Donnerstag, 3. Juli 2025

Oswald Egger: Prosa, Proserpina, Prosa (2004)

Oswald Egger macht es sich und den Lesenden nicht einfach. Er setzt die Sprache nicht nur als gestalterisches Mittel ein, er gestaltet sie vielmehr nach eigenen Gesetzmässigkeiten um. Das führt zu hochkomplexen, mit Fremd-, Fach- und Fantasieworten durchsetzten Sätzen wie diesen: "Talg-Algen wie Smaragdgras-Agavan stäuben silbrig Quirlwirrtel-Milch über Risp-Feldritzen Dornginsterhecken, und Teer-Regenberge Horngnissen ..." Es stellt sich sofort ein Pastior-Effekt ein: Man meint etwas zu verstehen, doch letztlich entzieht sich alles einem verstehbaren Sinn, wird zur reinen Lautpoesie, im Extremfall etwa: "Unvirgeln sirrende Quisseln in Syzygie szintillierend, 'zzyzx'-Elritzen". Im Unterschied zu Oskar Pastior, wo häufig eine Methode oder eine Versuchsanordnung das Spiel mit der Sprache bestimmt, scheint sich Egger viel stärker noch am Sprachklang zu orientieren und von ihm leiten zu lassen. So kommen seine Sätze durch tonale Assonanzen und Lautähnlichkeiten zustande. So sind Quissel (frömmelnde Person), Syzygie (Stellung von Sonne, Mond und Erde in einer Linie), szintillieren (funkeln, flimmern) und Elritze (kleiner Karpfenfisch) tatsächlich existierende Wörter, sie stehen bei Egger aber weniger in einem Sinn- als in einem Klangzusammenhang, verbunden durch den Vokal, der auch in "sirren" erklingt und genau das besagt: einen feinen, hell klingenden Ton erzeugen. Dass unter "Syzygie" in der antiken Metrik ausserdem die Verbindung von zwei Versfüssen verstanden wurde, ist eine zusätzliche Pointe, die den Satz von einer möglichen Weltreferenz endgültig ins rein Sprachliche wendet.

So baut sich Egger aus dem Fremdwörterbuch deutscher Sprache ein ganz eigenes Sprachuniversum. Im Fall von Prosa, Proserpina, Prosa hat er sich bevorzugt bei botanischem Vokabular bedient, was sein Text zu einem entfernten experimentellen Verwandten von Vergils Georgica macht, dem grossen Poem über den Ackerbau. Nicht zufällig figuriert im Titel von Eggers Werk die mythologische Gestalt der Proserpina, der Tochter von Ceres, der römischen Göttin des Ackerbaus und der Fruchtbarkeit. Ihr Name leitet sich ab vom lateinischen Verb 'proserpere', was 'hervorkriechen' bedeutet und von den Römern mit dem aus der Erde keimendem Getreide assoziiert wurde. Auch die im Titel ebenfalls stehende 'Prosa' lässt sich etymologisch auf den Ackerbau zurückführen. Mit Agamben lässt sich die Prosa als fortlaufende Kehre (lat. versus), also als Verlängerungen des lyrischen Verses begreifen, als pro-versus (oder kurz: Prosa). Der lateinische Begriff versus meint auch die Ackerfurche, die der Bauer zieht - und zwar mit seinem Werkzeug, dem Pflug oder der Egge, die prominent auch im Namen des Autors steckt: Egger. Nomen est omen, weshalb der Egger zwangsläufig Prosaist, d.h. Furchenzieher und Ackerbauer sein muss. Was uns der Autor folglich ausbreitet (oder was er vielmehr einfährt) ist eine reiche Ernte, eine Sprachernte. Sein Text ist nicht anderes als ein Füllhorn, eine Cornucopia, ein mit Blumen und Früchten im Überfluss gefüllter Trichter, der symbolisch für Freigiebigkeit, Reichtum und Üppigkeit steht. Sein poetisches Prinzip ist demnach die Luxuria, ein verschwenderischer Luxus, ausgebreitet in Sprachgirlanden und Wortfeldern, der so reichhaltig ist, dass er in dieser Überfülle kaum rezipierbar ist.

Es ist schon ziemlich beeindruckend, was Egger alles mit der Sprache anzustellen versteht. Aber irgendwie auch hochgradig manieriert und gekünstelt. Bei aller Bewunderung legt man das Buch wohl früher als später aus der Hand und denkt sich: Was soll's? Man könnte jeden Fachausdruck im Wörterbuch nachschlagen und hätte doch nichts verstanden, denn es gilt die Devise: "Sinnen der Ingestion ('das weiss ich nicht'), Balloten, siebend Unsinne." Im Unterschied zu anderen Unsinnspoesien fehlt es Eggers Unternehmen jedoch entschieden an Witz. Alles kommt gravitätisch, bedeutungsschwanger und furchtbar eitel daher. Als wolle der Text nichts anderes, als permanent seine literarische Distinguiertheit ausstellen. Vieles gerinnt deshalb zur poetischen Pose, zum Gehabe. Der einzige leicht verständliche Satz im ganzen Buch lautet: "Wir wollen uns betrinken, wie die Tollen, und nachts nicht schlafen." Na also, das wäre allemal eine Alternative.

Sonntag, 29. Juni 2025

Stanislaw Lem: Also sprach Golem (1981)

Das Lesefrüchtchen bleibt beim Golem hängen. Diesmal handelt es sich aber um keine künstliche Kreatur, sondern um eine künstliche Intelligenz. Die Handlung spielt deshalb auch nicht im Prag des 16. Jahrhunderts, sondern im Zeitalter der "Intellektronik" in den 2025er Jahren, bei Erscheinen des Buchs somit noch in ferner(er) Zukunft. Der Text präsentiert sich als klassische Herausgeberfiktion und war ursprünglich Teil von Lems Sammlung von Vorworten zu nichtexistierenden Büchern, die unter dem Titel Die imaginäre Grösse (1973) erschienen sind. Es handelt sich um zwei Vorlesungen des denkenden Super-Computers GOLEM XIV (so lautet auch der polnische Originaltitel), flankiert von einem Vorwort des MIT-Technikers Irving T. Creve und dem Nachwort seines Kollegen Richard Popp. (Beide auf der Webseite des Suhrkamp Verlages lustiger Weise als reale Verfasser gelistet ...)

Golem (bzw. genauer: Golem-Alpha) hiess hingegen tatsächlich ein Grossrechner, der im Juni 1965 am israelischen Weizmann-Institut in Betrieb gesetzt wurde. Die Eröffnungsrede hielt der jüdische Gelehrte Gershom Scholem, der sich wissenschaftlich mit der Golem-Legende der Kabbala gut auskannte. Lem, der sich für die neusten technischen Entwicklungen interessierte, dürfte dieses Ereignis nicht entgangen sein und ihn für den Namen seiner Denkmaschine inspiriert haben. Dass in der Bezeichnung GoLEM freilich auch Lems eigener Name steckt, dürfte die Wahl weiter begünstigt haben. Bezeichnete der Autor das Buch, das zu seinem Spätwerk zählt, doch einst als "Summe seines Denkens" (Lem über Lem, 116). Der Titel der deutschen Übersetzung ist vernehmbar an Friedrich Nietzsches philosophische Dichtung Also sprach Zarathustra an. Eine Allusion, die insofern zutreffend ist, als auch GOLEM als eine Art Übermensch auftritt und die Menschheit wie ein Prediger belehrt. (An einer Stelle erfolgt ein expliziter Verweis auf Paulus und den Brief an die Korinther, 89 f.)

Inhaltlich präsentiert sich der Band als intellektuelle Hinterlassenschaft Golems, nachdem er - so wird jedenfalls in der Presse spekuliert - "Selbstmord begangen" (162) habe, indem er seine eigen Existenz auslöschte. Es sind zwei Niederschriften seiner Vorträge, die er an die Menschheit hielt, um sie über ihre eigene Natur, aber auch über sich selbst als künstliche Intelligenz bzw. als reine "Vernunft" (85) aufzuklären. Hierin liegt denn auch die Verständnisschwierigkeit seiner Vorträge, wie der fiktionale Herausgeber Creve zu Beginn erläutert. Denn man hat es zwar "mein einem vernünftigen, aber nicht menschlichen Wesen" (22) zu tun, weshalb seine Aussagen oft "arrogant und apodiktisch" (24) anmuten, obschon Golem sich darum bemüht, seine Diktion dem menschlichen Auffassungsvermögen anzupassen und weniger qua "Abstraktion" als "mit Gleichnissen und Bildern" (32) zu sprechen. Doch lässt sich damit nicht verhindern, dass Golem aufgrund seiner rein rationalen Veranlagung ein "rücksichtsloser Wahrheitsfanatiker" (24) ist und die Menschen mit seinen Aussagen brüskiert.

Die erste Rede entpuppt sich denn auch als veritables "Pasquill auf die Evolution" (174). Zumindest vertritt Golem eine kühne These, derzufolge der Mensch keineswegs die Krone der Schöpfung darstellt, sondern bloss evolutionär bedingtes Trägermaterial für den genetischen Code, der die eigentliche Hauptsache darstellt, der Mensch hingegen ein Zufallsprodukt in diesem Prozess. Mehr noch: ein Unfall, ein Fehler, ein Irrtum.

Stanislaw Lem: Also sprach GOLEM. Aus dem Polnischen von Friedrich Griese. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986 (Phantastische Bibliothek, Bd. 175)

Mittwoch, 25. Juni 2025

Gustav Meyrink: Der Golem (1915)

Der Golem ist eine alte jüdische Sagengestalt. Vom legendären Rabbi Löw aus dem 16. Jahrhundert wird berichtet, er habe aus Lehm einen künstlichen Menschen geschaffen, der zum Leben erwacht und zu ungeheurer Grösse emporgewachsen sei, wenn ihm der Name Gottes auf einem Papierstreifen in den Mund gesteckt wurde. Sobald man den Zettel wieder entfernte, sackte der Golem zur starren, leblosen Figur zusammen. In einer anderen Variante der Geschichte erweckt das Wort Emeth (hebr. Gott, Wahrheit) auf der Stirn den Golem zum Leben. Er stirbt wieder, wenn die Vorsilbe An- gelöscht wird und nur das hebräische Wort für Tod (Meth) übrig bleibt. Der Mythos berichtet ferner davon, wie der riesenhafte Golem ausser Kontrolle geriet, Amok lief und es Rabbi Löw nur durch eine List gelang, die Vorsilbe wegzuwischen bzw. den Zettel wieder aus dem Mund zu entfernen. Gemäss einer Überlieferung, die Jacob Grimm im deutschsprachigen Raum verbreitete, soll der Rabbi von den Trümmern des zusammenfallenden Lehmklotzes erschlagen worden sein.

Nicht zuletzt durch die Vermittlung von Jacob Grimm, aber auch Clemens Brentano erlebte das Golem-Motiv in der Romantik verschiedentlich seine literarische Ausgestaltung. Zu grosser Bekanntheit gelangte es jedoch ein knappes Jahrhundert später durch den gleichnamigen Roman von Gustav Meyrink, obschon sich dieser bereits sehr weit von der ursprünglichen Legende entfernte. Diese bestimmt nur hintergründig das Geschehen, das ins Prager Getto der 1880er Jahre verlegt und mehr noch in ein psychologisches Kammerspiel überführt ist. Der Golem fungiert hier als Chiffre für die innere Selbstbegegnung und tritt als unheimlicher Doppelgänger des Erzählers auf. Daran lässt sich noch die schauerromantische Herkunft des Romans erkennen, der ansonsten aber vornehmlich expressionistische Stilmittel einsetzt, um eine beklemmende Atmosphäre zu erzeugen, unklar changierend zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen realen Vorgängen und Phantasmagorien. So recht weiss man nie, woran man ist, da sich die Ereignisse und Personen auf verschiedenen Ebenen zu verdoppeln und zu spiegeln scheinen.

"Wer ist jetzt 'ich'" (9) - so lautet die zentrale Frage, die gleich zu Beginn gestellt wird, als der Erzähler im Schlaf eine Stimme vernimmt, die penetrant einen Stein erwähnt, der wie ein Stück Fett aussieht. Erst ganz am Ende des Romans, der nichts anderes als ein langer, sich über mehrere Jahre erstreckender Traum des erzählenden Ichs ist (obwohl in Realität kaum eine Stunde vergeht!), lüftet sich das Rätsel. Im Schlaf versetzt sich der namenlose Erzähler in die Person (und das Schicksal) von Athanasius Pernath, dessen Hut er aus Versehen mitnahm und sich später wundert, "dass er mir so genau passe, wo ich doch eine höchst eigentümliche Kopfform habe" (19). Hiermit wird bereits suggeriert, dass zwischen dem Erzähler und Pernath mehr als eine zufällige Verbindung besteht, dass mindestens eine geistige (Kopfform) Verwandtschaft vorliegt oder gar, dass der Hut dem Ich eine fremde Identität überstülpt. Der Text selbst verwendet an zwei Stellen die Metapher des Pfropfens: Pernath gelangt zum Schluss, es "müssten in uns zwei Leben aufeinandergepfropft werden" (279) und selbst fühlt er sich wie "eine verschnittene Pflanze", wie "ein Reis, das aus einer fremden Wurzel sprosst" (62).

Athanasius Pernath lebte vor der Assanierung im Jahr 1893 als Gemmenschneider in der Prager Judenstadt, in direkter Nachbarschaft zum linkischen Trödler Aaron Wassertrum und seines Antipoden, dem kabbalistisch geschulten Archivar Schemajah Hillel. Mit jüdischer Mystik hängt vieles im Roman zusammen. Es beginnt damit, dass von dort, "wo der Archivar Schemajah Hillel seine Wohnung hat", ein unbekannter Kunde in Pernaths Atelier tritt, an den er sich später nur vage erinnern kann, und ihm das Buch "Ibbur" übergibt zwecks Restaurierung einer Zierinitiale. In der Kabbala bedeutet "Ibbur" so viel wie "Seelenschwängerung" oder "Seelenwanderung". Tatsächlich spürt Pernath ab diesem Moment eine Art von Besessenheit, die sich darin artikuliert, als hätten "gespenstische Finger"  in seinem "Gehirn geblättert" (25). Der unbekannte Fremde scheint von ihm Besitz zu ergreifen. Pernaths Gesichtszüge verändern sich und nehmen ein mongolisches Aussehen an; und wie ferngesteuert tappt er mit einem schwerfälligen Gang durchs Zimmer. Später erfährt er von seinem Freund Zwakh, dass diese zwei Merkmale eine Ähnlichkeiten mit dem Golem aufweisen, der der Legende nach in einem "Zimmer ohne Zugang" in der Altschulgasse hause.

Ferner erfährt Pernath von seinen Freunden, dass er früher offenbar aus Liebeskummer verrückt geworden und mittels Hypnose von seinen schmerzhaften Vergangenheit befreit worden sei, indem seine Erinnerungen im Gedächtnis zwar nicht gänzlich gelöscht, doch weggesperrt wurden, so dass er keinen Zugriff mehr darauf hat. Für diesen Zustand der Amnesie steht sinnbildlich das verschlossene Zimmer vom Golem und dieser selbst als Chiffre für die verdrängten Gespenster aus der Vergangenheit. In der Figur des Golems nimmt die Psychose eine ausgelagerte Gestalt an. Mehr noch stilisiert der Erzähler den Golem zum "Symbol für die Massenseele" (55) aller Getto-Bewohner, in dem sich die verdrängten Schrecken, Sorgen und Nöte manifestieren. Pernath gelangt dann, ob bloss in der Einbildung oder in einer Art magischer Wirklichkeit bleibt offen, in das vergitterte Zimmer ohne Zugang und begegnet dort sich selbst, seinem verdrängten Ich in Form einer Pagat-Karte aus dem Tarockspiel: "So starrten wir uns in die Augen - einer das grässliche Spiegelbild des anderen" (119). Als Pernath in der Morgendämmerung nach Hause geht, trägt er eine alte Kutte, die er im Zimmer vorgefunden hat, und wird von den entsetzten Passanten für den Golem aus der alten Sage gehalten.

Mit dem symbolischen Erwachen des Golems holt Pernath auch die Vergangenheit ein, in Gestalt einer zunächst unbekannten Dame, die aus einer unglücklichen Beziehung bei ihm Zuflucht sucht. Wie sich herausstellt, handelt es sich um Angelina, eine unerfüllte Jugendliebe Pernaths, die ihm einst "ein Herz aus rotem Stein" (103) schenkte. Doch es gibt noch zwei weitere Frauen in Pernaths Leben: Da ist zum einem die Tochter Miriam des Kabbalisten Hillel, zu der er eine mystische Verbindung spürt, sowie die leichtlebige Tochter Rosina des Tödlers Wassertrum, der eine dubiose Figur darstellt. Schliesslich ist er es, der Pernath eine Uhr unterjubelt, auf der der Name Zottmann eingraviert ist und die Pernath später zum Verhängnis wird, als er, sich keiner Schuld bewusst, des Mordes an eben diesem Zottmann angeklagt wird. Ein letzter, längerer Teil spielt in der Gefängniszelle, als Gegenbild zum Golemraum ohne Zugang ein Raum ohne Ausgang. Dort begegnet er dem Lustmörder Laponder, der ebenfalls eine mystische Selbsterfahrung hinter sich hat und zu einer Art Prophet geläutert ist. Eine der stärksten Figuren des Romans. In seiner Verkörperung des 'heiligen' Verbrechers eine Präfiguration des Frauenmörders Moosbrugger bei Robert Musil. Er erteilt Pernath den weisen Rat: "Sie müssen es teilweise symbolisch auffassen, was sie erlebt haben." (275)

Ein Rat, den sich auch die Leser beherzigen sollen ... Am Ende erwacht der Ich-Erzähler aus dem Traum und begibt sich in die neue Judenstadt auf die Suche nach Pernath, dessen Hut er noch immer in den Händen hält: "Alles, was dieser Athanasius Pernath erlebt hat, habe ich im Traum miterlebt, in einer Nacht mitgesehen, mitgehört, mitgefühlt, als wäre ich er gewesen." (302) Auch als er sich in die Alchemisten- resp. Altschulgasse begibt, wo früher das Haus des Golems stand, wird ihm die "traumhafte Erkenntnis" zuteil, "als lebe ich zuweilen an mehreren Orten zugleich" (310). Nur durch hartnäckige Erkundigungen gelingt es ihm schliesslich, nähere Hinweise über Pernaths Verbleib zu erhalten, und er wird von einem Fährmann zu einer Stelle gebracht, die er bereits aus seinem Haus kennt. Er steigt zu einer Art Schloss empor, dessen Flügeltor ein Hermaphrodit ziert, den er bereits in seiner Vision aus dem Buch Ibbur kennt. Es ist der Wohnort von Pernath und Miriam. So endet der Roman nach vielen Abspaltungen und Verdoppelungen in einer Art Apotheose im Zeichen der Vereinigung (Hermaphrodit), das ein hoffnungsvoll zukunftsgerichtetes Gegengewicht zur negativ besetzten Vergangenheit markiert, für die die Figur des Golem stand. 

Meyrink kannte Prag aus seiner Schul- und Lehrlingszeit in den Jahren, in denen die Romanhandlung hauptsächlich spielt. Und er versteht es, seine Eindrücke in bedrohliche, düstere Bilder zu tauchen, die man später auch aus Kafkas Schloss-Roman kennt, mit dem Unterschied, dass sie bei Meyrink ins phantastische gesteigert sind. Die Stadt und ihre Häuser scheinen ein geheimes Eigenleben zu entwickeln, als der Erzähler an einer Stelle ihr "spukhafte[s] Treiben" (31) bemerkt. Doch nicht allein die atmosphärische Dichte trägt zur spannungsgeladenen Rätselhaftigkeit der Romanvorgänge bei, es liegt mitunter auch daran, dass einiges tatsächlich diffus, undurchdringlich und im kryptischer Symbolik verhangen bleibt. Das mag bis zu einem gewissen Grad auch der Textentstehung geschuldet sein, zumal der Roman in seiner Urfassung über 5000 Seiten und 120 Dramatis Personae umfasst haben soll, die Meyrink dann mit Hilfe des befreundeten Mathematikers Felix Noeggerath drastisch eingekürzt hat. Da blieb wohl das eine oder andere lose Ende liegen, verschaffte dem Roman aber seine modern anmutende Unbestimmtheit und Deutungsoffenheit. Man denke sich nur: Der Golem als nahtlos erzählte Gothic Novel! Das wäre ein unerträglicher Schwarten geworden. 

Gustav Meyrink: Der Golem. München, Wien: Langen Müller 1982.

Sonntag, 15. Juni 2025

Philip K. Dick: We can build you (1972)

Okay, das ist wahrscheinlich nicht die beste Geschichte von Philip K. Dick. An seine Klassiker wie Do Androids Dream of Electric Sheep (1968), Ubik (1969) oder die Erzählung Minority Report (1956) reicht sie jedenfalls nicht heran. Obwohl erst 1972 erschienen, entstand der Roman ein ganzes Jahrzehnt früher im Jahr 1962, blieb aber unpubliziert liegen, bis er in den Ausgaben vom November 1969 und Januar 1970 von Amazing Stories unter dem Titel A. Linclon, Simulacrum veröffentlicht werden konnte und dann zwei Jahre später unter neuem Titel We can build you in Buchform nochmals auf den Markt kam. Auch die deutschen Übersetzungen weisen unterschiedliche Titel auf: Relativ zeitnah erschien der Roman 1977 als Die rebellischen Roboter in der SF-Reihe bei Goldmann, 2007 eine Neuübersetzung unter Die Lincoln-Maschine bei Heyne. Keiner wird der Erzählung richtig gerecht - und da liegt vielleicht auch das Problem: Geweckt wird eine falsche Erwartungshaltung.

Insbesondere der Paratext der deutschen Erstübersetzung Die rebellischen Roboter suggeriert, dass der Roman von künstlich programmierten Nachbildungen historischer Persönlichkeiten handle, die ausser Kontrolle geraten. Das stimmt erstens nicht ganz und führt ausserdem am Kern der Erzählung vorbei. Wenn in diesem Roman jemand out of control gerät, dann sind es die Menschen und nicht die Roboter, die sich keineswegs rebellisch verhalten, sondern sich erstaunlich hilfsbereit und konziliant in die neue Sozietät einfinden. Aber auch das steht nicht wirklich im Zentrum des leicht in die Zukunft versetzten Romans (die Handlung spielt sich 1982 ab). Dreh- und Angelpunkt der gesamten Geschichte, die etwas unentschlossen zwischen Psychodrama und SF-Utopie changiert, ist das gestörte Verhältnis des erzählenden Ich, Louis Rosen, zur hochattraktiven, aber leider auch schizophrenen Tochter Pris seines Geschäftspartners Maury Rock, die eine Idee entwickelt, wie sie den stagnierenden Betrieb der beiden wieder ankurbeln will.

Aus der Klinik entlassen, konstruiert Pris mithilfe eines NASA-Technikers sogenannte Simulacra: Das sind Replikate des ehemaligen Präsidenten Abraham Lincoln und seines Kriegsministers Edwin Stanton, um - so die Idee - den "Bürgerkrieg noch einmal mit Robotern" zu führen (30). Was wie der Ausgangspunkt einer Satire mit historischen Klons klingt, führt in eine gänzlich andere Richtung, was aber einige Verleger partout nicht einsehen wollten und deshalb irreführende Signale setzen. Am Absurdesten ist wohl das Konterfei von Hitler auf dem Cover der Ausgabe bei Seven House von 1988, das mit dem Inhalt nicht das Geringste zu tun hat, denn an keiner Stelle kommt jemand nur auf die Idee, Hitler zu replizieren. Das wäre eine gänzliche andere Geschichte geworden. Die Simulacren spielen eher Nebenrollen, auch wenn sie sich mitunter aktiv in das Geschehen einmischen, das sich jedoch vornehmlich um die Psychose des Ich-Erzählers dreht, der in Pris verliebt ist, obwohl sie sich so kühl, distanziert und abweisend wie ein Automat verhält.

Damit kann sich Louis abfinden, zumal er die fehlende Empathie ihrer schizophrenen Erkrankung in die Schuhe schiebt. Die Dinge laufen jedoch aus dem Ruder, als Pris ihre Erfindung an den von ihr vergötterten Top-Investor Sam Barrows verkaufen will. Dieser beabsichtigt die Simulacren für seine Mondkolonisierung einzusetzen und zeigt sich daher nicht nur am Angebot, sondern auch an Pris selbst interessiert, die er zur Geliebten nimmt. In Rage vor Eifersucht fliegt Louis nach Seattle mit dem festen Vorsatz, Barrows umzulegen. Er steigert sich sukzessive in eine "katatonische Erregung" (143), ohne sein Ziel zu erreichen, weshalb er das Lincoln-Simulacrum als Berater einfliegen lässt, zu dem er aufgrund seiner psychischen Labilität eine besondere (menschliche) Nähe empfindet: "Lincoln war genau wie ich. Ich hätte dort in der Bücherei meine eigene Biographie lesen können; psychologisch waren wir uns so ähnlich wie Zwillinge, und wenn ich ihn begriff, verstand ich mich selbst." (116)

Doch Barrows hat einen Trumpf im Ärmel: Er hat unterdessen ein Simulacrum des amerikanischen Schauspielers und Lincoln-Attentäters John Wilkes Booth erstellt. Mit ihm tritt er als Drohmittel an den Verhandlungstisch. Die Auseinandersetzung erreicht ihren Gipfelpunkt, als Pris mit ihrem High-Heel das Booth-Simulacrum durch eine gezielten Schlag durch die Schädeldecke in aller Öffentlichkeit zerstört, so dass es rundum als Roboter erkennbar wird. Nach dieser Maschinenstürmerei spielen die Simulacren keine Rolle mehr. Der letzte Teil des Romans schildert, wie Louis Rosen selbst in eine handfeste Psychose schlittert, indem er eine Vereinigung mit Pris halluziniert, und schliesslich von seiner Familie in dieselbe psychiatrische Anstalt eingeliefert wird, in der auch Pris (wieder) interniert ist. Die Erzählung lässt es offen, ob Rosen sich alles nur einbildet oder ob er seine Geisteskrankheit lediglich vortäuscht, um seiner Liebe nahe zu sein. Jedenfalls wird er mit der Vermutung des Arztes entlassen, er sei bloss ein Simulant.

Simulant, Simulation, Simulacrum - die Wortverwandtschaft zeigt es bereits an, dass Dick in diesem Roman auf einer doppelten Klaviatur spielt und das Science-Fiction-Versatzstück des Roboters vornehmlich als existentielle Metapher einsetzt, an die sich philosophische Fragen knüpfen: Was macht den Menschen aus? Wie unterscheidet er sich von Maschinen? Wie menschlich können wiederum Maschinen sein? Das sind allesamt Fragen, die im Roman en passant aufgeworfen und dabei Blaise Pascal (Der Mensch ist "ein denkendes Rohr", 15) und Shakespeare (Der Mensch ist "ein gespaltener Rettich", 73) anzitiert werden. Besonders witzig ist die Szene, als das Lincoln-Simulacrum Barrows davon überzeugen will, dass auch der Mensch nicht anderes als eine Maschine sei und dabei auf Spinoza bezieht, der im Anschluss an Descartes diese Problematik aufgeworfen hat (74). In diesem Zusammenhang wird auch das Leib-Seele-Problem virulent: Besitzen Maschinen "keine Seele" (74) oder handelt es sich vielmehr um reine, körperlose Seelen (83), die sich in wechselnde Organismen einprogrammieren lassen. Schliesslich kommt auch das das Verhältnis zwischen Schöpfer und seinem Geschöpf zur Sprache, wobei diese vom Frankenstein-Stoff (68) auf die Sklaverei (73) und moderne Arbeitsverhältnisse übertragen wird. Haben Maschinen dieselben Rechte wie Menschen? 

Das Simulacrum gerät unter diesem Fragehorizont - ganz im Sinne von, doch deutlich vor Baudrillards Theorie - zur Chiffre für die conditio humana im postmodernen Zeitalter, das Dick zugleich als stark psychotisches beschreibt. Der Roman spielt in einer Welt, wo der Staat praktisch die gesamte Gesellschaft pathologisiert. Es gibt eine eigene Behörde für Geistige Gesundheit, die durch läppische Testverfahren psychische Dysfunktionen eruiert, und ein McHeston-Gesetz, das Zwangseinweisungen legitimiert. Der Schizophrene mit seinen Wahnvorstellungen ist letztlich auch permanent mit Simulacra (wörtlich: Trugbildern) konfrontiert und verhält sich ähnlich mechanisch wie eine Maschine. In dieser Parallelisierung zwischen künstlicher und pathologischer Existenzweise liegt die Pointe des Romans sowie des doppelsinnigen Originaltitels We can build you, der sich sowohl auf die Roboterkonstruktion als auch auf die Therapiesituation beziehen kann. Ähnlich wie die Simulacren werden auch die Patienten in den psychiatrischen Kliniken auf soziale Funktionsfähigkeit programmiert. 

Philip K. Dick: Die rebellischen Roboter. Science-Fiction-Roman. Ins Deutsche übertragen von Tony Westermayr [Orig. We Can Build You, 1972]. München: Wilhelm Goldmann Verlag [1977].

Donnerstag, 12. Juni 2025

Walter Satterthwait: Eskapaden (1995)

Ein ideales Buch für ein verregnetes Wochenende: Leichte Lektüre, spannend, unterhaltsam und, um dem Ganzen den richtigen Pfiff zu verleihen, mit zwei historischen Cameo-Auftritten garniert. Der legendäre Entfesselungskünstler Harry Houdini und Sir Arthur Conan Doyle, der Schöpfer des nicht weniger legendären Privatdetektivs Sherlock Holmes, treffen aufeinander. Beide haben sich im realen Leben tatsächlich gekannt, die Freundschaft brach dann aber wegen Doyles Hang zum Spiritismus auseinander. Erstaunlich: Den Scharfsinn seines Ermittlers schien Doyle selbst mit Leichtgläubigkeit aufzuwiegen. Er liess sich durch dilettantische Elfenfotos hinters Licht führen und glaubte an übernatürliche Fähigkeiten. Auch seinem Freund Houdini attestierte er geheime Kräfte, da er sich seine Befreiungstricks nicht anders als durch Entmaterialisierung erklären konnte.

Vor diesem historischen Hintergrund ist der Roman angesiedelt, der zwar als Kriminalroman angelegt ist, aber vor allem durch sein skurriles Figurenpersonal besticht, zu dem neben Doyle und Houdini u.a. auch dem Freudianer Dr. Auerbach und des kommunistischen Lord Purleigh sowie seiner nymphoman veranlagter Tochter Cecily besteht. Auf dessen Anwesen Maplewhite in Devon (England), wo angeblich der Geist eines verstorbenen Vorfahren sein Unwesen treibt, soll im Jahr 1921 eine Séance mit einem von Conan Doyle ausgewählten Medium stattfinden, das Houdini des Betrugs überführen will. Er soll den Erweis erbringen, dass Séancen nichts anderes als Hokuspokus sind, bei denen mit ähnlichen Tricks gearbeitet wird wie in zweitklassigen Zaubershows: "Timing [...] Irreführung. Und natürlich präparierte Requisiten." (333) Doch zu dieser Beweisführung kommt es gar nicht, weil es vorher gilt, einen Mordfall aufzuklären, der - wie sich herausstellt - mit ähnlichen Täuschungsmanövern inszeniert wurde. Rasch geraten die Dinge auf dem englischen Schloss ausser Kontrolle und es kommt zu einer klassischen Whodunnit-Situation, wie man sie auch jedem Agatha-Christie-Krimi kennt: In einer geschlossenen Gesellschaft bewegt sich inkognito ein Mörder, den es zu überführen gilt, bevor er erneut zuschlagen kann. 

Komplizierend kommt hinzu, dass Houdini von einem Rivalen namens Chin Soo, dessen Identität unbekannt ist, da er ständig maskiert auftritt, verfolgt wird und deshalb den Aufenthalt auf dem vermeintlichen Gespensterschloss nutzen will, um zeitweilig unterzutauchen. Das ist jedenfalls der Plan des amerikanischen Pinkerton-Detektivs Phil Beaumont, der Houdini, den er fortwährend ironisch als der "grosse Meister" apostrophiert, begleitet, getarnt als sein Privatsekretär. Doch als der erste Schuss fällt, muss er sein Inkognito ablegen und die Ermittlungen beginnen, in die sich auch Conan Doyle und Houdini einmischen. Als dann noch der Shakespeare-dauerzitierende Inspektor Marsh auftritt, verkommen die Ermittlungen endgültig zu einem Schaulaufen. Houdini geht mit dem Inspektor eine Wette ein, dass er den Fall vorher aufklären werde, was ihm aufgrund seiner Vertrautheit mit Zaubertricks, Täuschungsmanövern und doppelten Böden auch gelingt. Er entdeckt ein Geheimgangsystem im Schloss, das nicht nur den nächtlichen Spuk, sondern auch den Mordhergang erklärt. Der unterlegene Inspektor entpuppt sich schliesslich als Chin Soo, der seinen Konkurrenten, wenn er ihm schon zaubertechnisch unterlegen ist, wenigstens detektivisch schlagen wollte.

Der Titel "Eskapaden" referiert somit mindestens auf Zweierlei: Zum einen auf den Befreiungs- und Entfesselungskünstler Houdini und die durch entdeckten geheimen Kammern, den den Mördern als eine Art Escape Room dienten, zum anderen auf die sich überstürzende Ereignisse, in die auch  erotische  des e. Erzählt werden diese Eskapaden durch eine doppelte Perspektive: Aus Sicht von Jane Turner  und Phil Beaumont, die den Erzählstil à l'anglaise bzw. à l'américaine verkörpern. Beaumont hat das Format eines Hard-Boiled-Ermittlers aus der Feder von Raymond Chandler: Neben einer gehörigen Portion Zynismus und einem hohen Attraktionsgrad für Frauen verfügt er zudem über die nötige Durchschlagskraft. Als er von dem Poseur und Angeber Sir David zum Boxkampf aufgefordert wird, schlägt er ihn selbst nach einer durchlebten Nacht auf Anhieb k.o. Jane Turner, die mit ihrer distinguierten Haltung wiederum direkt einem Roman von Agatha Christie entsprungen sein könnte, zeigt sich zunächst angewidert vom amerikanischen Männlichkeitsimport, muss am Ende aber ihre erste Einschätzung revidieren. Tatsächlich nähern sich die beiden an und werden gemeinsam zwei weitere Fällen lösen: unter dem Titel Maskeraden, der im Paris der 1920er Jahre spielt, und Scharaden, der in Nazi-Deutschland angesiedelt ist.

Walter Satterthwait: Eskapaden. Roman. Aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner [Orig. Escapade, 1995]. Zürich: Haffmans Verlag 1997.

Samstag, 31. Mai 2025

Carter Brown: Leiche - oben ohne (1966)

Zwischendurch liebt das Lesefrüchtchen ein leicht bekömmliches Trivialromänchen, das man unangestrengt und verlustfrei in ein bis zwei Stunden ausgelesen - und sich dabei auch köstlich amüsiert hat. Zu dieser Sorte gehören die Krimis von Carter Brown um den Privatschnüffler "mit Bürstenhaarschnitt" Danny Boyd, an dessen zynischem Schmiss sich dazumal sogar der Lehrstuhl des Philosophen Hans Blumenberg delektierte. Wer faule Sprüche mag, kommt hier bestimmt auf seine Kosten. Wobei das auch an der deutschen Übersetzung liegen mag, in diesem Fall von Will Helm, der bereits im Titel - im Original lautet er schlicht The Black Lace Hangover - seine eigene Sprachkreativität walten lässt. Der Doppelsinn zielt natürlich auf Boyds Vorliebe für, wie es einmal heisst, "denkmalsreife Busen", in Kombination mit einer Leiche kann sich das "oben ohne" allerdings auch auf einen abgetrennten Oberkörper beziehen.

So beginnt der Krimi tatsächlich mit einem paar abgetrennter Frauenbeine, die unter dem Sofa von Boyds - nach einer "ganz verteufelten Party" zerstörten - Wohnung hervorschauen. Der fürchterlich verkaterte Boyd, der während der Party überdies von einem eifersüchtigen Catcher durch den Raum geschleudert wurde, registriert die Körperteile mit dem ihm eigenen Sarkasmus: "Bei so einer wilden Party bleibt ja immer mal was liegen, aber das hier war doch mehr als unglaublich. Irgendwo in Manhattan musste jetzt eine Dame ohne Unterleib herumlaufen." Die Diagnose stellt sich dann aber rasch als irrig heraus, als Boyd, attrahiert von den "prachtvollen Beinen" und "wohlgerundeten Schenkeln" diese zu betatschten beginnt und feststellen muss, dass der Oberkörper keineswegs abgetrennt ist, sondern vom Sofa verdeckt und eben im Begriff ist, einen gellenden Schrei auszustossen: "Sie sind ein Wüstling!"

Das ist der Beginn einer turbulenten Geschichte, die in der ersten Hälfte aus einer fortlaufenden Pechsträhne, an der eine Pleite auf die nächste Panne folgt, in der zweiten Hälfte dann aus einer Reihe an unglaublichen Kehrtwendungen (aka Plot Twists) besteht. Eine richtige Leiche taucht bald auf: Und zwar der ermordete Onkel Joe der namenlosen jungen Frau, die Boyd unter seinem Sofa entdeckte. Sie sei versehentlich auf die Party geraten, weil sie sich im Stockwerk irrte und eigentlich ihren Onkel besuchen wollte. Als sie gemeinsam mit Boyd seine Wohnung betritt, liegt er aufgeschlitzt in der Badewanne. Danach überstürzen sich die Ereignisse: Es stellt sich heraus, dass die junge Frau die Tochter Lucia des im Sterben liegenden Mafiabosses Duke Borman - und ausserdem in grosser Gefahr ist, weil sie entführt werden sollte, um aus Borman auf dem Sterbebett noch wichtige Informationen erpressen zu können.

Boyd wird deshalb von einem anderen Onkel Lucias, Jerome Lansing, gebeten, mit ihr für ein paar Wochen abzutauchen, bis Borman gestorben sei und damit Lucia auch aus der Gefahrenzone. Man kann sich vorstellen, dass sich ein Frauenheld wie Boyd nichts Besseres vorstellen kann, als mit einer attraktiven 22-Jährigen ein paar gemeinsame Wochen zu verbringen. Er hat allerdings die Rechnung ohne ihre "Anstandsdame" Roberta Carrol gemacht, die sie begleiten wird. Doch stellt sich das rasch als das kleinste Problem heraus: Lucia türmt mit Boyds Wagen aus dem Ferienbungalow auf Long Island und Roberta führt ihn an der Nase herum, das heisst konkret: sie ver-führt ihn, um gleich darauf auch abzuhauen. Boyd fühlt sich somit gleich doppelt betrogen - als Ermittler wie als Liebhaber: "Ich war nahe dran, den Geist aufzugeben, als ich erkannte, dass es keineswegs mein unwiderstehlicher Charme gewesen war, der sie in meine Arme geführt hatte."

Auch in der Folge reiht sich Betrug an Betrug und Bluff an Bluff. Alle werden reihum an der Nase herumgeführt. Als grosser Strippenzieher im Hintergrund erweist sich ein gewisser Dane Fordyce, der in wunderbar satirischer Überspitzung als kleines affenartiges Männchen geschildert wird, das fast hinter dem Telefonhörer verschwindet. Aber wie so oft, sind die kleinsten Wichte die grössten Bösewichte. Er hat Onkel Joe auf dem Gewissen, aus Gewinnsucht. Um den Verdacht von sich abzulenken, wollte er die Tat seiner Witwe - als die sich Roberta herausstellt - in die Schuhe schieben und Boyd sollte als nichtsahnender Strohmann dienen, als "einer, der leicht auf ein hübsches Lärvchen hereinfällt". Denn auch Lucia war keineswegs zufällig auf seiner Party, sondern sollte ihn auf eine falsche Fährte führen. Unerwartet taucht auch ihr Vater, der Duke, quicklebendig auf, der seinen baldigen Tod nur vortäuschte, um inkognito nach dem Rechten zu sehen. So bietet jede Seite eine neue Überraschung und die Geschichte endet so überstürzt wie sie begonnen hatte.

Samstag, 24. Mai 2025

Terry Southern / Mason Hoffenberg: Candy (1958)

In diesem Roman gibt sich Freuds gesamte Trieblehre ungehemmt ihr feucht-fröhliches Stelldichein, vom Ödipus-Komplex bis zu den sexuellen Neurosen. Geschildert wird eine Welt, in der sich jeder unmittelbar seine Befriedigung sucht. Das muss auch Candy erfahren, eine zwar bildhübsche, aber reichlich blauäugige Studentin, die einer rückständigen Romantik nachhängt. Sie idealisiert und vergöttert Männer und neigt zu einem devoten Verhalten, das auch ihre Sexualität bestimmt: "Sich hingeben", so schreibt sie in ihrer Seminararbeit über "Die Liebe in unserer Zeit", sei "nicht bloss eine von überholtem Aberglauben diktierte Pflicht, sondern ein erhebendes und erregendes Vorrecht." Und mit dieser Überzeugung gibt sie sich bereitwillig hin, wo Triebstau und sexuelle Not am Mann ist. Sie opfert sich quasi für einen guten Zweck. Doch wird ihr Idealismus jedes Mal herb enttäuscht, wenn sie bemerkt, wie wenig die Männer ihre romantischen Phantasien teilen und sie viel eher als williges Sexobjekt betrachten. Vollends ad absurdum getrieben (im wahrsten Sinne des Wortes) wird es am Ende bei der Sekte der "Knaller", wo Candy durch einen Yogi unter dem Vorwand, sie auf die spirituelle Ebene zu führen, penetriert wird, "nicht als Lustobjekt, sondern als Manifestation geistigen Fortschritts". Was hier aufgrund der Verkehrung der Gegensätze komisch wirken soll, ist eigentlich nicht zum Lachen, sondern war, wie wir heute wissen, in der Baghwan-Sekte bittere Realität.

Der Plot bezieht sich lose auf zwei Prätexte: Zum einen auf Marquis de Sade, der seine Justine als Personifikation von Unschuld und Rechtschaffenheit auf einen harten Leidensweg schickt, auf dem sie sich fortlaufend unfreiwillig hergeben muss. Das unterscheidet sie von Candy, die zum anderen an Voltaires Candide orientiert ist. Der Namen Candy markiert eine Art Schwundform von Candide. Voltaire entwarf diese Figur, um die These des Philosophen Leibniz über die beste aller möglichen Welten der Lächerlichkeit preiszugeben. Dazu erfand er die Figur des Candide, die im naiven Glauben an diese Prämisse durch die Welt schreitet und dabei stets nur das Gegenteil erlebt. Sein Idealismus wird im Verlauf der Geschichte ebenso hart auf die Probe gestellt wie Candys Unschuld. Während sich Candide aber am Schluss resigniert aus der Welt zurückzieht und seinen sprichwörtlich gewordenen Garten pflegt, begeht Candy auf der Suche nach transzendentaler Erleuchtung unbemerkt Inzest mit ihrem Vater, obschon sie noch kurz zuvor beteuert, dass sie nicht anders könne als begehrt zu werden - "ausgenommen von Daddy!" So endet der Roman abrupt mit einer Anagnorisis-Szene, welche die letzte Desillusionierung für Candy bereithält: Dass nicht einmal das Inzest-Verbot dem männlichen Begierde Einhalt gebietet. Ob Lehrer, Ärzte, Geistliche, ja sogar der leibliche Vater, sie alle sind nur scharf auf Candys "poussierliches Pünzelchen".

Das Buch erschien ursprünglich unter dem Pseudonym Maxwell Kenton in der Olympia Press, die für schlüpfrige Texte, aber auch den Vertrieb von gewagter Avantgarde-Literatur bekannt war. Candy versucht beides zu sein: Pornographie und Parodie. Und es gelingt doch nicht richtig. So vielversprechend die Idee ist, der Witz will nicht immer zünden. Die Masche ist allzu rasch durchschaubar und die Umsetzung grösstenteils plump oder nur fad. Es reicht einfach nicht, ein paar schräge Szenen (Sex im Spital, Sex mit einem Buckligen) oder serienweise Umschreibungen für das weibliche Geschlechtsorgan als "kleine Zuckerdose", "Gewürzbüchschen", "Pelztörtchen", "Honigtöpfchen", "Liebesmuschel", "Erdbeerkörbchen" oder "süsses Marzipanschneckchen" aufzutischen. Dabei wäre Terry Southern ein Mann von Fach, ein renommierter Drehbuchautor, der unter anderen für Stanley Kubrick die Nazi-Groteske Dr. Strangelove schrieb und das Skript für Easy Rider mitverfasste. Beides zwei überaus erfolgreiche Filme. Auch Candy selber wurde 1968 verfilmt, trotz beachtlichem Staraufgebot (Marlon Brando, Walter Matthau, Ringo Starr) reichlich erfolglos. Die pornographischen Sequenzen sind lediglich angedeutet, so dass allein der relativ dünne Plot übrigbleibt. So fehlt dem Film gerade, was allenfalls den Reiz des Roman ausmacht: der demonstrative Tabubruch, der von Vulgärsprache bis hin zum finalen Inzest zwischen Vater und Tochter reicht. Damit bleibt er seiner Zeit verhaftet, denn provokant wirkt das heute alles nicht mehr, eher allzu pennälerhaft.