Es weihnachtet bald, deshalb gönnt sich das Lesefrüchtchen einen ganz besonderen Leckerbissen. Es startet mit einem literarischen Grossereignis, nein, nicht mit dem jüngsten Literaturnobelpreis, der kommt als nächstes dran, sondern mit dem neuen Roman von Thomas Pynchon, der mehrfach als Kandidat für den Nobelpreis gehandelt wurde und ihn sicher auch verdient hätte. Viel weiss man über den inkognito lebenden Autor nicht, ausser dass er mit Jahrgang 1937 mittlerweile über 90 Jahre als sein muss. Umso erstaunlicher und aufregender ist diese unerwartete Neuerscheinung, die wie aus dem Nichts apportiert erscheint. Pynchon könnte wohl schreiben, was er will, das Lesefrüchtchen wäre so oder so begeistert. Doch der Autor bleibt sich mit seinem neuen Roman absolut treu: Es liegt ein waschechter Pynchon vor, sogar einer hoch Zwei, ein Pynchon auf Speed. Und das will was heissen. Ja, manchmal wirkt dieser stellenweise fast schon wie eine Parodie auf sich selbst oder so als liefe eine künstliche Intelligenz aus dem Ruder. Mafiöse Käsesyndikate, transsilvanische Vampir-Nazis, melonenförmige Luftschiffe, Teleportation-Kriminalität, Fetischisten geschmackloser Lampen, illegale Dauer-Motorradrennen, Theremin-Discos, Terminator-Golems und vieles mehr muss in Pynchons Paraversum in Kauf genommen werden.
Insbesondere in der zweiten, im faschistischen Osteuropa spielenden Hälfte des Romans scheint Pynchon den Bogen zuweilen gezielt zu überspannen, getreu dem vorangestellten Motto von Bela Lugosi: "Übernatürlich, vielleicht. Unsinn ... vielleicht nicht." Das Zitat stammt aus dem Gruselfilm Die schwarze Katze von 1934 und gibt geographisch, historisch und atmosphärisch die Richtung vor. Wie im Film so bestimmt auch im Buch ein paranormales Ungarn das Setting. Dorthin ist der leicht dämliche Detektiv Hicks McTaggert "schanghait" (208) worden, wie er es selbst im Matrosenslang ausdrückt, wo das Wort so viel Zwangsrekrutierung bedeutet. Der ehemalige Berufsschläger arbeitet für die Detektivagentur Unamalgamated Ops (kurz: U-Ops) in Milwaukee, wo die Dinge für gewohnt ruhiger laufen als in Chicago. Doch ein Bombenattentat bringt Unruhe in die Stadt. Der Reo Speedwagon von Stuffy Keegan fliegt in die Luft und Stuffy selbst löst sich scheinbar in Luft auf. Auch Daphne Airmont, die Tochter von Bruno Airmont, berüchtigt als der Al Capone des Käses, der mit seinem verstrahlten "Radio-Cheez" (114) ein Vermögen anhäufte, scheint spurlos verschwunden.
Hicks erhält den Auftrag, die Käseerbin ausfindig zu machen. Ein delikates Unterfangen, da Hicks ihr in früheren Jahren einmal bei der Flucht aus der "Kinderklapsmühle" (136) behilflich war und sie in einem Reservat der Ojibwas untergebracht hat. Er ist somit nicht ganz unbefangen in der Angelegenheit. Mehr noch: Ein verrückter Hutmacher hat ihm ausserdem den Floh ins Ohr gesetzt, er sei durch Windigo-Magie schicksalhaft mit Daphne verstrickt. Deshalb zögert er zunächst, sich auf die Spur der Käseerbin zu setzen. Stattdessen geht er dem Bombenanschlag auf Stuffy nach und wird selbst Opfer eines absurden Attentats: Zwei als Wichtel verkleidete Typen legen ihm am heiterhellen Tag auf offener Strasse ein tickendes Paket mit einer Zeitbombe in die Hand, das Hicks nur in letzter Sekunde im Loch eines Eisfischers auf dem zugefrorenen See versenken kann. Diese Episode ist erzähltechnisch eine Meisterleistung in der für Pynchon typischen Slapstick-Prosa. Inhaltlich bildet sie den Ausschlag, weshalb Hicks nach Osteuropa zwangsversetzt wird, wo angeblich nicht nur der Käse-Mafiosi Bruno Airmont untergetaucht ist, sondern sich auch seine Tochter Daphne aufhält.
Hier nehmen die Ereignisse dann Überhand. Begleitet von zwei englischen Spionen, Alf und Pips, die im Auftrag von Interpol mit Sitz in Wien unterwegs sind, setzt er sich Daphne Airmont auf die Fersen, die - wie sich herausstellt - wiederum auf der Suche ihres Liebhabers Hop Wingdale, dem jüdischen Frontmann der Klezmopolitans, der sich aufgrund des aufkommenden Antisemitismus aus dem Staub gemacht hat. Auch Ace Lomax, der Stellvertreter des Käsemafiosi Bruno Airmont, ist auf der Flucht, da er den Auftrag verweigert hat, Wingdale aus dem Verkehr zu schaffen. Beide treffen sich auf der "Trans-Trianon-2000"-Route, die innerhalb der "Schattenzone zwischen dem alten und neuen, konzentrischen Ungarn" (307) verläuft und ein illegales Paradies für waghalsige Motorradrennen ist. Sie führt aber auch durch das "Gebiet der Vlad-Jungs" (329), einer vampirischen Nazi-Gang, die es auf Wingdale abgesehen hat. Doch in letzter Sekunde kommt der Golem Zdenek zu Hilfe, eine Art Mensch-Maschine, deren linker Arm aus einem "Maschinengewehr" besteht "mit in seine Schulter eingebautem Magazin" (344). Pynchon bietet das gesamte Figurenarsenal des osteuropäischen wie des real-europäischen Horrors auf - sogar Hitler geistert als "deutscher Charlie Chaplin" (!) hintergründig herum (44) -, so dass Hicks als Protagonist sukzessive der Narration entgleitet.
Es ist eine Prosa der subtilen Überforderung: Die Lesenden werden bombardiert mit dem stupenden Welt- und Fachwissen des Autors, der lustvoll Fakt und Fiktion durcheinanderwirbelt, mit Fachbegriffen, mit rasanten, aberwitzigen Dialogen, abrupten Handlungsverläufen und unvermittelt eingeführten Figuren, so dass es einige Aufmerksamkeit abverlangt, der sich stets komplizierenden Story zu folgen. Man fragt sich bisweilen, worauf diese wilde Verfolgungsjagd hinauslaufen soll. Dass der Autor am Ende die Kurve doch noch kriegt und ein verschollenes U-Boot in ein klandestines Exilamerika einfahren lässt, grenzt fast an ein narratives Wunder. Und dann diese Sätze! Sätze von einer Sperrigkeit und epischen Breite, wie man sie heutzutage selten mehr liest. In jedem dieser Sätze steckt ein kleiner erzählerischer Mikrokosmos. Das alles ist ein grosses Lesevergnügen und ein grosser Klamauk. Wohl in keinem anderen Roman erlaubt sich Pynchon so viel Narrenfreiheit, was sich auch an der ironischen Distanz zeigt, mit dem der Erzähler teilweise ziemlich süffisant dem Geschehen und den Figuren entgegentritt. Erkennbar an etlichen Passagen, die im Konjunktiv schildern, wie eine Figur hätte reagieren sollen, es aber unterlässt oder gar nicht dazu kommt.
Thomas Pynchon: Schattennummer. Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren. Reinbek: Rowohlt, 2025.