachgerade zynisch zum Ausdruck, als der Gefangene sich freut, aufgrund des Nahrungsentzugs "endlich seriously abzunehmen". Der eingestreute Anglizismus unterstreicht nur seine Blasiertheit. Auch die sogenannte "Selbstkritik", d.h. die maoistische Indoktrinierung, nimmt er gleichgültig hin wie einen Partysmalltalk. Ein in seiner betont gleichgültigen Erzählhaltung unheimliches Buch, was zugleich seine Stärke ist.

Was will uns der Autor mit dieser Anti-Selbstfindungsreise vor Augen führen? Kritik an der Wohlstandsverwahrlosung? Kann die Jeunesse dorée das einzige Glück nur noch im Straflager finden, weil hier die existenzielle Leere mit Sinn aufgefüllt wird? Oder Sozialkritik? Das Lager als selbstverschuldetes Schicksal für politische Indifferenz und Flucht in eine Konsumwelt? Oder einmal mehr bei Kracht die hyperironische Inszenierung des Eskapismus, sei es nun an einer Untergrund-Party oder im Lager? "War waren verschwunden, es gab uns nicht mehr, wir hatten uns aufgelöst", heisst es kurz vor Schluss. Nota bene: Auflösung, nicht Erlösung.

Samstag, 22. März 2025

Christian Kracht: Air (2025)

Vorsicht Schlaumeier-Literatur! 

... Auf der Meta-Ebene ist es dann doch wieder ein raffiniertes Buch. Bei der Lektüre ist man zunächst eher enttäuscht, allzu glatt und belanglos wirkt die erzählte Geschichte auf den ersten Blick. Das mag mit ein Grund sein, weshalb die Kritik hin- und her gerissen ist zwischen Euphorie und Enttäuschung, abhängig davon, ob sie auf der Erzählebene verhaftet bleibt oder den Sprung ins Metaversum mitmacht. Der Unmut macht sich mit aus dem Roman selbst entlehnten Metaphern breit: Er sei nur "heisse Luft" bzw. ein "laues Lüftchen" oder die Story sei zu "flach". Doch dahinter steckt Kalkül. Eine Besonderheit von Krachts Prosa war es seither, dass sie mit Oberflächeneffekten operiert und doch eine Bedeutungstiefe suggeriert. So auch hier, im neusten Buch des Autors. Alles wirkt poliert und geschliffen, makellose Sätze reihen sich aneinander, die Geschichte entfaltet sich, trotz der Parallelführung zweier Erzählstränge, klar und geradlinig bis zur Banalität, und doch sind da allerlei Anspielungen und kleine Irritationen eingestreut, die zum Deuteln einladen. Und das macht wohl die Faszinationskraft von Krachts Roman aus, ähnlich wie eine Skulptur von Jeff Koons: Auf den ersten Blick möchte man ihn als puren Kitsch zurückweisen, auf den zweiten Blick erkennt man das Konzept dahinter. 

Hinzu kommt, dass bei Kracht stets auch eine sprachlich kaum fassbare Ironie mitschwingt. Etwa zu Beginn des Romans, als über mehrere Seiten die Wohnung des Schweizer Inneneinrichters Paul mit einem (ebenfalls ironisch?) überbordenden Adjektivreichtum, wie ihn heutzutage jeder Lektor aus dem Manuskript streichen würde, beschrieben wird: Ein Hipster-Klischee reiht sich an das nächste, vom akkurat arrangierten Designmagazin-Stapel bis hin zur umbrafarbenen Schale mit drei Walnüssen und einigen Muscheln, so dass sich die Szenerie nicht anders als parodistisch liest. Und zwar als Parodie auf den schlichten, minimalistischen Skandinavischen Stil, für den das Magazin "Kūki" wirbt, das da so säuberlich aufgestapelt liegt. An diesem Punkt wird es schon kompliziert bzw. bedeutungsschwanger: Das Magazin stammt zwar aus Norwegen, trägt aber einen japanischen Titel, der "Luft" bedeutet. Aha! Wie der Titel des Romans auf Englisch: "Air". Damit ist das Grundmotiv schon mehrschichtig gelegt. Der sich sowohl im Titel als auch im Programm des Magazins ausgedrückte Wunsch nach Leichtigkeit, Leere, Reinheit ja sogar Transzendenz bis hin zur Autolyse - sich in "Luft" auflösen. Der Wunsch nach Eskapismus und Gesellschaftsflucht artikuliert sich schon immer in Krachts Romanen. Er zieht sich als basso continuo durch sein Werk.

'Sich in Luft auflösen': Darin besteht just auch die Absicht des "sich selbst absichtlich irrelevant machenden Dekorationsmagazins" Kūki. Und darin besteht auch das Schicksal des Dekorateurs Paul, der, kurz nachdem er sich wünschte, "er könne in der Zeit verschwinden", tatsächlich - durch einen Stromschlag? eine Datenverschiebung in der Cloud? sicher jedenfalls durch einen Erzähltrick des Autors - in eine Fantasiewelt katapultiert wird, die ganz seiner puristischen Ästhetik entspricht. Er landet in einem vortechnischen Zeitalter mit karger Landschaft, Steinen, Eisflächen, unendlichen Weiten und Bewohnern, die eine karge Lebensweise pflegen. Er bewundert die "einfachen Gegenstände" dieser Welt: "Es war alles echt." Zugleich mutet sie aber wie ein Fantasy-Rollenspiel an: Zusammen mit einem Mädchen namens Ildr muss Paul, der nur noch "der Fremde" genannt wird, gegen Soldaten des bösen Herzogs kämpfen, die aus unbekanntem Grund hinter ihm her sind. Scheinbar ebenso grundlos ziehen beide zum Eismeer, weil sich Paul da eine unbekannte Erlösung verspricht. Im Verlauf ihrer Reise vermeint Paul, dass die Welt immer flacher werde, bis er schliesslich als Zauberer Merlin in das Bild von James Archer eingeht, das bei ihm in der Wohnung hing.

Wie die beiden Erzählebenen Pauls Design-Wirklichkeit und die scheinbar 'echte' Welt des Mittelalters, 'logisch' zusammenhängen, lässt mehrere Deutungen offen. Es könnte alles nur ein Traum sein (Paul schläft zu Beginn auf dem Sofa). Es könnte eine Nahtoderfahrung oder Jenseitsreise ein (Paul lehnt sich gerade gegen die Datenbank als der Stromschlag erfolgt, auch der Kūki-Herausgeber Cohen nimmt eine Überdosis Schlafmittel, bevor er in der anderen Welt erwacht. Ausserdem wird als intertextueller Fingerzeig flüchtig auf die Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren verwiesen). Oder es handelt sich um eine Computersimulation (darauf deutet der Fantasy-Charakter hin wie auch gewisse Unstimmigkeiten, die wie eine Fehlprogrammierung anmuten, wenn etwa im tiefen Mittelalter eine Schraube auftaucht: "Eigentlich dürfte es solche Dinge hier nicht geben."). Handelt es sich um Gesellschaftskritik (Stichwort "Verflachung der Welt", eine Parodie auf die Flat-Earth-Bewegung) oder um eine antizivilistische Propaganda (Stichwort: das Neuheidentum, den Rodismus, für den der Kūki-Herausgeber Cohen zu schwärmen beginnt)?Wie immer kokettiert Kracht auch hier mit fragwürdig reaktionären oder sogar faschistoiden Ideologien.

Für jede dieser Deutungen sind Hinweise verstreut. Alles ist vom Autor bereits mitgedacht. Schlaumeier-Literatur eben. Wie subtil der Roman bis ins Detail gearbeitet ist, zeigt bereits der erste Satz, der zweifelsohne als einer der ersten besten Sätze in die Literaturgeschichte eingehen wird: "Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich." An sich ist diese direkte Zurücknahme schon grandios, die Raffinesse der Formulierung erweist sich aber erst in der Doppelsemantik dieser Verneinung, die sich sowohl auf die Sorgen als auch auf das Leben beziehen kann. Zunächst ist man geneigt, den Satz so zu verstehen, dass das Leben nicht wirklich voller Sorgen sei (not really). Doch - und Kracht hat das bei seiner Lesung an der Buchvernissage durch die Doppelbetonung eigens vordemonstriert - könnte man den Satz auch so verstehen, dass das Leben selbst nicht wirklich sei (not real). Und damit dringt man bereits tief in die Grundproblematik des Romans vor, der die Frage aufwirft, auf welchen Realitätsebene er sich bewegt. Erwähnt der Autor dann noch schelmisch in einem Interview, seine Tochter habe ihn darauf hingewiesen, dass im Titel auch die Artificial Intelligence (AIr) steckt, legt er geschickt den Köder, den Roman als Parabel auf ein durch und durch künstliches, computergeneriertes Leben zu lesen.

Schliesslich steht genau in der Mitte und damit im architektonischen Zentrum des Romans das gigantische Rechenzentrum, in dem das gesamte Gedächtnis der Menschheit gespeichert ist. Auch da operiert Kracht wieder mit einer bivalenten Formulierung: "Dort wohne im Grund die Cloud". Auch das lässt sich zweifach verstehen: Einerseits topologisch: tief unten, wobei hier zusätzlich mit der Paradoxie gespielt wird, das sich die Cloud (Wolke) auf dem Grund befindet. Eine ähnlich verkehrte Welt, wie die simulierte in der Parallelgeschichte, wo die Sonne im Westen untergeht. Andererseits lässt sich das 'im Grunde' auch rein hypothetisch verstehen: eigentlich, aber 'nicht wirklich'? Die Frage nach der Wirklichkeit durchzieht den Roman von Anbeginn: Bereits Pauls Tätigkeit als Inneneinrichter ist darauf angelegt, mit den "inszenierten Wohnräumen" eine falsche Realität vorzutäuschen, um bei den Kunden Sehnsüchte zu wecken. Dasselbe gilt für Träume, von denen einmal gesagt wird, durch sie könne man "in andere Welten" gehen. Und schliesslich wird auch die Möglichkeit diskutiert, ob die Persönlichkeit nach der Auflösung des Körpers virtuell weiterleben könne. Der Computer biete somit eine "Hoffnung", "die immateriell ist" - genauso wie Pauls Innenausstattungen.

"Hoffnung", so hat Paul nicht von ungefähr auch sein Ruderboot getauft, das dann in der Parallelwelt wieder auftaucht. Auf diese Weise so lassen sich ad infinitum weitere Bezüge herstellen, die der Autor sorgsam gestreut hat, ohne dass sich damit der Text näher erschliessen würde. Das Deutungsangebot bleibt offen. Und der Autor lacht sich ins Fäustchen. Schlaumeier!