Montag, 23. Dezember 2024

Gertrude Stein: Drei Leben (1909)

Dieses Jahr wäre Gertrude Stein 150 Jahre alt geworden. Auch wenn ihr Einfluss auf die moderne Literatur als durchaus bedeutend gilt, dürfte ihr Werk nur eine Minderheit wirklich gelesen haben. Weltbekannt ist ihr oft zitiertes und adaptiertes Monostichon "A rose is a rose is a rose is a rose ...". Mit dem Lyrikband Tender Buttons (1914) versuchte sie, inspiriert durch Picasso, kubistische Gedichte zu schreiben und mit The Making of Americans (1925) schuf sie ein ähnlich sperriges Riesenwerk wie Finnegans Wake ihres Zeitgenossen James Joyce (den man, nebenbei bemerkt, in ihrer Gegenwart aber nicht erwähnen durfte). Daran wagt sich das Lesefrüchtchen (noch) nicht. Stattdessen greift es zum Früh- genauer noch zum Erstlingswerk Three Lives.

Die drei - lediglich über den fiktiven Schauplatz Bridgepoint - miteinander verbundenen Erzählungen schildern das Schicksal von drei Frauenfiguren. Als Motto ist ihnen ein Zitat des Symbolisten Jules Laforgue vorangestellt: "Ich bin also unglücklich, und das ist weder meine Schuld noch die des Lebens." Die drei Frauen könnten unterschiedlicher nicht sein: Die gute Anna ist ein pedantisches Hausmädchen von übertriebenem Pflichtbewusstsein bis hin zur Selbstaufopferung; Melanctha eine zugleich melancholische wie auch leidenschaftliche Frau auf der vergeblichen Suche nach dem richtigen Mann und die sanfte Lena ein bis zur Einfalt gutmütiges Mädchen. Alle drei sterben aus der Welt hinaus, nachdem sich ihr Lebensglück nicht erfüllen konnte. 

Stein verzichtet jedoch auf jegliche Form der Psychologisierung. Die Vorgänge werden mit einem distanzierten, manchmal ironischen Blick von Aussen geschildert, was sie teilweise in seltsamer, weil unkommentierter Schwebe lässt. Dazu trägt auch der für Gertrud Stein später typische, hier schon ansatzweise vorhandene reihende und repetitive Stil bei. Am radikalsten durchgeführt in der mittleren und auch längsten Erzählung über Melanctha, die im Kern ein vertrackter Liebesdialog enthält, der sich hoffnungslos in sich selber verstrickt. Der Wortschatz beschränkt sich auf ein Minimum. Gewisse Sätze wiederholen sich immer wieder oder setzten absatzweise identisch ein. Die Syntax ist stets gleichförmig aufgebaut, was der Prosa etwas Formelhaftes, zuweilen sogar Beschwörendes verleiht.

Eine solche, auf jegliche Eleganz und guten Stil verzichtende Schreibweise, die manisch um sich selber kreist, war 1909 gewiss radikal und auch heute verlangt sie der Leserin einiges ab. Oder aber sie erlaubt eine Art gleitende Lektüre mit schwebender Aufmerksamkeit über dem Text. Aus heutiger Sicht muten die Erzählungen aufgrund der narrativen Regelverstösse mitunter wie der Versuch eines noch nicht ganz ausgereiften Sprachmodells an, einen literarischen Text zu verfassen. Eine andere Assoziation bietet sich, wenn man bedenkt, dass Gertrud Stein bei William James, dem Bruder des Schriftstellers Henry James, Psychologie studiert und im Rahmen dieses Studiums auch mit Schreibautomatismen experimentiert hat. Tatsächlich sollen Steins Texte bis zu ihrer ersten Schreibblockade mit knapp 60 Jahren einfach "geschehen" sein. Verfasst in einem einzigen Flow.


Dienstag, 17. Dezember 2024

Han Kang: Die Vegetarierin (2007)

Die südkoreanische Autorin Han Kang erhielt dieses Jahr den Nobelpreis für Literatur. Wie so häufig, wenn es sich nicht gerade um Bob Dylan handelt, ist die erste Reaktion nach der Verkündigung: Wer? Meistens kennt man die prämierten Schriftsteller nicht einmal dem Namen nach. Dem Lesefrüchtchen ging es auch heuer wieder so: Han Kang, wie überhaupt die südkoreanische Literatur, ist eine Terra inkognita, die es aus gegebenen Anlass erstmals zu erkunden gilt, und zwar mit Die Vegetarierin, dem 2016 als ersten auf Deutsch übersetzten Roman der Autorin, der ausserdem der bislang erfolgreichste ist und auch bereits verfilmt.

Die Geschichte ist ebenso schlicht wie die Sprache, in der sie erzählt wird. Aufgrund von Alpträumen beschliesst eine Frau namens Yong-Hye von einem Tag auf Fleisch zu verzichten, was - wie uns der Klappentext erklärt: weil Vegetarismus in Südkoreabei als subversiv gilt - bei ihrem Ehemann und mehr noch in ihrer Familie auf grosses Unverständnis, ja Widerstand stösst. Als sie bei einem gemeinsam Abendessen zum Fleischkonsum gezwungen wird, schlitzt sie sich vor allen mit einem Obstmesser das Handgelenk auf. Ans diesem Suizidversuch, der die Frau in die Psychiatrie bringt, zerbricht die Ehe. Als sie wieder aus der Klinik entlassen wird, kommt es zur Annäherung an ihren Schwager, einem Videokünstler, der länger schon eine erotische Phantasie mit seiner Schwägerin in seinem Skizzenheft festhielt. Insbesondere fasziniert ihn ihr Mongolenfleck. So nennt man ein bei asiatischen Kindern häufig auftretendes bläuliches Muttermal am Steiss, das im Laufe der Adoleszenz aber wieder verschwindet. Nur bei Yong-Hye nicht, was ein relativ offensichtliches Motiv für ihr regredierendes Wesen ist. Sie sehnt sich danach, zur Pflanze zu werden, während ihr Schwager sich mit ihr vereinigen möchte. Zu diesem Zweck verleitet er sie zu einer Kunstperformance, bei der er zuerst ihren Körper von oben bis unten mit Blumen bemalt, danach denjenigen eines Künstlerfreundes, wobei er beide vor laufender Kamera zu Körper- und softpornographischem Sexualkontakt animiert, was der Freund aber empört ablehnt. Schliesslich lässt sich der Künstler von einer früheren Freundin selbst mit Blumen bemalen und gelangt somit zum lange ersehnten Beischlaf mit seiner Schwägerin, die sich dieser pflanzlichen Vereinigung tranceähnlich hingibt. Als dies seine Frau entdeckt, zerbricht auch diese Ehe, und sie steckt ihre Schwester wieder in die Psychiatrie. Der Schluss des Buches handelt vom verzweifelten und wahrscheinlich auch vergeblichen Versuch, die Schwester am Leben zu halten, die nun gänzlich die Nahrung verweigert, nur noch Wasser und Sonnenlicht zu sich nimmt, um durch diese Photosynthese zum Baum zu mutieren und kopfüber ins Erdreich einwurzeln möchte. 

Soweit der äussere Hergang der Handlung, die weitgehend auch rein äusserlich und oberflächlich bleibt und auch in einer eigentümlich unterkühlten, klinischen Sprache erzählt wird. Abgesehen von den kursiv gesetzten Gewaltträumen der Protagonisten dringt die Erzählung nicht in die Tiefe und verzichtet auch weitgehend auf Erklärungen. Der Kunstgriff liegt im Wechsel der Erzählperspektive: Jeder der drei Teile wird aus einer anderen Sicht geschildert, so dass Yong-Hye stets aus einer Aussenperspektive wahrgenommen wird und ihre innere Motivation zwangsläufig rätselhaft bleiben muss. Die Vegetarierin ist trotz oder wegen dieser distanzierten und sterilen Erzählweise ein zunehmend beklemmendes, ja bedrückendes Buch. Weniger wegen der unerklärten Wandlung der Protagonistin an den Rand der Magersucht und des Wahnsinns, sondern weil ihre Schwester in der Radikalität dieser Lebensverweigerung am Ende schlagartig ihre eigene Lebensverfehlung erkennt. Das Verhalten Yong-Hyes bewirkt eine schleichende Erosion des Alltags, die ihre Schwester schliesslich in eine veritable Lebenskrise stürzt. Die Figur der Schwester bildet somit den Fluchtpunkt des Romans, weshalb der dritte und letzte Teil nicht zufällig aus ihrer Sicht erzählt wird und relativ abrupt mit einem surrealen Bild von brennenden Bäumen - dem einzigen phantastischen Element der Geschichte - endet und der Frage, die alles offen lässt: "Lehnt sie sich gegen etwas auf?" So wird der Roman als Parabel einer Auflehnung gegen das Korsett der Vergesellschaftung durch Familie, Ehe, Beruf lesbar. Das vegetative Dasein als Pflanze erscheint als Utopie eines von allen Fesseln befreiten Lebens.

Sonntag, 15. Dezember 2024

Kurt Vonnegut: Schlachthof 5 (1969)

Kurt Vonnegut, Verfasser satirischer Science-Fiction-Romane, erlebte als gefangener amerikanischer Soldat hautnah den Bombenangriff auf Dresden im Jahr 1945. Seit diesem Erlebnis wollte er die Erinnerungen daran zu Papier bringen, doch er fand nie die richtige literarische Form dafür, wie er im Vorkapitel zu diesem Buch erläutert. Bis er schliesslich auf die Idee verfiel, gänzlich von einem Erlebnisbericht abzusehen und die Geschichte wie eine wahnwitzige Science Fiction Story zu erzählen. Er durchmischt seine Kriegserinnerungen mit extraterrestrischen Versatzstücken der aus seinen Romanen bekannten Tralfamadoniern, worauf im barocken Untertitel auch angespielt wird, und schickt eine fiktive Figur namens Billy Pilgrim auf eine abenteuerliche Reise durch Raum und Zeit, was es schier unmöglich macht, den trotz seines bescheidenen Umfangs überbordenden Roman auch nur einigermassen sinnvoll zusammenzufassen.

Doch beginnen wir beim Namen, denn Nomen est bekanntlich omen: Der Pilger Pilgrim ist eine Art Inkarnation des ewigen Juden, der zu rastloser Wanderung verdammt ist. Nicht nur, dass Billy von einem Moment auf den anderen wild durch seine Lebensgeschichte und erst noch auf fremde Planeten katapultiert wird, er durchlebt während seiner Zeitreisen auch unentwegt alle Phasen seines Daseins. Was den tröstlichen Aspekt hat, dass er selbst in den schlimmsten Situationen niemals um seinen Tod fürchtet, weil er ihn bereits kennt. "So geht das." - Diese im Roman refrainartig wiederkehrende Formel bringt Vonnegut jedesmal, wenn jemand stirbt, ermordet wird oder sonstwie ums Leben kommt. Und das geschieht am Laufmeter, was der lapidaren Formel einen bitterironischen Unterton verleiht. Sie demonstriert die Gleichgültigkeit mit der im Krieg das Leid und die Vernichtung so vieler Menschen hingenommen wird.

Der Klappentext zitiert den Kritiker Hans Sahl mit der Aussage, es sei "ein Buch gegen die Unmenschlichkeit". Wer dabei nun einen moralisch hochgestreckten Zeigefinger erwartet, liegt falsch. Vonnegut erzählt schrill, grell, mit comicartigen Bildern und, zeitreisebedingt, im hektischen Wechsel der Szenen, die mal in Billys Vergangenheit führen, mal auf den Planeten Tralfamadore, dann wieder in die Dresdener Szenerie, wo er gemeinsam mit britischen und amerikanischen Soldaten im Schlachthof 5 in Gefangenschaft war, als der Bombenhagel über der Stadt losging. Gegen Ende des Romans liegt Billy im selben Krankenhaus wie der Militärhistoriker Copeland Rumfoord, ein arroganter Grosssprecher, der in seinem 27bändigen Standardwerk über die "Amtliche Geschichte der Heeresluftwaffe im Zweiten Weltkrieg" den verheerenden Luftangriff auf Dresden systematisch unterdrückte und Billy keines Blickes würdigte, als dieser behauptete, er sei selbst vor Ort gewesen.

Vonneguts Schwierigkeiten mit seinem Erlebnisbericht dürften mit diesem öffentlichen Verdrängungsprozess zusammenhängen: Eine Geschichte, die niemand hören will. Deshalb legt er sie dem denkbar unglaubwürdigsten Zeitzeugen in den Mund, einer rührend-naiven Figur, die aufgrund übermässiger Lektüre von Trivialromanen des erfolglosen SF-Autors Kilgore Trout an Zeitreisen glaubt und davon überzeugt ist, von Ausserirdischen entführt worden zu sein. Mit derselben Selbstverständlichkeit spricht er über seinen Aufenthalt auf Tralfamadore wie über über die Katastrophe von Dresden und verleiht seiner Erzählung somit einen fragwürdigen Wirklichkeitsstatus und dem Buch insgesamt alle Ingredienzien eines postmodernen Romans, der frei mit historischen, fiktionalen und auch intertextuellen Versatzstücken umgeht (etwa zu dem im Untertitel erwähnten Kinderkreuzzug oder zu John Bunyans The Pilgrim Progress).

Zu diesem postmodernen, metafiktionalen Spielformen gehört auch ein - wohl spektakulärer! - Cameo-Auftritt des Autors selbst, der seiner eigenen Figur im deutschen Gefangenlager begegnet. Dort auf der Latrine wird Billy Zeuge einer üblen "Scheißorgie", bei der ein Amerikaner verzweifelt darüber klagt, dass er sogar sein Hirn herausgeschissen hätte: "Das war ich. Ich war das. Das war der Verfasser dieses Buches."


Donnerstag, 28. November 2024

George Tabori: Son of a bitch (1981)

George Tabori, ursprünglich aus Ungarn stammender Drehbuchautor, Dramatiker, Übersetzer, Schriftsteller und Schauspieler, arbeitete mit Bert Brecht und Alfred Hitchcock zusammen und schrieb am Wiener Burgtheater sowie am Berliner Ensemble Theatergeschichte - eine Koryphäe, ja fast schon eine Legende des Nachkriegstheaters. Er gehört zu jenen Gestalten, die den Holocaust hautnah miterlebt haben - Taboris Vater ist in Auschwitz gestorben, er selbst konnte sich durch einen vorgetäuschten Selbstmord unter dem Decknamen George Turner in die britische Armee einschleusen -, sich davon aber nicht abschrecken oder in die Knie zwingen liessen, sondern erst recht ihre kreative Lebensenergie daraus zogen. Ein bekanntes Bonmot von Tabori ist die Frage, welches der kürzeste Witz sei. Die Antwort: Auschwitz. Diese durch nichts zu erschütternde Schwarzhumorigkeit fliesst auch ungefiltert in Taboris literarische Prosa ein, speziell auch in diesen "Roman eines Stadtneurotikers", wie es in der deutschen Übersetzung im Untertitel heisst.

Stadtneurotiker, bei diesem Wort denkt man sofort an Woody Allen. Und diesen Vergleich kann man durchaus ziehen, wenngleich Taboris Protagonist die Figuren aus Allens Filmen bei Weitem übersteigt. Das Fahrige, Nervöse und Konfuse weicht bei Tabori einer zynischen Gesellschaftsanalyse und einem ätzenden Sarkasmus. Ein richtiger "Son of a bitch" eben. So nennt sich der Protagonist selbst mit der Begrünung, Schmerzen machen einen "ganz bösartig, zum son of a bitch" - und er wird auch von anderen so bezeichnet. Es handelt sich um Arthur, einen New Yorker Lebensversicherungsagent für die Upper Class, der ironischerweise aber selbst an einer Krankheit laboriert, was er sich um keinen Preis anmerken lassen will, um nicht unglaubwürdig zu wirken. Doch seine Schmerzen nehmen fortlaufend zu, auch wenn er es verleugnen will - vor sich und erst recht vor seiner Umgebung. Längst schon ist die Epoche "V.S., Vor meinen Schmerzen" passé.

Ein gesellschaftssatirisches Glanzstück, in dem Prestigedenken, Machtgebaren und Dekadenz herrlich seziert werden, bildet das Diner bei einem Klienten, mit dem er es keinesfalls verderben will, weshalb er alles daran setzt, dass der Abend gut - und dass heisst zur Zufriedenheit des Gastgebers - über die Bühne geht. Arthur motiviert seine Frau nicht nur dazu, ihre "Titten" vorteilhaft im Dekolleté zu richten, er zwingt sich selbst sogar trotz heftiger Schmerzen das Essen herunterzuwürgen, obschon im bereits ein "Stück harter Kot" die Speiseröhre hinaufkriecht. Allein aus Angst den Gastgeber, der sich als wahrer Egozentriker und Sadist herausstellt, zu verstimmen, was auch beinahe geschieht, als Arthur zunächst dankend seine Portion ablehnt. Wie er dann aber schwitzend an seinem monströsen Beefsteak kaut und vor dem geistigen Auge all die Dinge durchrechnet, wie ein Strandhäuschen in Easthampton, die er sich dank seinem Kunden leisten kann, ist von schneidender Komik. 

Sonntag, 17. November 2024

Dino Buzzati: Die Mauern der Stadt Anagoor. Erzählungen (1987)

Das Grauen nimmt kein Ende. Nachdem das Lesefrüchtchen zu Hanns Heinz Ewers und H.P. Lovecraft griff, zieht es nun Dino Buzzati aus dem Regal, der freilich eine ganz andere Art von Schauergeschichten verfasste, die weniger dem blanken Horror, sondern - wenn man so will - eher einem metaphysischen Gruseln verpflichtet sind. Meistens fungieren die Erzählung zwar ebenfalls nach dem Prinzip, dass etwas Unerklärliches oder Übersinnliches in den Alltag tritt und die Geschehnisse fortan schicksalhaft bestimmt, Buzzati im Unterschied zu Ewers und Lovecraft jedoch mehr an der psychologischen Seite solcher Phänomene interessiert ist, weshalb seine Erzählungen oft ins Allegorische und Parabelhafte driften. Die mitunter phantastischen Geschehnisse wollen sich als Gleichnisse verstanden wissen. Nicht völlig zu Unrecht ist der 1906 in Belluno bei St. Pellegrino geborene Autor und Journalist daher schon zum 'italienischen Kafka' erklärt worden.

Die Titelgeschichte des vorliegenden Bandes Die Mauern der Stadt Anagoor mit Erzählungen aus den 1940er und 1950er Jahren liesse etwa sich leicht als Variante von Kafkas Türhüter-Parabel begreifen. Ein namenloser Ich-Erzähler wird in der Sahara an einen Ort geführt, der auf keiner Landkarte verzeichnet ist: eine mit hohen Mauern umgebene Stadt mitten in der Wüste. Dort lagern unzählige Menschen und warten bereits seit Jahren darauf, dass sich das Tor öffnet, um eingelassen zu werden. Dabei steht nicht einmal fest, ob die Stadt auch wirklich bewohnt ist. Es kursiert lediglich die Legende, dass einst ein "einziger Mensch", ein Pilger der sich zufällig vor den Toren aufhielt und nicht einmal wusste, dass es sich um die begehrte Stadt Anagoor handelt, Einlass erhielt. Das allein verschafft den Wartenden ein den Glauben einer "nahen Glückseligkeit". Dem Erzähler jedoch reisst nach 25 Jahren der Geduldsfaden und er bricht sein Lager ab, was von den anderen mit der Bemerkung quittiert wird: "Du verlangst zuviel vom Leben".

Die Anspielung auf Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" ist zu offensichtlich, auf deren Folie sich auch die Schlusspointe der Erzählung erschliesst: Der Mann vom Lande bei Kafka wurde erst bei seinem Tod eingelassen. Das Warten vor dem Tor ist ein existentielles Gleichnis. Auch sonst scheint Buzzati intertextuell eng mit einigen Klassikern der phantastischen Moderne verknüpft. Ein übermütiger Mensch präsentiert eine Art Bartleby-Figur, in Der Hund, der Gott gesehen hatte stirbt ein Eremit ausgestreckt wie Robert Walser im Schnee (der Text erschien allerdings zwei Jahre vor Walser Tod) und eine Erzählung trägt mit Der Mantel denselben Titel wie Gogols berühmte Novelle. Auch Jorge Luis Borges liesse sich als literarischer Anverwandter nennen, weisen seine dichten, paradoxen Kurzgeschichten doch etliche Parallelen mit Buzzatis Prosa auf. Ohne dass damit eine bewusste Bezugnahme auf die genannten Autoren behauptet werden soll, lässt sich Buzzatis Prosa motivgeschichtlich in diesem Kontext verorten, auch wenn sein Name im Vergleich weniger bekannt sein dürfte. Als Entdeckung lohnt sich Buzzati aber allemal.

Wie Borges geht auch Buzzati meist von einer abstraktem, metaphysischem Problem aus, das er zu einer parabolischen, gleichnishaften Erzählung ausgestaltet. So etwa in der Eingangserzählung Wenn es dunkelt. Ein erfolgreicher Mann in seinen besten Jahren wird auf dem Dachboden mit seinem kindlichen Alter Ego konfrontiert. Während er von seinem früheren Ich Bewunderung und Achtung vor seiner Lebensleistung erwartet, zeigt sich das Kind eher enttäuscht von seinem späteren Selbst. Die Frage nach dem Sinn des Lebens, das Streben nach einem erfüllten Dasein, aber auch die sich wandelnde Selbstwahrnehmung im Laufe der Zeit wird hier in eine spannungsreiche Konstellation gebracht. Ebenfalls auf einem Dachboden spielt die mitunter längste Erzählung Die Bodenkammer. Hier taucht plötzlich eine Kiste mit Äpfeln auf, so verlockend, dass ein Maler nicht widerstehend kann und durch den Biss in den Apfel in ekstatische Rauschzustände gerät, die er fortan stets wieder aufsuchen will. Was folgt ist - unter dem Motiv des biblischen Sündenfalls - das drastische Gleichnis einer Sucht, die den Betroffenen selbstquälerisch zwischen auferlegten Verboten und permanenter Selbstüberlistung oszillieren lässt.

Das Einbrechen des Irrationalen oder Übersinnlichen in das Leben eines Menschen bildet ein wiederkehrendes Motiv bei Buzzati. Aus dieser Grundkonstellation entwickelt er in einer präzisen, schnörkellosen Sprache die Psychogramme seiner Figuren. Das kann eine Kiste Äpfel sein, aber auch der Tod, eine unheilbare Krankheit wie Aussatz oder ein Tier wie ein gigantischer Igel oder - wie in der zweiten längeren Erzählung - ein herumstreunender Hund, von dem die gesamte Bevölkerung annimmt, es handle sich um den Vierbeiner des kürzlich verstorbenen Heiligen auf dem Hügel. Sie verfallen deshalb auf die fixe Idee, dass Gott höchstpersönlich sie durch dieses Tier observiere, weshalb sie in seiner Gegenwart ein gänzlich anderes Verhalten an den Tag legen und auf ihre heimlichen Sünden verzichten. Sie steigern sich sogar richtiggehend in einen Kult des Hundes hinein und verehren ihn wie ein Totemtier, bis sie auf das Grab des Heiligen pilgern und dort ein Hundeskelett erblicken, das ihnen schlagartig vor Augen führt, dass sie einem falschen Glauben aufgesessen sind: Das angebetete Tier war irgendein Strassenköter, der Hund des Heiligen ist längst mit seinem Herrn verschieden.

Der Band erschien in der "Reihe religiöser Erzählungen", weshalb die Herausgeberin Elisabeth Antkowak ihre Auswahl auf Texte stützte, in denen Fragen nach Gott und Tod, Gut und Böse, Gnade und Schicksal im Zentrum stehen. Im eigentlichen Sinne religiös können die Erzählungen dennoch nicht genannt werden, da sie einerseits keine spezifischen Glaubensinhalte transportieren, zum anderen auch in keinster Weise erbaulich sind, wie das die Herausgeberin gern suggerieren möchte, wenn sie insbesondere auf den Aspekt der Hoffnung abhebt. Doch sind die allermeisten Erzählungen alles andere als hoffnungsvoll, im Gegenteil enden sie oft auf die fatalste Weise, ohne Aussicht auf Trost, Rettung oder Umkehr. Der Verlauf jeder Erzählung steuert unerbittlich immer in Richtung Verdammnis zu. Wo die Herausgeberin da noch Hoffnungsschimmer aufblitzen sieht, bleibt ein Rätsel, heisst es an einer Stelle doch vielmehr unmissverständlich explizit: "Keine Hoffnung!" und "kein Heilmittel".

Der Mensch, so sehr er sich nach Transzendenz sehnt und sein Wunsch nach göttlicher Gnade zum Ausdruck kommt - bei Buzzati wird sie ihm fast durchwegs verwehrt. Sie sind von Anbeginn Verdammte, die sich ihrem Schicksal schliesslich widerstandslos ergeben. Alles andere wäre literarisch auch wenig erspriesslich. 

Donnerstag, 7. November 2024

H. P. Lovecraft/August Derleth: Das Grauen vor der Tür (1945)

Nach Hanns Heinz Ewers greift das Lesefrüchtchen zu einem anderen Meister des gepflegten Horrors: zu H. P. Lovecraft. Im Unterschied zu Ewers, bei dem das Grauen stets lebensweltlich verankert ist, steigt es bei Lovecraft aus den Untiefen der kosmischen Vergangenheit, aus dem All oder aus übersinnlichen Sphären auf. Jedenfalls handelt es sich um ein Ding, welches das menschliche Fassungsvermögen auf vernichtende Weise übersteigt. Eine Art totales Erhabenes, das den Menschen - anders als bei Kant - nicht auf seine seelische Überlegenheit zurückwirft, sondern ihn schlichtweg zermalmt. So auch in dieser Geschichte, die der mit Lovecraft befreundete Horrorschriftsteller August Derleth auf Basis von hinterlassenen Fragmenten rekonstruiert und 1945 als Kollaboration beider Autoren publiziert hat. Die deutsche Übersetzung nennt allerdings Lovecraft als Hauptverfasser, obschon ausschliesslich die Idee von ihm stammt, der quantitativ überwiegende Teil des Textes jedoch von Derleth ausgeführt wurde. Leider, wie man feststellen muss.

Passenderweise präsentiert sich die Erzählung selbst als Rekonstruktion aus verschiedenen hinterlassenen Aufzeichnungen, die schachtelartig die entsetzlichen Ereignisse aus der Perspektive von drei verschiedenen Personen schildern. Die Entstehungsbegingen sind somit als fiktionale Rahmung mit in den Text eingeflossen. Das soll der Geschichte einerseits eine Pseudoauthentizität verleihen, andererseits erweist sie sich mit der obsessiven Beschäftigung alter Schriften und Bücher auch als reine Bibliotheksphantastik. Es handelt sich im Kern um die Recherche und den Vorstoss in eine uralte Mysterien, die man besser hätte ruhen lassen sollen. Ambrose Deward, ein Spross der Familie der Billingtons zieht in das abgelegene Landhaus seiner Vorfahren in den düstern Wäldern nördlich der fiktiven Stadt Arkham in Massachusetts ein und trifft dort nicht nur merkwürdige Gerüchte über das dubiose Treiben seiner Ahnen an - die Rede ist von seltsamen Geräuschen aus dem Wald und zerquetschte Leichen -, sondern er findet auch rätselhafte Aufzeichnungen, auf die er sich primär keinen Reim machen kann. Mehr und mehr wird Deward von der düstern Atmosphäre des Hauses eingenommen, so dass er seinen Cousin zu Hilfe ruft. Dieser findet ihn aber in einem schizophrenen Zustand wieder, der zwischen Hilflosigkeit und Böswilligkeit changiert. Auch wiederholen sich die Ereignisse, die seltsamen Geräusche sind wieder hörbar und neue zermalmte Leichname werden aufgefunden. Der Cousin geht der Vergangenheit des Hauses und des im Wald befindlichen Steinturmes weiter nach und konsultiert deswegen einen Spezialisten namens Dr. Lapham, der ihm schliesslich das schreckliche Geheimnis offenbart, das sich mit Billingtons Anwesen verbindet.

Wie immer bei Lovecraft sind es vorzeitliche, monströse Gottheiten, die "Grossen Alten" genannt, die lange vor der Menschheit, in prähumanen Dimensionen, existierten und periodisch wiederkehren, um die Menschen zu unterjochen, sobald sie rituell angerufen werden. In diesem Fall war es der alte Billington, der zusammen mit einem Priester und einem Indianer, im Steinturm den "grauenhaften Aussenweltlern" ein irdisches Einfallstor geschaffen hatte. Dort öffnete sich periodisch die Türe, damit die Unwesen aus einer Art ausserweltlichem Limbo, einem zeit- und ortlosen "Draussen", in die Lebenswelt eindringen konnten. Darauf bezieht sich der Titel "Das Grauen vor der Tür". Dort, an der Schwelle, lauern die kosmischen Monstren, nur erpicht darauf, die Macht wieder an sich zu reissen. Alle Versatzstücke dieser "grotesken und schrecklichen Mythologie" von dem oktopoiden Cthullu in der versunkenen Stadt R'Leyh bis zum Necronomicon aus der Feder des Arabers Abdul Alhazred, die Lovecraft systematisch entwickelte, werden am Ende des Romans von einem Dr. Lapham in aller Länge und Breite vordoziert, was dem Roman nicht nur einen läppisch didaktischen Charakter verleiht, sondern für eingefleischte Lovecraft-Fans überdies alles andere als überraschend sein dürfte. Der Spannung ist dies mehr als nur abträglich, da von Anbeginn klar ist, welches 'Rätsel' da gelüftet werden soll. Zu allem Überfluss werden alle Lösungsschritte in ermüdender Redundanz vorgetragen.

Auch an den irrsinnigen Sprachexzessen Lovecrafts mangelt es der eher spröden Diktion Derleths  weitgehend, um die phantastische Aussenwelt in all ihren unbegreiflichen Schrecken wirklich plastisch zu gestalten. Hierin zeigt sich auch das wahre Genie von Lovecraft: Nicht auf der Ebene des Plots oder der Geschichte, sondern in der opulenten Sprachmacht, wie er die ewig gleichen Phantasien in stets berauschend neue Worte fassen konnte.

Freitag, 1. November 2024

Hanns Heinz Ewers: Geschichten des Grauens (1907/1908)

Zu Halloween gönnt sich das Lesefrüchtchen ein paar Schauergeschichten aus der Feder von Hanns Heinz Ewers, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein vielgelesener und äusserst produktiver Schriftsteller und Drehbuchautor - z.B. für den Gruselfilm Der Student von Prag (1919) - des damals hoch im Schwange gewesenen Genres der Phantastik war, bevor er in den Nationalsozialismus abglitt. Er gilt als Meister des Makaberen, immer hart an der Grenze zur Geschmacklosigkeit. Mit der kurzen Erzählung Die Tomatensauce verfasste er einen der ersten bekannten Splatter-Texte. Insbesondere seine Romane rund um die Figur von Frank Braun - Zauberlehrling (1909) und Alraune (1911) - erfreuten sich in ihrer Mischung aus Okkultismus, Horrorelementen und lüsterner Erotik grosser Beliebtheit. Das sind auch die Elemente, die weitgehend seine Schauergeschichten auszeichnen, u.a. publiziert in den Bänden mit den sprechenden Titeln Das Grauen. Seltsame Geschichten (1907), Die Besessenen. Seltsame Geschichten (1908) oder Mein Begräbnis und andere seltsamen Geschichten (1917), von denen vier 1972 neu aufgelegt wurden.

Gleich die erste Erzählung vollzieht einen für Ewers typischen Tabubruch, auch für heutige Verhältnisse, erst recht zur damaligen Zeit. Es geht nämlich um Nekrophile, die überdies recht freizügig geschildert wird. Wie ebenfalls typisch für Ewers wird die eigentliche Geschichte erst durch eine längere Rahmenhandlung eingeleitet, in der die historische Situation - die Handlung spielt in einer amerikanischen Ausländer-Siedlung während des Ersten Weltkriegs - und die beteiligten Personen überdetailiert eingeführt werden. Das Hauptpersonal besteht aus Stephe, dem einfältigen Totengräber, und dem niederländischen Hochstapler Jan Olieslager, die zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammenwachsen. Olieslager verhilft Stephe dazu, dass er aus der Armee ausgemustert wird, während Stephe dem Hochstapler im Gebeinhaus auf dem Friedhof, wo er wohnt, Obdach bietet, nachdem dieser aufgeflogen ist. Olieslager hat längst bemerkt, dass sein verschlossener Kumpan ein Geheimnis mit sich herumträgt, und will es auf Teufel komm raus ergründen. Es stellt sich heraus, dass der ansonsten beziehungsunfähige Stephe sich nächtens mit frischen Frauenleichen vergnügt, im Irrglauben, dass sie mit ihm sprechen, ihn liebkosen und beschenken. Nachdem Olieslager seinen Freund zur Beichte gezwungen hat, scheint die Obsession aufzuhören, da verliebt sich Stephe aber in die bildhübsche Gladys Paschiitsch und erwartet seitdem nichts sehnsüchtiger als ihr Tod, der dank einer Seuche, oh Wunder, auch tatsächlich eintritt. Doch das Schicksal meint es nicht gut mit Stephe, denn die heimlich geliebte Gladys soll nicht auf dem Friedhof beerdigt, sondern kremiert werden. Tief in der Seele erschüttert durch diesen 'Liebesverrat' kündigt er seinen Job und ward nicht mehr gesehen.

Die zweite Erzählung ist die schwächste, eher eine tragische Liebesgeschichte als wirklich eine Geschichte des Grauens. Sie steht zu Unrecht in diesem Band. Geschildert wird, wie so oft bei Ewers in der Nacherzählung eines direkt Beteiligten, um die Intensität zu steigern, wie eine junge Frau ihren frisch Verlobten in einer stürmischen Nacht draussen im Wald beim Sterben an einem Schlangenbiss beiwohnt, während er unendliche Qualen leidet. Es heisst, sie hätte in dieser Nacht "in die offene Hölle gesehen", weil ihr Geliebter nicht ganz ohne ihr Verschulden so qualvoll verenden musste. Zuvor hatte sie, um ihn vom Trinken abzuhalten, die Weinflaschen mit Wasser umgefüllt. Gerade die Stärke des Weines hätte ihn, so mutmasst der Erzähler, möglicherweise bei Kräften gehalten, bis der Arzt zu Hilfe kam. Doch er kam zu spät.

Die dritte Erzählung Der Spielkasten ist in Französisch-Indochina angesiedelt. Ewers, der vor dem ersten Weltkrieg Spanien, Mittel- und Südamerika sowie Indien, Südostasien, China und Australien bereiste - liess seine aussereuropäischen Erfahrungen häufig literarisch einfliessen, was ihm erlaubte, die Schrecken in exotische Gefilde und fremde Kulturen zu verlegen. So schildert er in der Erzählung Die Mamaloi in drastischer Genauigkeit das grausame Ritual eines Voodookultes in Haiti, bei dem in kollektiver Ekstase nicht nur Tiere, sondern auch ein Kleinkind geopfert werden. In Der Spielkasten ist es die asiatische Kultur, welche die europäische Leserschaft in Schrecken versetzen soll, wenn bspw. die bestialischen Mordmethoden der "gelben Schweinhunde" geschildert werden, die ihren Opfern mit glühenden Nadeln die Augen ausstechen oder lebende Ratten in die Eingeweide nähen. Doch darum geht es in einer längeren Rahmengeschichte nur am Rande: Im Kern geht es um die Rache des vietnamesischen Herrschers und Philosophen Hong-Dok an einem deutschen Legionär, weil dieser ihm eine seiner neuen Frauen ausgespannt hat. Er rächt sich jedoch nicht aus Eifersucht, sondern aus verletztem Stolz, weil er sich zunächst von den Schmeicheleien des Legionärs täuschen liess, ehe er entdeckte, dass sie bloss Mittel zum Zweck und keineswegs ernst gemeint waren. Dass ihn seine Frau betrügt, mag der dulden; dass er jedoch an der Nase herumgeführt und für dumm verkauft wird, reizt seinen Zorn bis aufs Blut. Er lässt den Legionär mitsamt der Frau kreuzigen, näht ihnen den Mund zu damit sie nicht schreien können und setzt die Gekreuzigten auf einem Floss im krokodilreichen Roten Fluss aus - und lässt das ganze "Drama von Fort Valmy" überdies in einem Spielkasten für die Ewigkeit nachbilden.

Die vierte Geschichte handelt vom Grafen Vincenz d'Ault-Onival und seiner unverständlich tragischen Liebe zu Stanislawa d'Asp, einer heruntergekommen, total verruchten Hure, die ihn keines Blickes würdigt, ja ihn vielmehr verspottet und beleidigt und jede seiner hehren Liebesbezeugungen auf entehrende Weise in den Schmutz zieht. Erst als die Dirne aufgrund ihres lasterhaften Lebenswandels an Schwindsucht zu sterben droht, willigt sie in die Beziehung zum Grafen ein, der sie auf diverse Kuraufenthalte mitnimmt und somit nicht nur für ihre Genesung, sondern auch für ein besseres Leben sorgt. Während der Graf in der Beziehung seine Erfüllung findet, stellt sie für Stanislawa nurmehr eine willkommene, eigennützige Gelegenheit dar: "Und als sie dann anfing zu lieben - und als sie liebt - - liebte sie doch nicht ihn, sondern nur seine grosse Liebe." Mit anderen Worten: Sie nutzt des Grafen Gefühle nach Strich und Faden aus, quält ihn weiterhin seelisch und hintergeht in sogar mit einem seiner Freunde. Doch nichts vermag die grosse Liebe des Grafen zu erschüttern, weshalb Stanislawa eine letzte Perfidie ersinnt. Kurz vor ihrem Tod lässt sich zur Katholiken taufen, um dem streng gläubigen Grafen das Gelübde abzunehmen, ihr letzter Wille wortgetreu zu erfüllen, der darin besteht, dass ihre Gebeine drei Jahre nach dem Tod in einer Urne der Familienkapelle beigesetzt werden. Da dieser Wunsch nicht aussergewöhnlich ist, weil er der Tradition entspricht, wundert sich der Graf, weshalb sie ihn darauf beim Glauben schwören liess. Erst als er nach drei Jahren das Grab ausheben lässt, erkennt er schlagartig den Grund: Stanislawa hat ihren toten Körper konservieren lassen, so dass er auch nach drei Jahren keineswegs verweste, sondern in strahlender Schönheit vor ihm liegt. Um ihren letzten Willen zu erfüllen, sieht sich der Graf also gezwungen, den bezaubernden Leichnam eigenhändig zu zerstückeln, damit er in die Urne passt. Mit wahnsinnigem, übergeschnapptem Gelächter macht er sich ans grausame Werk, an die letzte Demütigung, die ihm Stanislawa post mortem zugedacht hat. Und auch sie lacht ihn noch vom Grab heraus aus.