Donnerstag, 12. September 2024

Carl Laszlo: Ferien am Waldsee (1955)

Carl Laszlo liess sich sein Schicksal nie anmerken. In Basel war der gebürtige Ungar eine markante Erscheinung. Psychoanalytiker, Kunsthändler mit hedonistischen Zügen, stets eine Zigarre im Mundwinkel, ein gutes Glas Wein in der Hand und auch anderen Exzessen nicht abhold. Mit dem ebenfalls in Basel wohnhaften Albert Hofmann, dem Entdecker der LSD-Substanz, war er gut befreundet. Ausserdem unterhielt er rege Kontakte zur amerikanischen Kunst- und Literaturszene, zu Beat-Poeten und Popart-Künstlern, die er in seinem Panderma-Verlag oder in seiner Zeitschrift Radar portierte. Dass er als junger Mann mehrere Konzentrationslager (Auschwitz, Sachsenhausen, Buchenwald) durch- und überlebte, weiss man nur, weil er darüber ein Buch geschrieben hat.

Ein Opfer des Holocaust wollte er nie sein. Er sah sich vielmehr als Sieger, weil er nicht nur die Schrecken des KZ überstanden hat, sondern sich davon auch nicht traumatisieren liess. Es erfüllt ihn sichtlich mit Stolz, dass er seinem Schicksal die Stirn geboten und dabei nicht eingenickt ist. In die allgemeine Opferhaltung will er deshalb nicht einstimmen, da er sich als Überlebender nicht als Leidtragender betrachtet. Trotzdem hat er ein Buch über seine Lagererfahrung geschrieben, das sich allerdings radikal von der üblichen Holocaust-Literatur unterscheidet. Das liegt vor allem an der schonungslosen Darstellung und dem Verzicht auf jegliche Form der Klage und Larmoyanz. Laszlo schildert den Gang in die Hölle mit der Unerschrockenheit eines Dante - mit dem einzigen Unterschied, das hier eine reale Hölle beschrieben wird.

Ein Beispiel für den lakonischen Ton, mit dem die Ungeheuerlichkeit in Worte gefasst wird, ist dieser Satz: "Die Mittagssonne strahlte, es gab einen französischen Häftling weniger und eine namenlose Leiche mehr." Das wirkt in seiner unbeteiligten, geradezu emotionslosen Verknappung heftiger als die grellste Ausmalung aller Gräuel. Laszlo verzichtet darauf, das Unbeschreibliche in eine drastische Sprache zu kleiden, auch Pathos ist ihm fremd. Stattdessen neigt er zu Ironie und Sarkasmus, zu harten Schnitten, die deutlich machen sollen, wie - nicht weshalb: die Sinnfrage erweist sich selbst als sinnlos - das Unmenschliche im Alltag stattfinden konnte: "alles war still, man hörte nur das Knistern von Stroh und das schwere Atmen einiger Sterbender. Eine friedliche Stimmung, wie in einem Friedhof, verbreitete sich".

Diese Schnitt-Technik erfährt im Kapitel "Romeo und Julia" ihren Kulminationspunkt. Shakespeare-Zitate werden bruchlos einer Massenvernichtungsszene gegenübergestellt. Das erzählende Ich sitzt mit seinem Buch am Boden des Lagerabortes und registriert, während es liest, wie Mitinsassen in die Gaskammern ge- und die Leichen schliesslich ins Krematorium überführt werden. Der rauchende Schlott des Krematoriums ragt permanent über dem Geschehen, er ragt quasi als Mahnmal auch aus dem Buch heraus. Auch da bleibt die Erzählstimme beim bitteren Sarkasmus. Über den Tod eines "Zigeunermädchens" heisst es: "Sie hat wie Millionen andere kein Grab, winzige Teilchen ihrer Asche atmen wir täglich mit der Luft ein."

Wie schon erwähnt: Laszlo meidet die Sinnfrage, weil sie seiner Ansicht nach falsch gestellt ist: "Es kann ja nicht alles sinnlos und umsonst sein, etwas muss es ja bedeuten können, was wir hier erleben, irgendeinen Sinn wird dieser grosse Untergang in sich bergen", reflektiert das erzählende Ich einmal, doch sein Alter Ego mit dem sprechenden Namen Alieno erwidert resigniert (oder eher abgeklärt?): "Wie schön wäre es, wenn es einen Sinn gäbe." Für Laszlo ist deshalb auch klar, dass kein Buch - und sei es noch so authentisch und präzise - die ganze Wahrheit über den Holocaust darstellen könnte, dazu entziehen sich die Vorgänge in den KZ zu sehr jeglicher Vorstellungskraft. Das objektiv "richtige" Buch, das darüber geschrieben werden könnte, wäre eben so sinnlos wie die erlebte Realität. Sein einziger Inhalt: "Leichen, Leichen, Leichen, Leichen ..."

Wie erklärt sich aber der Titel: Ferien am Waldsee? Man könnte das vorschnell für einen Zynismus des Autors halten, tatsächlich ist es ein, allerdings ganz anders gearteter, Zynismus der Nazis, wie Laszlo gleich einleitend erklärt: Angehörige erhielten gelegentlich vorgedruckte Postkarten mit einer knappen nichtssagenden Botschaft und eigenhändiger Unterschrift von deportierten Familienmitgliedern; als Aufenthaltsort wies der Stempel nicht das KZ aus, sondern - als perfides Täuschungsmanöver - den fingierten Ort: "am Waldsee".






Montag, 2. September 2024

Andy Warhol: Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück (1975)

Der Titel ist natürlich mit einem Augenzwinkern zu verstehen. Eine Philosophie im eigentlichen Sinn ist bei der Popart-Ikone nicht zu erwarten. Vielmehr versammelt das auf dem Höhepunkt seiner Karriere entstandene Buch - 1962 gründete Warhol seine Factory und er kreierte seine berühmte Siebdruck-Serie der Campell's Soup Cans - eine Fülle von Ansichten und Lebensweisheiten aus der New Yorker Party- und Glamour-Szene über Schönheit, Sex, Geld, Kleider, Kunst, Ruhm, Erfolg und was die High Society sonst noch so beschäftigt. Wie auch in seinen Kunstwerken so orientiert sich Warhol auch in seinen Maximen und Reflexionen an den gesellschaftlichen Oberflächenphänomenen, um sie subtil zu subvertieren. Dabei sind seine Ansichten zuweilen erhellend, zuweilen belanglos, immer aber unkonventionell, mitunter provokant.

Ein paar willkürlich ausgewählte Kostproben: "Der höchste Preis, den du für die Liebe zahlen musst, ist, dass du jemanden um dich hast und nicht für dich allein sein kannst, was selbstverständlich besser ist." "Ein biederes Erscheinungsbild finde ich am besten. Wenn ich nicht so 'schlecht' aussehen wollte, dann würde ich 'bieder' aussehen wollen. Das fände ich auch gut." "Bei mir geht's ran, wenn's abgeht, ab ins Bett und Schluss. Das ist der grosse Moment, auf den ich immer warte." "Ich mag Geld an der Wand. Nehmen wir an, du wolltest ein Bild für 200 000 Dollar kaufen. Ich meine, dass du das Geld an eine Schnur binden und an die Wand hängen solltest." "Ein Künstler ist jemand, der Sachen produziert, die keiner haben muss." "In deinem Schrank sollte alles mit einem Verfallsdatum versehen sein, so wie bei Milch und Butter und Illustrierten und Zeitungen, und wenn das Verfallsdatum überschritten ist, sollte man das Ding wegwerfen."

Die im Titel erwähnten Buchstaben A und B suggerieren keine enzyklopädische Ordnung, vielmehr stehen sie für die beiden Gesprächspartner A und B, wobei letzterer eine Art sokratische Hebammenfigur darstellt, die A (i.e. Andy) seine Alltagsphilosopheme entlockt. Es handelt sich also um eine platonischer Dialog im Popart-Gewand, der zuweilen Nonsens-Dialoge vorwegnimmt, wie man sie später aus Tarantino-Filmen kennt, wenn sich zwei Figuren in Nebensächlichkeiten verbeissen, wie hier etwa anhand der Frage nach der Körpergrösse von Ursula Andress: Wo A behauptet sie sei ein Zwerg, bestreitet das B vehement, wobei diverse spitzfindige Argumente aus dem Köcher gezogen werden (z.B. die mutmassliche Höhe der Absätze unter den Schlaghosen), die jedem antiken Sophisten Freude gemacht hätten.

Höhepunkt des 'philosophischen' Rundumschlags sind zweifellos die Beschreibung von Warhols Manie, alles Erdenkliche die Toilette hinunterzuspülen bei gleichzeitiger Angstlust, dass es die Toilette verstopfen und wieder zum Vorschein kommen könne, sowie das Bekenntnis seines Unterhosen-Fetisch. Der Unterhosenkauf besitzt für Warhol eine nachgerade existenzielle Komponente: "Ich meine, ich würde lieber zusehen, wie einer seine Unterhosen kauft, als dass ich ein Buch lesen wollte, das er geschrieben hat." Seine Menschenkenntnis leitet Warhol auch hier vom Konsumgut ab, wobei es sich bei der Unterhose paradoxerweise um Intimwäsche und Warenartikel zugleich handelt, das Innere und Äussere also quasi dialektisch vermittelt.

Als wahrhaft philosophisch erweisen sich Warhols Reflexionen schliesslich dort, wo er ein Alltags-Mysterium thematisiert, das bis heute wohl alle auch regelmässig beschäftigt, auf das er aber ebenso wenig eine befriedigende Antwort finden: Weshalb verschwinden beim Waschen ständig Socken in der Maschine? Und wohin verschwinden sie? "Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger kann ich an die abnehmende Zahl glauben. Das ist einfach nicht zu glauben!" Theoretisch zu ergründen offenbar auch nicht. Es bleibt ein Stück unbewältigte Metaphysik.