Sonntag, 22. Oktober 2023

Stefano Benni: Terra! (1983)

Bennis Debütroman ist ein schräges, vollkommen durchgeknalltes Weltraum-Abenteuer. Wer nun einen astreinen Science-Fiction-Roman erwartet, liegt falsch, denn die 'Space Opera' dient eigentlich nur als Kulisse für eine grossangelegte Parodie und Gesellschaftssatire. Der Hauptplot ist denn auch rasch nacherzählt. Die Erde im Jahr 2157 wird von drei Grossmächten regiert: der Sinneuropäischen Föderation, dem Aramerussischen Reich (einem Zusammenschluss von arabischen Scheichs mit den Russen und den Amerikanern) und dem japanischen Militärreich SAM. Alle drei sind auf der Suche nach einem neuen bewohnbaren Planeten, da die Erde nach sechs Atomkriegen von einer dicken Eisschicht überzogen und an der Oberfläche nicht mehr bewohnbar ist. Die Bevölkerung lebt in gigantischen Stollenanlagen unter der Erde. 

Als nun eine Meldung des Weltraum-Wikingers Van Cram die Regierung der Sinneuropäischen Föderation erreicht, er habe einen natürlichen Planeten entdeckt, schickt diese sofort eine Sondereinheit mit dem Raumschiff Proteus Tien ins All, um Van Crams Entdeckung nachzuspüren. Zugleich heften sich auch Raumfahrt-Delegationen der anderen beiden Supermächte an ihre Fersen. Der Kampf um die Eroberung von "Erde 2" beginnt. Während die Trupps im All ein Abenteuer nach dem anderen bestehen, läuft auf der Erde die geheime Ausgrabung einer alten Inka-Stätte, weil man dort eine verborgene Energiequelle vermutet. Am Ende steuert die Proteus in ein schwarzes Loch und verschwindet, derweil man bei der Ausgrabung auf eine Art Batterie stösst, die solare Energie in so starker Konzentration enthält, das alle Probleme auf der Erde gelöst sind.

Es stellt sich heraus - und das ist eine Parodie auf die Theorien über urzeitlichen Astronauten des Schweizer Ufologen Erich von Däniken -, dass diese Batterie von der Besatzung der Proteus angelegt wurde, als sie durch das schwarze Loch, das sich als Zeitloch erwies, in die Vergangenheit katapultiert wurden und auf der Erde bei den Inkas landeten. Den Planeten, den Van Cram entdeckt zu haben glaubte, als auch er durch das Zeitloch flog, war nichts anderes als die frühere Erde. Den Inkas erschienen diese Besucher aus dem Weltraum als Ausserirdische oder Götter, die ausserdem über ein überlegenes technisches Wissen verfügten. Unter ihrer Anleitung konstruierten sie den Energietank und verwahrten das Geheimnis für die Zukunft. Die Erdlinge im Jahr 2157 haben somit entdeckt, was ihnen die Zeitreisenden in der Vergangenheit auf der Erde hinterlassen haben. 

Doch dieser Handlungsstrang ist, wie gesagt, nurmehr das Gerüst für eine wilde Weltraum-Burleske, die ähnlich gelagerte Unternehmen wie Mel Brooks Komödie Spaceballs von 1987 vorwegnimmt und in vielfacher Hinsicht auch überbietet. Der Erfindungsreichtum, die Fabulierfreude und die überbordende Phantasietätigkeit des Autors sind berauschend. Alles wird in grellen Farben ausgemalt, in comicartige Episoden gegossen und in übertriebener Weise dargestellt. Vor allem die unzähligen Binnengeschichten, in die der Roman zerfällt, sind kleine Meisterstücke in Parodie und Satire. Im Grunde ist der gesamte Roman eine Anthologie solcher humorvoll gesellschaftskritischer Miniaturen, mit denen sich der Autor später auch einen Namen machte, u.a. mit dem Erzählband Es gibt keine schlechten Menschen, sagte der Bär, wenn sie gut zubereitet sind (ital. Original: L'ultima lacrima, 1996).

In diesen Binnensatiren beweist der Autor, dass er tatsächlich alle Register beherrscht: vom Liebesbrief über Märchen, Mythen und Sagen bis hin zu Predigten, wissenschaftlichen Referaten, Stegreif-Reden, Fussball-Livekommentaren, Werbesendungen, und sogar Speisekarten wird nichts ausgelassen und alles durch den parodistischen Fleischwolf gedreht. Auch literarische Anspielungen gibt es zuhauf. Besonders schön der Auftritt des Astronauten Kook an Bord der Proteus Tien: "Kook stieg die Treppen zu dem kleinen Beobachtungsturm des Raumschiffs hinauf, in den Händen ein Seifenbecken, einen Spiegel und ein Rasiermesser." So beginnt auch der wohl berühmteste Roman des 20. Jahrhunderts - Ulysses von James Joyce, mit dem Unterschied freilich, dass dort Buck Mulligan mit den genannten Utensilien auf einen Turm steigt.

Es wäre witzlos, die komischen Erzählstücke irgendwie paraphrasieren zu wollen, denn der Witz, vor allem eben der Sprachwitz, entzündet sich am besten bei der Lektüre des Romans selbst. In dieser Hinsicht hat auch die Übersetzerin Pieke Biermann ein grosses Verdienst, wie sie die Sprachspielereien aus dem Italienischen ins Deutsche gebracht oder im Deutschen nachgebildet hat, wobei ihr mitunter originäre Wortspielerein im Deutschen gelingen, die das italienische Original nicht aufweisen kann, wie etwa, wenn von der "heiligen Dreifeistigkeit - Sahne, Stips und Schokolade" die Rede ist. Eine besondere Sprachleistung markiert ausserdem der Besuch bei der Weltraum-Hexe, die alle Sprachen des Alls in einem fürchterlichen Kauderwelsch gleichzeitig spricht, was schliesslich auch auf andere abfährt, so dass "all of uns speak geschnitzelt et zungensaladesk".

Angesicht der Energieproblematik handelt es sich bei Terra! um ein hochaktuelles Buch und kann ein Stück weit auch als Climate Fiction gelesen werden. Hier zeigt sich Benni in seiner politischen Haltung sehr deutlich: Es sind die skrupellosen und raffgierigen Machthaber, welche die irdische Biosphäre durch Kapitalismus, Krieg und Technologie kaputtmachen. Ad absurdum bringt diese Dynamik die Aussage eines Scheichs auf der Krisenkonferenz: "Die militärtechnologische Zivilisation des dritten Jahrtausends braucht diese Energie, und das genügt. Wenn wir diese Erde retten sollen, dann müssen wir sie zerstören ..."




Montag, 16. Oktober 2023

Antonio Tabucchi: Erklärt Pereira (1994)

"Es gibt kein richtiges Leben im falschen." So lautet eine berühmte Sentenz aus Adornos Minima Moralia, von Robert Gernhardt auch parodiert als: "Es gibt kein richtiges Leben im valschen." Diese Maxime trifft auf den Antihelden aus Tabucchis Roman zu, den portugiesischen Feuilletonredaktor Pereira der neu gegründeten Tageszeitung Lisboa. Er lebt scheinbar unbeteiligt und konform unter der Salazar-Diktatur, doch verspürt er - isoliert in seiner Redaktionskammer - innerlich ein Unbehagen, das immer deutlicher zutage tritt, als er zufällig mit einer Gruppe von Widerstandskämpfern in Kontakt gerät.

Pereira ist Witwer, kinderlos, ernährt sich bevorzugt von Kräuteromeletten und gezuckerter Limonade und ist entsprechend "fett und herzkrank" - letzteres in doppeltem Sinne: Tatsächlich leidet er an Herzproblemen, doch diese sind quasi nur die kardiologische Realmetapher für seine seelischen Nöte, seinen Herzensleiden rein psychologischer Natur. Er lebt nicht das Leben, das er eigentlich möchte. Nicht zufällig wird ihn während eines Kuraufenthalts ein Kardiologe, der gleichzeitig auch als Psychiater ausgebildet ist, auf den leib-seelischen Zusammenhang aufmerksam machen und ihm die Augen öffnen.

Pereiras Problem besteht darin, dass seit dem Tod seiner Frau nurmehr in der Vergangenheit lebt: Die Weltgeschichte zieht unbemerkt an ihm vorbei. Obwohl er seit dreissig Jahren für die Zeitung schreibt, ist er über das Zeitgeschehen gänzlich uniformiert und verlässt sich lediglich darauf, was ihm der Kellner seines Stammlokals berichtet. Das einzige, was ihn beschäftigt ist die Literatur; er flüchtet sich nachgerade aus der Realität in die Welt der französischen Romanciers, bevorzugt Schriftsteller der Renouveau catholique, wie François Mauriac oder Georges Bernanos. Daneben beschäftigt sich Pereira vorwiegend mit dem Tod, so dass er irgendwann selbst auf den "groteske[n] Gedanken" kommt, dass "er vielleicht gar nicht lebte, sondern schon so gut wie tot war."

So treffen wir den Protagonisten zu Beginn des Romans an, wie er über den Tod sinniert, genauer über die Frage der Auferstehung. Pereira glaubt an die Auferstehung der Seele, ist hingegen überzeugt, "das ganze Fleisch, das Fett, das seine Seele umschloss, das würde nicht auferstehen". Pereira hat sich einen Fettmantel, einen Körperpanzer angefressen, hinter dem sein Ich genauso wie sein krankes Herz verborgen liegt. Das Fett umhüllt und schützt ihn vor der Gegenwart, es hindert aber auch sein Herz daran, sich frei zu bekennen. Erst durch eine schicksalshafte Begegnung beginnt sich die unter der Korpulenz erstickte Herzensstimme allmählich wieder zu regen.

In einer katholischen Avantgardezeitschrift wird der Redakteur auf die neue Dissertation eines gewissen Monteiro Rossi aufmerksam, die den Tod behandelt, was natürlich Pereira Interesse weckt, weshalb er umgehend beschliesst, den Verfasser zu kontaktieren. Obwohl dieser umstandslos eingesteht, dass ihn das Leben viel mehr als der Tod interessiere und er bei der Dissertation auch grösstenteils bei anderen Philosophen abgeschrieben habe, will Pereira dem jungen Menschen eine Chance geben und ihn als Praktikant im Feuilleton engagieren. Als promovierter Todesexperte bekommt er die Aufgabe, im Voraus Nachrufe auf berühmte Schriftsteller zu verfassen.

Doch das Resultat fällt zunächst nicht nach Pereiras Vorstellungen aus. Anstelle seiner katholischen Favoriten, wählt Rossi stets dezidiert politisch engagierte Schriftsteller wie García Lorca oder Filippo Marinetti, so dass seine Nekrologe weniger eine Würdigung des Lebenswerks als richtiggehende Pamphlete sind, die - wie sich später herausstellt - auf das Konto von Rossis rothaariger Freundin Marta gehen. Sowohl ihre Haarfarbe wie auch sein Name deuten überdeutlich an, dass es sich um Revolutionäre handelt, die von Portugal aus die Freiheitskämpfer im Spanischen Bürgerkrieg unterstützen. Entsprechend wird Lorca als "Umstürzler" gelobt, während Marinetti als Gewalttäter Kriegstreiber verurteilt wird.

Pereira versucht Rossi klarzumachen, dass er solche Artikel mit politischer Schlagseite in einer 'unabhängigen' Tageszeitung keinesfalls veröffentlichen könne, macht ihm zugleich aber auch Mut, auf die "Stimme des Herzens" zu hören, obwohl er ihm lieber den gegenteiligen Rat erteilen möchte, da er weiss: wenn man "mit dem Herzen schreiben" will, wird man "grosse Schwierigkeiten" bekommen. Doch Rossi ist ihm sympathisch: In dem jungen Mann erkennt er einen Teil von ihm selbst, sein jüngeres Ich bzw. seinen nie geborenen Sohn, den sich Pereira so sehr gewünscht hatte. Entgegen allen Vernunftgründen unterstützt Pereira daher den jungen Rebellen finanziell, trifft sich mit ihm zu konspirativen Treffen im Café Orquídea und hilft sogar, einen Cousin Rossis heimlich unterzubringen.

Pereira ist eine ambivalente Figur: Zunächst scheint sie vollkommen naiv und weltfremd, doch unterschwellig entfaltet sie ein subversives Potential, indem Pereira etwa seine Übersetzungen fürs Feuilleton so wählt, dass sie für den aufmerksamen Leser eine "Flaschenpost", also eine versteckte Botschaft, enthalten. So endet eine Erzählung La dernière classe von Alphonse Daudet mit dem freiheitlichen Ausruf: "Vive la France!" Eine Provokation im diktatorischen Portugal. Balzacs Erzählung Honorine wiederum wählt Pereira, weil er sie als Bedürfnis zu Reue versteht, die er auch selber verspürt: "ich sehne mich nach Reue", sagt der zum Kardiologen. Es sei "eine merkwürdige Empfindung, die sich am Rande meiner Persönlichkeit befindet".

Diese Denkfigur einer "Reue auf 'periphere' Art" gibt Situation eines verdrängten (wahren) Lebens im falschen sinnfällig wieder. Für Pereira gilt sie in doppelter Hinsicht: Zum einen biographisch, weil er sein Leben verpasste und sich nicht nach seinem Wunsch selbst verwirklichen konnte, zum anderen politisch, weil er in einem Land lebt, das die freie Meinungsäusserung systematisch unterdrückt. Pereira gehen in dem Moment die Augen auf, als er erfährt, dass sich seine Lieblingsschriftsteller Bernanos und Mauriac sich beide politisch äusserten und gegen den Faschismus protestierten. Eine Schlüsselstelle diesbezüglich bildet der Besuch bei Pater António, Pereiras Vertrauensmann und Beichtvater, der ihn unverblümt mit der Wahrheit konfrontiert.

Pater António nimmt kein Blatt vor den Mund. Über Paul Claudel, der sich auf die Seiten des Faschismus schlug und eine hetzerische Propagandaschrift verfasste, sagt er: "dieser Claudel ist ein Hurensohn, genau das ist er, und es tut mir leid, dass ich diese Worte an einem heiligen Ort aussprechen muss, denn ich würde sie dir gern in aller Öffentlichkeit sagen". Doch das geht eben nicht, weil der öffentliche Diskurs kontrolliert und zensiert wird, was Pereira bald selbst erfahren muss, als ihm der Herausgeber der Zeitung künftig untersagt französische Schriftsteller zu bringen und ihm stattdessen traditionelle portugiesische Dichter aufdrängt. Der Raum, dessen was man sagen darf, wird immer enger, und die Situation spitzt sich dramatisch zu.

Eines Abends als Pereira für Rossi zum Abschied Spaghetti kochen will, wird seine Wohnung von Schergen der Geheimpolizei gestürmt. Im Dialog mit dem Rädelsführer entpuppt sich die ganze Perfidie und Niedertracht der Diktatur. Nach dem Wortduell mit Pereira wird die Truppe handgreiflich. Zwei Schläger verpassen Rossi, der die Drangsalierung tapfer erduldet, einen dermassen brutalen 'Denkzettel', dass er auf der Stelle stirbt. Pereira, entsetzt über das wahre Gesicht der portugiesischen Regierung, beschliesst am nächsten Tag einen Artikel in die Zeitung zu schmuggeln mit dem Titel "Journalist ermordet". Darin beschreibt er nicht nur den Tathergang, sondern klagt auch die Täter an.

Am Ende setzt sich Pereira mit einem gefälschten Pass nach Frankreich ab. Dass ihm die Flucht glückt, lässt der Untertitel des Romans vermuten, der da lautet: "Eine Zeugenaussage". Kein Verhör, wie wenn er geschnappt und wieder dem Regime in die Hände gefallen wäre, sondern die Aussage eines Augenzeugen, der aus der Diktatur entkommen ist und nun Zeugnis ablegt. "Pereira erklärt" fungiert deshalb als Inquit-Formel, welche den Text nicht nur eröffnet, sondern ihn insgesamt rhythmisiert. Es handelt sich demnach nicht um einen Bericht aus erster Hand, der in Ich-Form gehalten wäre, sondern um eine Art protokollarische Mitschrift, die festhält, wie Pereira den Hergang der Ereignisse schildert und sie (nicht nur sich) zu erklären versucht.

Ein sehr fein gearbeiteter Roman, bei dem jeder Dialog, jede intertextuelle Anspielung genau gesetzt ist. Der Text liest sich leicht, ist zuweilen fast humoristisch erzählt, und neigt vielleicht hie und da ein wenig zum Kitsch, weil an der Oberfläche doch allzu viel geglättet wird. 

Sonntag, 15. Oktober 2023

Luigi Malerba: Die fliegenden Steine (1992)

Es gibt eine Fotografie von Man Ray, La Prière von 1930, die eine betende Frau von hinten zeigt: tief kniend und vornübergebeugt, den nackten Podex direkt in Richtung Kamera gestreckt, lediglich ihre Hände bedecken die Scham. Ein ähnliches Bild bietet sich auch dem Ich-Erzähler von Malerbas Roman. Dort ist es eine direkte Aufforderung der betenden Muslimin zum Geschlechtsverkehr. Sie heisst Ayse und vertritt die Ansicht, dass der Koran im Unterschied zur katholischen Kirche die Sexualität nicht unterdrücke oder verurteile, sondern die freie Liebe zwischen Mann und Frau sogar während dem Gebet zulasse. Bei den Katholiken hingegen sei Sex nur als Sünde denkbar, was allerdings oft "die Lust" nur noch "steigert": "Die Sodomie wäre längst nicht so weit verbreitet, wenn es die Sünde nicht gäbe." Und auch die Päderastie, müsste man angesichts der systemischen Fälle von klerikalem Kindsmissbrauch hinzufügen. Die katholische Kirche hat sich ihr eigenes perverses Lustprinzip geschaffen.

Doch wir kommen vom Thema ab. Der Ich-Erzähler gerät angesichts von Ayses wohlgeformten Hinterteil jedenfalls auf andere Gedanken. Sie erinnern ihn an die Interpretationstheorie des Doppel- und des Einzelhinterns, die ein Kunstkritiker einst entwickelt hatte, und leitet daraus seine eigene Theorie der Wahrheit ab: Es gibt die einfachen Wahrheiten, aber es gibt auch doppelte, ambigue Wahrheiten: "Der Einzelhintern interessiert mich nicht, ich bin für die zwei Seiten der Wahrheit." An dieses Diktum sollte man sich erinnern, wenn der Erzähler an anderer Stelle bekennt, er wolle nichts als "die nackte Wahrheit" berichten. Was landläufig als übertragener Ausdruck für absolute Offenheit gilt, muss hier offensichtlich im Wortsinn verstanden werden: als die zwei nackten Pobacken, welche die doppelte Wahrheit verkörpern. Eine Wahrheit, welche die Dinge nicht nur gleichsam von hinten, sondern auch in ihrer Bivalenz, oder gar Ambivalenz, betrachtet. Tatsächlich wimmelt es in dem Roman nur so von "sinnlosen Symmetrien": von Wiederholungen, Parallelereignissen und Doppelexistenzen, auf die sich der Erzähler (vergebens) einen Reim zu machen versucht. "Klarheit" sei für ihn jedenfalls "kein Merkmal der Wahrheit".

Erzählt wird der Roman aus der Perspektive von Ovidio Romer, einem renommierten Maler - reales Vorbild für die Figur war der mit Malerba befreundete Künstler Fabrizio Clerici -, der sich in die Schweiz zurückzieht, in sein "Schweizer Versteck", um dort "verschanzt" in einem Hotel seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Er hofft, dass ihm "der neutrale Charakter der Schweiz helfen würde", um über sein Leben und dessen Rätsel nachzudenken, das (wie sich herausstellt) vor allem in einem unverarbeiteten Vater-Trauma besteht. Seit sich Ovidio erinnern kann, war der Vater mehrheitlich abwesend. Wie er sukzessive erfährt, führte er ein Doppelleben mit einer anderen Frau, mit der er nach dem Bankrott seiner Firma in Vancouver untertaucht. Durch eine unwahrscheinliche Verkettung von Zufällen erscheint in einer ägyptischen Zeitung jedoch die Falschmeldung, der Vater sei im Nil ertrunken. Ovidio, der während dem Zweiten Weltkrieg in Ägypten im Aktivdienst war, ist frappiert, denn sein General erzählte ihm damals exakt dieselbe Geschichte über seinen Vater. (Eine Parallele findet diese Koinzidenz in der Szene, als Ovidio in der Kartei der Gefallenen seinen eigenen Namen entdeckt.)

Um der Sache auf die Spur zu gehen, reist Ovidio nach Luxor, trifft dort auf Ayse, die ihm später gesteht, dass sie für die Falschmeldung verantwortlich war, und macht sich gemeinsam mit ihr auf die Suche nach dem verstorbenen Vater. Es versteht sich von selbst, dass die Suche ins Leere führt. Stattdessen entdeckt Ovidio in der Wüste einen grossen Stein mit einem Loch in der Mitte, der haargenau wie eines seiner Gemälde aussieht: "Dieses Bild hatte ich vor fünf Jahren zunächst im Kopf zusammengefügt, und jetzt fand ich es in Wirklichkeit wieder." Für den Künstler, ein weiterer Beweis, dass sich auf der Welt alles wiederholt. Sinnbildlich für diese ewige Wiederkehr steht nicht nur das Gemälde des Steinkreises - wie Clericis Corpus Hermeticum (1972), der im Anhang zum Roman auch abgebildet ist -, sondern auch die Namensinitiale O, mit dem der Vater, selbst Onforio genannt, alle "seine legitimen und legitimierten Söhne brandmarken wollte": Ovidio, Oscar und Oliviero.

Wie sich herausstellt, ist auch Ovidios Jugendfreund Vittorio ein weiterer Abkömmling seines Vaters, der ihn später, als er sich mit dessen Mutter nach Vancouver absetzt, folgerichtig in Oliviero umbenennen wird. Als Jugendliche standen sich die beiden Freunde nahe, ohne zu ahnen, dass sie denselben Mann zum Vater haben. Ovidio fertigt sogar eine Aktzeichnung von Oliviero an, die allerdings Fragment bleibt, weil Oliviero nicht mehr zur zweiten Sitzung erscheint, was eine dauerhafte Kränkung beim Erzähler hinterlässt. Am Ende des Romans begegnen sich die beiden Halbbrüder wieder. Oliviero ist unterdessen im Kunsthandel tätig und so ergibt sich ein Treffen in Vancouver, das jedoch distanziert und unergiebig bleibt. Ein weiteres Treffen kommt nicht mehr zustande. Als späte Vergeltung für die unfertige Aktzeichnung, beschliesst Ovidio, der es seinem Halbbruder überdies nicht verzeihen kann, dass er all die Jahre nie über die neue Identität des Vaters informierte, abschiedslos wieder abzureisen.

Die Beweggründe des Vaters für sein Doppelleben, seinen "Hang zum Versteckspiel, zur Verstellung, zur Verlogenheit, zum Geheimnis" vermag Ovidio so nicht zu ergründen. Er empfindet seine Situation im Schweizer Versteck am Ende deshalb als "Flucht" und als "Niederlage". Aus seinen Aufzeichnungen geht jedoch hervor, dass das Geheimnis des abwesenden Vaters letztlich die Ursache ist, weshalb Ovidio sich in seinen Gemälden in die Leblosigkeit und in die Versteinerung flüchtet, weshalb er Bilder malt, auf denen kaum Körper, sondern nur tote Gegenstände zu sehen sind, welche zwar hyperreal wirken und doch leblos sind, einen "Friedhofsgedanken" zum Ausdruck bringen. Sie sind die ins Bild gebannte "Theologie des Negativen" seines Vaters. Als kleines, an sich sinnloses Signal bleibt dieses Negative sogar an dessen Grabinschrift haften, da der Steinmetz seinem Namen ein überflüssiges O anhängt: Romero statt Romer. Es ist dieser "der Null so ähnliche Vokal", der sowohl die ewige Wiederkehr wie auch das Nichts, das Negative, die Leere, den Verlust und letztlich auch die Sinnlosigkeit symbolisiert. Der Kreis, so belehrt Ovidio einmal seinen Kunstlehrer, ist eine Figur zusammengesetzt aus unendlichen vielen Punkten: aus "Null-Längen".

Malerbas vielschichtiger und komplexer Roman, für den er 1992 den Premio Viareggio erhielt, bietet wesentlich mehr, als in einer knappen, auf die Plotstruktur konzentrierten Zusammenfassung wiedergegeben werden könnte. Der Text zieht ein wirbelndes Beziehungsnetz, in dem sich einzelne Handlungssequenzen oder Motive auf unterschiedliche Weise (mythologisch und historisch) spiegeln, verdoppeln, wiederholen, wie überhaupt die Frage nach dem Abbild-Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit leitend ist. Wer imitiert hier wen? Die Kunst die Natur oder umgekehrt? Oder am Ende die Kunst sich selbst? Am Zenit seiner Karriere beginnt Ovidio seine eigene Malerei "zu fälschen", das heisst, er erfindet keine neuen Bilder mehr, sondern malt stets wieder von Neuem, was sich gut verkaufen lässt, während er heimlich einen komplett anderen, persönlichen und intimen (mehr an der Mutter orientierten) Malstil entwickelt, den er jedoch als "Verrat an [s]einer Malerei" begreift und deshalb verborgen hält. Auch Ovidio flüchtet sich, zumindest in künstlerischer Hinsicht, in ein Doppelleben, bei dem die äussere Erscheinung über die wahre Identität hinwegtäuscht. Gegen aussen reproduziert er nurmehr, was die Leute (in ihm) sehen wollen. Hier gelangt die ewige Wiederholung an ihren zwar merkantil lukrativen, aber kreativ stagnierenden Nullpunkt.

Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit ist ausserdem auch auf der Meta-Ebene des Romans angesiedelt. Malerba weist in einer Nachbemerkung eigens daraufhin, dass Bilder von Farbrizio Clerici die Arbeit an dem Roman zwar angestossen haben, und gewisse Bildbeschreibungen im Roman sind eindeutig als Ekphrasen von Clericis Gemälden erkennbar, dennoch betont Malerba ausdrücklich, "dass die erzählten Umstände in keinerlei Beziehung zu Personen oder Ereignissen aus dem Leben und Werk Fabrizio Clericis stehen". Weshalb referiert der Autor zunächst auf eine ausserliterarische Wirklichkeit, nur um im Anschluss jegliche Bezüge wieder zu dementieren? Dadurch wird die Bezugnahme nicht einfach gelöscht, sondern sie bleibt in merkwürdiger Schwebe bestehen. 

Insgesamt wirkt der Roman verworren und unausgeglichen. Er kann sich nicht entscheiden, ob er Künstler-, Abenteuer- oder Familienroman sein will. Letztlich leidet er auch an symbolischer Überfrachtung, an Bedeutungsüberschuss, der sich nicht schlüssig auflösen lässt. Einzelne Szenen und Reflexionen sind durchaus gelungen und originell, wie der eingangs erwähnte Gebetssex, doch insgesamt fällt der Text auseinander wie der Steinkreis auf Clericis Gemälde Un instate dopo (1978).


Montag, 9. Oktober 2023

Lars Gustafsson: Der Tod eines Bienenzüchters (1978)

Wenn Du einen Brief aus der Klinik bekommst, der möglicherweise ein letale Diagnose enthält, würdest Du ihn öffnen, um Gewissheit zu haben? Ein interessantes Gedankenexperiment. Der Protagonist aus Gustafssons Buch entscheidet sich dagegen.

Dieser fünfte und letzte Teil aus Lars Gustafssons Roman-Pentalogie Risse in der Mauer geht von einer ähnlichen Ausgangslage aus wie die ein Jahr später erschienene Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän von Max Frisch. In beiden Fällen handelt es sich um Aufzeichnungen sozial entfremdeter, sterbender Männer, um Endzeit-Monologe. Während sich bei Frisch ein Rentner namens Geiser in den hintersten Winkel eines Tessiner Bergdorfs zurückzieht, ist es bei Gustafsson der frühpensionierter Lehrer Lars Lennart Westin, von allen nur 'Wiesel' genannt, der im schwedischen Hinterland von Vertrana ein einsiedlerisches Leben führt und sich der Bienenzucht widmet. Beide leben sie alleine und getrennt von der menschlichen Gesellschaft und sehen sich in ihrer Einsamkeit nochmals mit den zentralen Fragen des Lebens und des Menschseins konfrontiert.

Geiser leidet unter fortschreitender Demenz und versucht sein Wissen, das erodiert wie draussen der Erdboden aufgrund heftiger Unwetter, auf unzähligen Zetteln festzuhalten. Westin hingegen laboriert, wie man gleich Zu Beginn erfährt, an einem tödlichen Krebsgeschwür, das ihm zuweilen heftige Schmerzen verursacht, einen tiefen, "weissglühenden" Schmerz. Er selber kennt die Ursache seiner Schmerzen nicht, da er sich weigerte, den Brief vom Krankenhaus mit der Diagnose zu öffnen. Stattdessen bleibt er lieber im Ungewissen und benutzt den Brief als Fidibus für seine Pfeife. Eine letztlich zwar letale, dennoch aber glückliche Entscheidung. Denn Westin hat die "Pause", die ihm vor seinem Tod noch vergönnt war, wie er selber meint, "gut genutzt". Er findet im Kampf mit dem Schmerz immer mehr zu sich selbst, während sich Geiser in seinem Bergdorf immer stärker abhanden kommt. Nicht allein darin liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen den von der Ausgangsidee ähnlichen Texten.

Einen Roman in konventionellen Sinne kann man Der Tod es Bienenzüchters nicht nennen. Er präsentiert sich vielmehr als Nachlass-Konvolut verschiedener Hefte mit verstreuten Einträgen: Es gibt ein gelbes, ein blaues und ein beschädigtes Notizbuch, aus denen der als Herausgeber fungierende Lars Gustafsson in loser Reihenfolge Auszüge unter sprechenden Kapitelüberschriften zusammenstellt. Die Farbterminologie der Notizbücher erinnert an die Diarien eines anderen grossen Schweden: August Strindberg nannte seine (erst postum publizierte) Notizensammlung das 'Blaubuch' und bezeichnete es als die "Synthese seines Lebens". Das gilt nun auch für Westins Aufzeichnungen in besonderem Maße: Angesichts des nahen Todes zieht er nochmals Bilanz über seine Existenz im Persönlichen wie im Allgemeinen. Er übt sich in der ars moriendi, wobei er eine gänzlich neue Praxis für sich reklamiert: "Oder vielleicht ist es eine neue Art des Sterbens, die ich gerade erfinde?" Genau genommen ist es keine Sterbekunst, sondern vielmehr die "Kunst, Schmerzen zu ertragen" - eine Kunstart mithin, "deren Schwierigkeitsgrad so hoch ist, daß es niemanden gibt, der sie ausübt." Außer Westin.

Westin, der zeitlebens zu wenig gewollt hatte, sich zu wenig 'wirklich' fühlte, findet nun im Schmerz zu einer Art ekstatischer Erfahrung, die er einem paradiesischen Zustand gleichsetzt, in dem Lust- und Schmerzempfinden in einander übergehen. Der Schmerz "ist ein Reich, in dem endgültige Wahrheit herrscht." Weil der Schmerz nichts anderes als real ist. In einer an die Akademie von Lagado (aus Gullivers Reisen von Jonathan Swift) angelegten Parabel entwirft Westin die Utopie einer "Welt, in der die Wahrheit herrscht". Die Bewohner dieser Welt kommunizieren nicht mit Sprache oder Symbolen, sondern mit den Gegenständen respektive Handlungen selbst. Sie sagen es nicht, sondern tun es direkt, was sie mitteilen wollen. Zwei Konsequenzen resultieren daraus: Zum einen, sind Lügen nicht möglich, zum anderen bleibt der Horizont dessen, was überhaupt ausgedrückt werden kann, beschränkt. Einen Begriff von 'Welt' kann es in dieser Utopie nicht geben, weil die Welt als solche müsste aufgeboten werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Schmerz: Auch er ist absolut real, echt und ohne Falschheit und entzieht sich letztlich jedem sprachlichen Zugriff.

Hier macht sich der Sprachphilosoph Gustafsson bemerkbar, der - im selben Jahr wie Tod eines Bienenzüchters - über das Thema "Sprache und Lüge" habilitierte und dabei neben Fritz Mauthner und Alexander Bryan Johnson auch Friedrich Nietzsche behandelte. Dessen Einfluss zeigt in einer anderen, weitaus kühneren Utopie in Westins Notizheften. Anders als Nietzsche, dessen Zarathustra den Tod Gottes verkündete, entwirft Westin eine Parabel vom erwachenden Gott. Gott ist nicht tot, er schläft nur 20 Millionen Jahre lang tief und fest in einem fernen Winkel des Universums und kümmert sich nicht um seine Schöpfung, bis eines Tages seltsame Klänge an sein Ohr dringen. Gott wacht auf und bemerkt, dass es sich um Gebete der Menschen handelt. Sofort eilt Gott herbei, hilft den Bedürftigen, sorgt für ewigen Frieden und soziale Gerechtigkeit und liest den Menschen alle heimlichen Wünsche von den Lippen. Mit dem Effekt, dass die ganze Welt in Saus und Braus aufgeht. Es wird fröhlich pokuliert und kopuliert, es herrschen Zustände wie in Sodom und Gomorrha. Der Beweis für die Güte und Allmacht Gottes ist erbracht, jedoch ganz zum Ärger des Klerus und der Kirche, die sich die göttliche Obhut gänzlich anders ausgemalt haben. Weshalb sie das Volk dringend dazu aufrufen, weniger zu beten, damit die katholische Welt nicht noch mehr aus den Fugen gerät.

Wie in der Geschichte des Großinquisitors bei Dostojewski sieht die Kirche ihre Vormachtstellung auch hier durch die Realpräsenz des Göttlichen bedroht - und will es lieber wieder aus dem Weg schaffen. Gustafssons Parabel endet jedoch nicht mit dem Sieg der Kirche, sondern sie mündet wiederum in die Sprachlosigkeit. Die Erfüllung aller Wünsche durch Gott führt zu einem Dasein, "für das keine Worte gab" und es "begann das Sterben der Sprache". Das utopische Ideal einer Welt ohne Lüge und grenzenlosem Glück ist für Gustafsson nur als Bereich jenseits der Sprache denkbar. Das gilt für das Paradies ebenso wie für die göttliche Offenbarung. Wo sich die Sprache dazwischen mischt, da entstehen Missverständnisse und es kommt zu Konflikten. Obwohl Westin seinen Schmerz als einen  Zustand kat exochen erlebt, will er sich ihm doch nicht ergeben, sondern er kämpft täglich dagegen an. Sein Credo lautet: "Wir fangen noch einmal an. Wir geben nicht auf." Er erweist sich dadurch als ein spezieller Typus eines Atheisten: Er negiert nicht Gott, sondern stellt sich ihm als Antithese entgegen: "Wenn es einen Gott gibt, ist es unsere Aufgabe, nein zu sagen." Und Westins nachgelassene Aufzeichnungen stehen unter dem dezidierten Vorsatz, "ein großes, deutliches Nein zu sein".




Freitag, 6. Oktober 2023

Tom Kummer: Blow up (2007)

1996 erscheint in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit Pamela Anderson, das sich deutlich von der Belanglosigkeit gewöhnlicher Star-Gespräche abhebt. Pamela zeigt viel Esprit, spricht ebenso aus dem Nähkästchen und gibt Vertraulichkeiten preis wie sie sich auch zu luziden Selbstanalysen aufschwingt und auch um pointierte Statements nicht verlegen ist. Das Feuilleton ist begeistert. Endlich hat es einer geschafft, das Star-Interview auf eine neues Niveau zu heben und den Promis mehr als nur ein paar Floskeln und Plattitüden zu entlocken. Tom Kummer heisst der Mann der Stunde, der sein Erfolgsrezept bei der Crème-de-la-crème des Showbusiness fortsetzt: Sharon Stone, Bruce Willis, Phil Collins und vielen mehr verhilft dieser Kummer zu den erstaunlichsten Aussagen und Reflexionen ...

... bis vier Jahre später die Blase platzt und Kummer vorgeworfen wird, seine Interviews seien alle nur erstunken und erlogen. Es folgen verschiedene Berichte und Stellungnahmen, die schliesslich dazu führen, dass Kummer seinen Job los wird und auch die Chefredakteure bei der Süddeutschen Zeitung ihre Posten räumen müssen. Eigentlich merkwürdig: Obwohl das Unwahrscheinliche dieser Interviews allen in die Augen stach, hinterfragte man sie nicht, sondern brach in kollektive Begeisterung aus. Der Glaube an die schiere Möglichkeit war stärker als jede kritische Reflexion. Die Grenze zwischen Betrug und Selbstbetrug verläuft hier fliessend. Der ehemalige Tennisprofi Kummer hat mit seinen Fälschungen das System des People-Journalismus selbst an die Wand gespielt. Von den einen deswegen als Genie gefeiert, gilt er in der schreibenden Zunft der Journalisten seither freilich als Verräter.

Kummer selbst hat seine Sichtweise auf diese Episode in dem autobiographischen Bericht Blow up aufgearbeitet. Es ist weniger eine Rechtfertigung als eine Rekonstruktion der Ereignisse, die Kummer zunächst verdrängte. Das Motiv des Vergessens durchzieht den Text von Anbeginn, wo Kummer mittlerweile als Tenniscoach Tomàs in einem Privatclub der High Society untergetaucht - und damit just in einem Milieu angekommen ist, das er in seinen Fake-Interviews nur prätentierte. Im Jonathan Club bei Pacific Palisades verkehren echte Hollywoodgrössen wie Johnny Depp, Scarlett Johanson oder Gwyneth Paltrow. Inmitten dieser Prominenz beschleichen Kummer Gewissenbisse und er beginnt sich der Vergangenheit zu stellen. Mithilfe von Tonband-Aufnahmen, u.a. mit Tapes seines alten Telefonbeantworters, will er seine verschüttete Erinnerung wieder schichtweise freilegen.

Das Buch bietet somit einen interessanten Abriss des frühen Lebenslaufs des Autors und seiner journalistischen Karriere, von den Anfängen bei der Szene-Zeitschrift Tempo bis hin zu seinem Aufstieg als Hollywood-Reporter für die Süddeutsche, stets mit viel name-droping garniert, was wohl unterstreichen soll, dass Kummer dick im Geschäft war, obwohl er sich selbst stets als Randfigur und Aussenseiter wahrnahm, der eher nolens als volens in den Journalismus rutschte und deshalb stets einen scheelen Blick auf diesen wirft. Hier liegt ein interessanter Aspekt des Buchs, da Kummer eine Argumentationsfigur aufbaut, um sich weniger für seine Fake-Interviews zu entschuldigen, sondern ihre Systemnotwendigkeit quasi zu begründen. Da die ganze Presselandschaft nichts anderes als eine Scheinwirklichkeit konstituiert, ist es eigentlich ehrlicher oder zumindest konsequenter, wenn man sich gar nicht mehr an die Wirklichkeit hält.

Dabei verläuft sein Argument in zwei Richtungen: Zum einen verweist Kummer en passant immer wieder auf die Künstlichkeit nicht nur der Gesellschaft, sondern auch des Redaktionshabitus, und spricht den Zeitungen ihren Wahrheitsanspruch ab. Das sei alles nur Augenwischerei oder wie es mit Rekurrenz auf Jean-François Lyotard an einer Stelle heisst: "die Realität als Show". Es fallen Sätze wie: "Wie so oft im Journalismus waren die gesprochenen Worte und die gedruckten Texte zweierlei." Oder: "Jede journalistische Strategie, die darauf abzielt, Authentizität und Objektivität glaubwürdig zu simulieren, ist im Grunde faszinierend und einen Versuch wert. Nur hat es mit der Wahrheit nichts zu tun." Näher an die Wahrheit gelangt man hingegen, so suggeriert es Kummer zwischen den Zeilen, wenn man sie wie er erfindet.

Der zweite Teil von Kummers Argumentationsstruktur streicht deshalb seine schon früh entwickelte Freude am Erfinden von Geschichten hervor. Sich die Realität, die in Kummers Augen ohnehin nicht authentisch zu vermitteln ist, wenigstens zu erschreiben. Bereits während seiner schliesslich gescheiterten Tenniskarriere gelangte er zur Erkenntnis: "Die Wirklichkeit ist enttäuschend. Stattdessen amüsiere dich über den Wirbel, den Du verursachst." Bei seinen ersten Reportagen gewann er ebenso rasch die Gewissheit, "dass man nicht alles mit eigenen Augen erleben musste, um über die sogenannte Wirklichkeit zu schreiben". Was schliesslich dazu führte, wie Kummer schreibt, "dass ich einen Pop- oder Hollywoodstar für eine semifiktive Figur halte - und als solche müsste sie es sich eigentlich gefallen lassen, wenn die Rezeption die Fiktion weiterspinnt". Die Stossrichtung all dieser Statements ist klar: In einer Welt, wo Ansehen und Schein alles zählen, kommt dem Fake letztlich mehr Wahrheitsgehalt zu.

Die Frage bleibt nach der Lektüre, welchen Status nun Kummers Memoiren haben. Fällt da der Vorwurf des Fake auch auf sie zurück? Ein Autor, der so offen zugibt, dass er es mit der Wahrheit nicht allzu genau nimmt, der sich gerne alternative Wirklichkeiten ausdenkt, ist zwangsläufig ein unzuverlässiger Erzähler. ("Tom Kummer, schon der Name klingt erfunden.") Und das obwohl er eine absolut glaubwürdig klingende Prosa schreibt: offen, direkt, persönlich, ehrlich, unverstellt. Kummer versteht es exzellent diese stilistischen Register zu ziehen, damit seine Memoiren authentisch klingen. Ob sie es auch tatsächlich sind, ist - gemessen an den Maximen des Autors - vielleicht gar nicht die entscheidende Frage.


Donnerstag, 5. Oktober 2023

Mike Johansen: Die Reise des gelehrten Doktor Leonardo ... (1932)

Im Jahr 1959 plante der polnische Schriftsteller und Journalist Jerzy Giedroyc, der bis zu seinem Tod die bedeutende Exilzeitschrift Kultura herausgab, eine Anthologie mit Texten von ukrainischen Autoren, die in den 1930er Jahren Opfer des Stalinismus wurden, im Gefängnis landeten oder gar im Gulag umkamen. Als Titel wählte Giedroyc den Namen Rosstriljane widrodschennja, was auf Deutsch unterschiedlich mit 'erschossene Renaissance' (oder 'hingerichtete Wiedergeburt' bzw. 'Regeneration') übersetzt wird. Die Anthologie kam nie zustande, doch der Titel wurde zur feststehenden Bezeichnung für jene Generation ukrainischer Schriftsteller, die den kulturellen Aufbruch und ihr progressives Literaturverständnis mit dem Leben büssten.

Zu dieser Generation gehörte auch der 1985 in Charkiw geborene und 1937 in Kiew ermordete Mike Johansen, dessen Werk dank der Initiative des Münchner Staatsbibliothekars Johannes Queck erstmals im deutschen Sprachraum bekannt wird. Hier zeigt sich der zumindest kulturelle Kollateralnutzen des anhaltenden Ukraine-Kriegs: Es gelangt eine bislang weitgehend unbekannte, weil unbeachtete literarische Landschaft ins Blickfeld. Die Metapher der 'Literaturlandschaft' ist bei Johansen sogar beim Wort zu nehmen, denn wie es im vorangestellten Motto zu seinem Romans heisst, wolle er eine "Landscape-novel", einen "Landschaftsroman", schreiben.

Die Reise des gelehrten Doktor Leonardo und seiner zukünftigen Geliebten, der schönen Alceste, in die slobidische Schweiz - wie der vollständige Titel des Romans lautet - zählt Johannes Queck zu den "Schlüsselwerken der Ukrainischen Avantgarde der 1910er-1930er Jahre". Die im Titel genannten Landschaft, die slobidische Schweiz, existiert nicht wirklich; sie ist eine Phantasielandschaft, die natürlich wieder auf die Realität verweist. Gemeint ist die Region um Johansens Geburtstadt Charkiw, als 'Schweiz' wird sie (in Analogie zur Fränkischen oder Sächsischen Schweiz) deshalb bezeichnet, weil ihre Topographie an den helvetischen Kleinstaat erinnert, wie Alceste im Roman einmal begeistert ausruft:

Hier beginnt die Seenschweiz. Ich habe den Vierwaldstätter See und den Genfer See in jener Schweiz gesehen, die früher die Welt mit Portiers versorgt hat und sie heute mit Toblerone versorgt. Jene Seen sind wunderschön und weitaus größer als diese hier, das Wasser in ihnen ist klar und azurblau.

Doch unter Landschaftsroman versteht Johansen mehr als nur das Genre des nature writing. Er beabsichtigt damit, das Verhältnis herkömmlicher Erzählweisen überhaupt umzukehren. Nicht mehr das Personal, sondern die Landschaft soll die Handlung bestimmen: "Nirgends steht geschrieben, dass ein Autor eines literarischen Werkes sich dazu verpflichtet, lebendige Menschen durch dekorative Landschaften zu führen. Er kann im Gegenteil versuchen und dekorative Menschen durch lebendige und reichhaltige Szenerien zu führen." Im Resultat führt dieses Vorhaben auf eine metafiktionale Spielerei, bei der die Romanfiguren wie Pappkameraden hin- und hergeschoben werden, mitunter die Identitäten wechseln und sich vor allem auch ihres fiktionalen, unwirklichen Charakters bewusst sind.

Verschiedentlich sprechen die Romanfiguren miteinander über den Autor, als wäre er ein Gott, der ihr Schicksal lenkt, oder sie führen kurze erzähltheoretische Exkurse, wobei für sie, wie es an einer Stelle heisst "Gesetze der Handlung" so "unumstößlich und unerschütterlich" sind wie anderweitig "Naturgesetze". Tatsächlich entwickelt sich die Handlung ohne ersichtliche Motivation, vielmehr sind es äussere Ereignisse, welche den Ablauf bestimmen, und Naturwunder, wie die finale "Zaubernacht", welche das Geschehen lenken. Den Bahnhof, den die  beiden Protagonisten Leonardo und Alceste von Anbeginn ansteuern, erreichen sie nie, stattdessen versinken sie am Ende im Tartaros, der sich in einem Erdwall (Prysba) auftut.

Am Schluss pafft der Schlosser Scharaban, eine mythologische Gestalt, der über die Gestirne und den Tageslauf verfügt, seine Pfeife "und durch die blauen Schriftrollen aus Rauch zeichneten sich bereits die unglaublichen Konturen der Slobidischen Schweiz ab." Mit diesem Satz endet der Roman und unterstreicht somit nochmals den fiktiven Status der Geschichte, die nichts anderes als blauer Dunst ist. Das Bild von den Schriftrollen aus Rauch verweist dabei auf eine Szene ungefähr in der Mitte des Buchs, wo ein Baumpflanzer sich aus einem Gedichtblatt eine Zigarette rollt und sie genüsslich verpafft. Auch da steigt "ein Strom bläulichen, süßlichen Rauchs" in den Himmel. 

Literatur besitzt keinen Ewigkeitswert, sondern dient dem momentanen Genuss, der sich auch wieder verflüchtigt wie der Rauch einer Zigarette. Dies zumindest war die Einstellung von Mike Johansen, der die Auffassung vertrat: "Der soziale Wert der Kunst entspricht in etwa dem Wert von Eis und Schnee im Sommer und dem von heißem Tee im Winter. Die sozial produktive Funktion der Kunst ist dieselbe, wie die eines Karussells oder eines harmlosen Spiels; das Wort ist eine der Möglichkeiten, sich zu erholen."