Montag, 2. September 2024

Andy Warhol: Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück (1975)

Der Titel ist natürlich mit einem Augenzwinkern zu verstehen. Eine Philosophie im eigentlichen Sinn ist bei der Popart-Ikone nicht zu erwarten. Vielmehr versammelt das auf dem Höhepunkt seiner Karriere entstandene Buch - 1962 gründete Warhol seine Factory und er kreierte seine berühmte Siebdruck-Serie der Campell's Soup Cans - eine Fülle von Ansichten und Lebensweisheiten aus der New Yorker Party- und Glamour-Szene über Schönheit, Sex, Geld, Kleider, Kunst, Ruhm, Erfolg und was die High Society sonst noch so beschäftigt. Wie auch in seinen Kunstwerken so orientiert sich Warhol auch in seinen Maximen und Reflexionen an den gesellschaftlichen Oberflächenphänomenen, um sie subtil zu subvertieren. Dabei sind seine Ansichten zuweilen erhellend, zuweilen belanglos, immer aber unkonventionell, mitunter provokant.

Ein paar willkürlich ausgewählte Kostproben: "Der höchste Preis, den du für die Liebe zahlen musst, ist, dass du jemanden um dich hast und nicht für dich allein sein kannst, was selbstverständlich besser ist." "Ein biederes Erscheinungsbild finde ich am besten. Wenn ich nicht so 'schlecht' aussehen wollte, dann würde ich 'bieder' aussehen wollen. Das fände ich auch gut." "Bei mir geht's ran, wenn's abgeht, ab ins Bett und Schluss. Das ist der grosse Moment, auf den ich immer warte." "Ich mag Geld an der Wand. Nehmen wir an, du wolltest ein Bild für 200 000 Dollar kaufen. Ich meine, dass du das Geld an eine Schnur binden und an die Wand hängen solltest." "Ein Künstler ist jemand, der Sachen produziert, die keiner haben muss." "In deinem Schrank sollte alles mit einem Verfallsdatum versehen sein, so wie bei Milch und Butter und Illustrierten und Zeitungen, und wenn das Verfallsdatum überschritten ist, sollte man das Ding wegwerfen."

Die im Titel erwähnten Buchstaben A und B suggerieren keine enzyklopädische Ordnung, vielmehr stehen sie für die beiden Gesprächspartner A und B, wobei letzterer eine Art sokratische Hebammenfigur darstellt, die A (i.e. Andy) seine Alltagsphilosopheme entlockt. Es handelt sich also um eine platonischer Dialog im Popart-Gewand, der zuweilen Nonsens-Dialoge vorwegnimmt, wie man sie später aus Tarantino-Filmen kennt, wenn sich zwei Figuren in Nebensächlichkeiten verbeissen, wie hier etwa anhand der Frage nach der Körpergrösse von Ursula Andress: Wo A behauptet sie sei ein Zwerg, bestreitet das B vehement, wobei diverse spitzfindige Argumente aus dem Köcher gezogen werden (z.B. die mutmassliche Höhe der Absätze unter den Schlaghosen), die jedem antiken Sophisten Freude gemacht hätten.

Höhepunkt des 'philosophischen' Rundumschlags sind zweifellos die Beschreibung von Warhols Manie, alles Erdenkliche die Toilette hinunterzuspülen bei gleichzeitiger Angstlust, dass es die Toilette verstopfen und wieder zum Vorschein kommen könne, sowie das Bekenntnis seines Unterhosen-Fetisch. Der Unterhosenkauf besitzt für Warhol eine nachgerade existenzielle Komponente: "Ich meine, ich würde lieber zusehen, wie einer seine Unterhosen kauft, als dass ich ein Buch lesen wollte, das er geschrieben hat." Seine Menschenkenntnis leitet Warhol auch hier vom Konsumgut ab, wobei es sich bei der Unterhose paradoxerweise um Intimwäsche und Warenartikel zugleich handelt, das Innere und Äussere also quasi dialektisch vermittelt.

Als wahrhaft philosophisch erweisen sich Warhols Reflexionen schliesslich dort, wo er ein Alltags-Mysterium thematisiert, das bis heute wohl alle auch regelmässig beschäftigt, auf das er aber ebenso wenig eine befriedigende Antwort finden: Weshalb verschwinden beim Waschen ständig Socken in der Maschine? Und wohin verschwinden sie? "Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger kann ich an die abnehmende Zahl glauben. Das ist einfach nicht zu glauben!" Theoretisch zu ergründen offenbar auch nicht. Es bleibt ein Stück unbewältigte Metaphysik.

Dienstag, 27. August 2024

John Hawkes: Travestie (1976)

Ein Buch, das einen von der ersten Seite an fraglos und unmittelbar fesselt. Und das obschon die gesamte Erzählanlage hochgradig unrealistisch ist. Handelt es sich doch um einen einzigen langen Monolog, in Echtzeit vorgetragen, und zwar am Steuer eines mit Hochgeschwindigkeit fahrenden Autos. Auf dem Nebensitz befindet sich ein renommierter Lyriker, der nicht nur ein Verhältnis mit der Frau des Autofahrers, sondern auch mit dessen Tochter einging, die sich hinten auf dem Rücksitz verkriecht und aus Todesangst irgendwann übergeben muss. Der Fahrer nimmt beide mit auf eine letale Amokfahrt durch die Nacht mit dem erklärten Ziel, den Wagen am Ende mit allen Insassen gegen die Mauer einer alten Scheune prallen zu lassen und damit seine "private Apokalypse" herbeizuführen. Ein acte gratuit, wie der Fahrer selber zugibt, absurd und sinnlos: "was jetzt geschieht, muss jedem, ausser vielleicht den Insassen des zerstörten Wagens, unsinnig erscheinen".

Das literarische Motiv ist durch den Futurismus vorgeprägt. Tommaso Marinetti schildert im ersten Futuristischen Manifest eine ebenso waghalsige Autofahrt, die letztlich auch im (schier tödlichen) Unfall mündet, aus dem der Fahrer, aber - gestählt durch seinen Wagemut - als neuer Mensch hervorgeht. Der Crash als schöpferischer Akt und als Wiedergeburt. Einen ähnlich (pro)kreativen Effekt verspricht sich der Fahrer von dem nächtlichen Todesritt, den er mit dem Liebhaber seiner Frau und Tochter unternimmt. Nicht Eifersucht sei sein psychologisches Motiv, wie er beteuert, auch nicht Rache oder Strafe. Aus der schier endlosen Suada, die der Monolog- und Autoführer von sich gibt, geht sein Motiv zwar nicht restlos hervor, dafür umso deutlicher seine Perversionen. Insbesondere lässt sie tief blicken, was seinen Hang zum Sadismus betrifft.

Gleich zu Beginn bekennt er, ihn habe als Jugendlicher nichts so sehr fasziniert, wie verstümmelte Leichenbilder und Pinups. Die Kombination von Gewalt und Erotik hat ihn schon früh geprägt. Ihren Höhepunkt erreicht sie in der Affäre mit Monique, die er eines Abends mutwillig übers Knie legt und verdrischt, aus Revanche dann von ihr ungleich brutaler mit dem Gürtel gezüchtigt wird, was ihn aber zur Erkenntnis führt, dass "im Sadismus Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung" liege. Im Vergleich zu diesem Flagellantismus stellt die Todesfahrt für ihn die ultimative Ekstase dar, nachdem er jahrelang die Affäre des Lyrikers mit seiner Frau und Tochter nicht nur toleriert, sondern auf seine perverse Art auch gefördert und mitverfolgt hat, nur um alle (auch sich selbst) im entscheidenden Augenblick auszulöschen.

Weshalb aber heisst der schmale, von Jürg Laederach bravourös ins Deutsche übertragene Roman "Travestie"? Als literarisches Verfahren versteht man darunter die komische Verfremdung eines klassischen Stoffes. In diesem Fall ist es das bürgerliche Eifersuchtsdrama, das hier karnevalesk verkehrt wird. Keine heimlichen Liebschaften, kein offenes Duell unter Ehrenmännern, sondern eine perverse (und das heisst auf lateinisch wörtlich: verkehrte, also travestierte) und von langer Hand orchestrierte menage à quatre, die ihre Erfüllung im Kollektivtod finden soll. Als Schlüsselerlebnis gibt der Fahrer ein "Vorkommnis in [s]einem frühen Mannesalter" an, als er blindwütig auf einen älteren Herrn mit einem Mädchen lossteuerte, und das er "eine Art Travestie, mit einem Wagen, mit einem alten Lyriker und mit einer jungen Frau" bezeichnet, also eine direkte Vorwegnahme dessen, was er im Begriff ist, gerade nochmals aus- und diesmal auch: zu Ende zu führen.

Der Roman endet tödlich, zumindest mit dem "Versprechen": "Es wird keine Überlebenden geben. Keine."


Montag, 19. August 2024

Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974)

Weshalb erschiesst eine unscheinbare unbescholtene junge Frau kaltblütig einen Journalisten? Heinrich Bölls Antwort ist einfach: Weil sie zuvor schon der Presse zur Verbrecherin gestempelt wurde. Der Mord der Katharina Blum ist wie Bölls Buch eine direkte Abrechnung mit den unlauteren und ehrverletzenden Methoden des Skandaljournalismus, konkret der ZEITUNG, wie sie stets in Grossbuchstaben genannt wird und dabei das Layout der sensationslüsternen Headlines imitiert, wie man sie aus Boulevardzeitungen wie BILD u.ä. kennt. Es ist auch mehr als offensichtlich, dass Böll mit seiner berichthaften Erzählung das Imperium des Medienmoguls Alex Springer anklagt, wenn es im Impressum in ironischer Abwandlung üblicher Fiktionalitäts-Disclaimer heisst: "Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit Praktiken der ‘Bild’-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtig noch zufällig, sondern unvermeidlich." Der arme Axel! Hatte Daniel de Roulet zwei Jahre zuvor sein Chalet in Gstaad abgefackelt, sah er sich nun verbal von einem Nobelpreisträger attackiert und verunglimpft. Springer, darüber nicht erfreut, hatte seine Zeitungsredaktoren nach Erscheinen des Buchs angewiesen, die Bestsellerlisten temporär nicht mehr abzudrucken, weil Böll dort ganz oben figurierte.

Die Geschichte folgt dem Prinzip des analytischen Dramas: Eine gewisse Katharina Blum zeigt sich bei der Polizei wegen des Mordes an einem Journalisten an. Vor kurzer Zeit war sie bereits einmal auf dem Posten, weil sie Kontakt zu einem gesuchten Straftäter  hatte. Die Polizei glaubte an ein von langer Hand geplantes Komplott, doch Katharina kannte ihn vorher nicht, sondern hat sich an nur einem Abend Hals über Kopf in ihn verliebt. Um den Mann ihres Lebens zu schützen, verhilft sie ihm zur Flucht und lässt ihn im Landhaus ihres zudringlichen "Herrenbesuchs" – ein vermögender Freund ihres Chefs und Vermieters macht ihr regelmässig Avancen – untertauchen. Aus all diesen zufälligen Einzelheiten konstruiert die Polizei, vor allem aber die Presse falsche Kausalzusammenhänge, die Katharina Blum in immer schlechterem Licht dastehen lassen. Erst recht da der "Herrenbesuch", ein öffentlich bekannter Industrieller, um seinen guten Ruf fürchtet und seinen Einfluss in den Chefetagen der Redaktion spielen lässt. Die Journalisten schnüffeln in Blums Vergangenheit herum, befragen Bekannte und frühere Kollegen, drehen diesen das Wort im Munde herum, stets natürlich zu Ungunsten der Blum, die schliesslich als gemeingefährliche Terroristenbraut dasteht.

Dann folgt der letzte Twist der Erzählung: Nun denken natürlich alle, Katharina Blum habe sich am Journalisten für seine üblen Verleumdungen rächen wollen und ihn deshalb erschossen. Es wird auch nicht in Abrede gestellt, dass sie mit diesem Gedanken gespielt habe. Jedenfalls nahm sie eine geladene Pistole mit an den vorgetäuschten Interviewtermin, den sie arrangierte, um der Person, die ihr Leben ruinierte, von Angesicht zu Angesicht in die Augen zu sehen. Auslöser für den Schuss war dann aber keine direkte Vergeltungsmassnahme. Der Grund war, weil der Journalist die Interviewsituation ausnutzen und sich an Katharina Blum vergehen (wie es im Original so schön heisst: an ihre "Kledage" gehen) wollte. Es handelte sich, das suggeriert diese finale Episode, offenbar um ein ganz mieses Exemplar der Journaille. Er glaubt, die verzweifelte Lage, in die er Blum durch seine tendenziösen Artikel gebracht habe, auch noch schamlos ausnutzen zu können. Wie man im Laufe des Buches erfährt, ist die zwar gut aussehende, aber etwas prüde Katharina Blum immer mal wieder zum unfreiwilligen Opfer solcher Übergriffe geworden.

Das Ganze ist im nüchternen Protokollstil erzählt, stets durchsetzt mit einer Prise Süffisanz und Sarkasmus, etwa wenn der Begriff "Quelle" (für Informationsquellen wie sie im Journalismus, aber auch bei der Polizeiarbeit zentral sind) beim Wort genommen und daraus das leitende ‘Pfützengleichnis’ vom Zusammenführen verschiedener Rinnsale gebildet wird. Auffällig ist auch, dass der Name des gesuchten Verbrechers Göttens fast die anagrammatische vertauschte Namensform des ermordeten Journalisten Tötgens ist und zugleich ein telling name: Tötgens wird tatsächlich von Blum getötet, während Göttens von ihr vergöttert wird. Dieses Beispiel belegt den stark schematischen Aufbau der Geschichte, die trotz einer höchst unplausiblen Handlung doch oft holzschnitzartig in der Figurenzeichnung und den verwendeten Stereotypen ist – und sich damit von der plakativen Art eines Boulevardblatts kaum unterscheidet, nur dass hier natürlich gegen die Revolverpresse Stimmung gemacht wird. Die Absicht ist dem Text von Anbeginn deutlich eingeschrieben, worunter nicht nur die Differenziertheit leidet, sondern auch die literarische Qualität. Die eingestreute Behauptung, dass "hier nicht ge-, sondern nur berichtet werden soll", ist genau so zweifelhaft wie in vielen Zeitungsberichten. Ein Stück Tendenzliteratur. 

Mittwoch, 7. August 2024

Haruki Murakami: Kafka am Strand (2002)

Kafka ist hoch im Kurs wegen seinem 100. Todestag. Das Lesefrüchtchen nimmt dies zum Anlass, um - nein, nicht Kafka selbst zu lesen, den kennt es schon zu Genüge, sondern um sich auf bislang unbekanntes Terrain zu wagen. Angelockt vom Titel, liest es seinen ersten Murakami: Kafka am Strand. Um den historischen Franz Kafka geht es dabei jedoch nur am Rande, nur einmal wird der Schriftsteller und seine bekanntesten Bücher kurz erwähnt. Mit Kafka ist stattdessen der 15jährige Kafka Tamura gemeint, der an einer Stelle so charakterisiert wird: "Cool wie eine Gurke, geheimnisvoll wie Kafka." Echt jetzt? Er wählte diesen Übernamen, um sich als Ausreisser von zuhause "ein neues Ich" zu schaffen. Dieses neue Ich artikuliert sich als innere Stimme eines Jungen namens Krähe, weil - jahaha! -Kafka auf tschechisch Krähe bedeutet, worauf der Roman auch nicht versäumt hinzuweisen. Kafka-Fans wissen das natürlich längst. Das Familienwappen von Franz Kafka ziert eine rabenschwarze Krähe. 

Dieses Krähen-Über-Ich begleitet den jungen Kafka auf seinem Weg ins Erwachsenwerden, das jedoch rasch phantastische Züge annimmt und ziemlich verworren wird. Kafka schlittert in einer Art Traum- oder Parallelwelt, in der sich die unheilvolle ödipale Prophezeiung seines Vaters zu erfüllen scheint: Er (oder vielmehr stellvertretend für ihn der Katzenflüsterer Nakata) bringt ihn um und begeht Inzest mit seiner Mutter und seiner Schwester - ob real oder nur in seiner Vorstellung ist ebenso unklar wie ob es sich tatsächlich Mutter und Schwester handelt, die er seit dem vierten Lebensjahr nie mehr gesehen hat. Jedenfalls glaubt er in einer Tramperin seine Schwester und seine Mutter in der mysteriösen Bibliothekarin Saeki-San, die früher eine kurze Karriere als Sängerin und einen grossen Erfolg mit dem Lied Kafka am Strand hatte. Nun hängt ein Gemälde mit dem selben Titel in der Bibliothek, das offenbar Seaki-Sans früheren Geliebten zeigt, der um tragische Weise ums Leben kam, weshalb sie schliesslich die Gesangskarriere aufgab.

Der Songtext handelt von einem Moment, bei dem Fische vom Himmel fallen und ein Stein den Eingang in eine andere Welt öffnet, die von Soldaten bewacht wird. Genau das, was die Lyrics prophezeien, ereignet sich dann, wobei das Schicksal von Tamura Kafka auf unerklärliche Weise mit demjenigen von Nakata gekoppelt ist. Bei einem paranormalen Vorfall in der Kindheit wurde Nakata schwachsinnig, glaubt seither aber Katzen sprechen zu hören und verdient seinen Lebensunterhalt damit, herumstreunende Tiere wieder ihren Besitzern zurückzubringen, bis er auf Johnny Walker stösst oder vielmehr auf eine Art Dämon, der sich in Gestalt des Whiskey-Brands manifestiert. Er zwingt Nakata auf perfide Weise - indem er vor seinen Augen reihum die geliebten Katzen abschlachtet - dazu, ihn selbst zu ermorden. Doch wie sich am nächsten Morgen herausstellt, handelt es sich bei der Leiche um den Vater von Kafka, der nach der Mordnacht ebenfalls mit blutverschmiertem Shirt aufwacht. Höhere Mächte kitten fortan beide aneinander, ohne dass sie gegenseitig von ihrer Existenz wissen. Nakata schafft es mit Hilfe eines Truckers, den Eingang zur Parallelwelt zu öffnen und ermöglicht es dadurch Kafka, in sie einzutreten. Während Nakata mit dem Leben dafür bezahlt, kehrt Kafka als gereifter Jüngling vom "Rande der Welt" zurück. Am Ende weiss man nicht, was Realität, was blosse Einbildung und Traum war. Fest steht nur, dass der Junge namens Krähe seinen Adoleszenzprozess abgeschlossen hat.

Kafka am Strand ist Mysterythriller, antike Tragödie (Ödipus-Motiv), Coming-of-Age-Geschichte, Fantasyroman, japanische Gespenstersage und zu zwei Dritteln ein veritabler Pageturner, der all die aufgebaute Spannung am Ende aber nicht auflöst.. Vor allem aber ist der Roman, was man heutzutage Midcult nennt: eine seichte Lektüre, die einen gehobenen Anspruch erwecken will, ohne ihn wirklich einzulösen. Bestes Beispiel dafür ist der Titel, der Kafka zwar zitiert, was für den Roman aber insgesamt keine Rolle spielt. Der Protagonist könnte genauso gut Konrad heissen, das würde keinen Unterschied machen und der Geschichte auch nichts fehlen. Zum Midcult gehört auch das zwar raffiniert, aber letztlich doch bedeutungslos eingestreute Bildungsgut, das mit der Handlung in keinem anderen Bezug steht, als dass eine Figur gerade ein Buch liest oder bestimmte Musik hört, ansonsten aber keinen übergeordneten Symbolwert besitzt, lediglich äusserlich aufgesetzt ist. So referiert ein Café-Besitzer lang und breit über Beethovens Erzherzog-Trio, der geneigten Leserin wird also en passant kanonisiertes Bildungswissen serviert, dabei ist dieses Stück für den Text selbst nicht mehr als nur eine weitere Requisite, ohne die er ebenso bruchlos funktionieren würde.

Damit ist ein zentrales Merkmal von Murakamis Schreibstil angesprochen: Er operiert stark mit Versatzstücken nicht nur inhaltlicher, auch rein sprachlicher Natur. Auffällig etwa dort, wo banale Handlungsabläufe wie Aufstehen, Essen, Waschen, Zu-Bett-Gehen in allen irrelevanten Einzelheiten und repetitiv geschildert werden. Das bringt die Erzählung voran, ohne dass wirklich etwas geschieht, und dient wohl der lesenden Erholung. Man liest, ohne sich übermässig konzentrieren und Informationen aufnehmen zu müssen. Die Leserin kann sich vom Text berieseln lassen wie von einer Telenovela und hat trotzdem das Gefühl, an der gehobenen Literatur teilzuhaben. Damit soll dieses Leseerlebnis nicht geschmälert werden. Schliesslich tut es hin und wieder einfach gut, einen dickleibigen Roman in einem Schnurz durchzulesen. Ärgerlich ist am Ende dann nur, dass man - wie nach einem Besuch in einer Fastfood-Kette - mit einem falschen Gefühl der Sättigung zurückgelassen wird. Alles, was sich als so bedeutungsschwanger ankündigte, verflüchtigt sich als heisse Luft.

Samstag, 3. August 2024

Bret Easton Ellis: American Psycho (1991)

Und nun nach all den leichtfüssigen, um nicht zu sagen schwachbrüstigen, Ferienlektüren zum mit Abstand besten Buch, das sich das Lesefrüchtchen in dieser Zeit vorgeknöpft hat, weil das Buch viel riskiert und nur gewinnt: American Psycho von Bret Easton Ellis, mittlerweile natürlich fast schon ein zeitgenössischer Klassiker. Das Lesefrüchtchen hat bislang aber weder das Buch gelesen noch die Verfilmung gesehen. In zweierlei Hinsicht ist der Roman total radikal: Einerseits im Warenfetischismus, der pausenlos betrieben wird, andererseits in den explizit geschilderten Gewaltausbrüchen.

Etwa die Hälfte des Buches besteht ausschliesslich in der abundanten Aufzählung von Kleider- und Markennamen. Jede auftretende Figur wird detailliert mit ihren Kleidungsstil mit allen Labels, Stoffen und Accessoires beschrieben - und das wird auch bis zum Ende des Romans knallhart ad nauseam durchgezogen. Und geschätzt auf jeder zweiten Seite taucht wieder eine Hardbody-Kellnerin auf. Darin zeigt sich die Oberflächlichkeit der mondänen Scheinwelt, in der sich die Yuppies bewegen, die lediglich aus Status, Geld, teuren Klamotten und einem durchtrainierten Körper besteht, hinter der sich dann aber die wahren Abgründe auftun. Diese Beschreibungswut erinnert in ihrer Exzessivität an die enzyklopädischen Aufzählungen von Parfüms und Düften, Stoffen und Farben in Huysmans Décadence-Roman A rebours. Stand dort mit Des Esseintes ein überreizter, gefühlskalter Dandy im Zentrum, haben wir es hier mit einem hochnarzisstischen Snob zu tun.

Patrick 'Pat' Bateman, ein Wall Street Banker, aus dessen Perspektive simultan alles geschildert wird, fokussiert sich manisch auf alle äusserlichen Etiketten und versucht sich in seiner Peergroup zu behaupten. Er will, wie er freimütig bekennt, einfach auch dazugehören. Nicht immer erfolgreich, wie einige satirische Episoden demonstrieren: etwa beim Visitenkarten-Vergleich oder beim vergeblichen Versuch um angesagten Szenerestaurant Dorsia einen Tisch zu reservieren. Die Schmach, vom Dorsia abgelehnt zu werden, während andere, wie sein Bruder dort fast Hausrecht geniessen, zieht sich als running gag durch den gesamten Roman. Besonders amüsant dort, wo Bateman seine Sekretärin pseudogenerös zum Essen auffordert und ihr die Wahl des Lokals überlässt. Natürlich nennt sie just das Dorsia und Bateman versucht dann verzweifelt, doch vergeblich einen Tisch zu ergattern, nachdem er sich unter falschem Namen einschmuggeln wollte. Vielleicht ist es diese subtile gesellschaftliche Zurückweisung oder bloss der Ennui einer sinnleeren Designexistenz, die Bateman dazu bringt, grausame Morde in Serie zu verüben. Bettler, denen ohnehin seine Verachtung gibt, schlachtet er ebenso ab, wie ihm verhasste Schwuchteln, bevorzugt aber hübsche junge Frauen und Prostituierte, an denen er vorher noch seine sexuellen Perversionen auslebt.

Hier zeigt sich die andere Radikalität des Romans: Was hier an gewaltpornographischen Phantasien ausgebreitet wird, übersteigt sogar das kranke Gehirn eines Marquis de Sade. Kulminationspunkt ist sicher der Fellatio mit einem abgetrennten Kopf, den Bateman an seinem erigierten Penis durch den Raum trägt. Das sind Bilder, die nicht mehr aus dem Kopf gehen, so gerne man sie auch verbannen würde. Sie setzen aber den notwendigen Kontrapunkt zu den Perversionen und den nicht minder kranken Exzessen der Yuppie-Gesellschaft. In einem Moment der Selbsterkenntnis fasst es Bateman so zusammen: Alles, was er gelernt habe, alle Prinzipien, alle Moral, Bildung etc. habe sich als falsch erwiesen. Worauf alles hinausläuft sei lediglich: friss oder stirbt. Und Bateman nimmt diese Redewendung wortwörtlich, wenn er beginnt, seine Opfer nicht nur zu malträtieren, sondern auch zu verspeisen. Bateman erkennt auch unumwunden seine "Entmenschlichung" an, er versucht sich weder zu rechtfertigen noch empfindet er Reue. Vielmehr ist er der Überzeugung, dass er der Wirklichkeit nur den Spiegel vorhalte: auf übertriebene Weise das Friss und Stirb des Alltags lediglich imitiere. In einer grandiosen Szene wird diese Erkenntnis ad absurdum getrieben. Bateman, der Live-Konzerte verabscheut, wird an ein Konzert der irischen Band U2 geschleppt, wo er eine Art Epiphanie erlebt. Plötzlich schwinden alle Umweltsinne und Bateman sieht Bono von der Bühne auf ihn zukommen und ihm zuflüstern: Ich bin wie du, auch ich bin der Teufel ... Ausgerechnet der selbsternannte Gutmensch Bono verbrüdert sich mit dem Serienkiller. Was für eine brillante, ja maliziöse Pointe! Eine weitere, aus heutiger Sicht nachgerade beängstigende Pointe besteht darin, dass Bateman ein grosser Fan von Donald Trump ist.

Der Roman lässt offen, ob Bateman alle Greueltaten tatsächlich begeht oder ob sich alles nur in seiner Phantasie abspielt, ob es sich um Rachephantasien an einer Gesellschaft handelt, der er zwar gerne angehören möchte, die ihn zugleich aber auch abstösst. In einer signifikanten Stelle des Romans stellt sich Bateman vor, wie er durch den Riss in der Wand einer Toilette verschwinden würde und niemand würde davon Kenntnis nehmen. Der Protagonist leidet unter mangelnder Aufmerksamkeit, die er sich auch durch seine Morde, ob nur behauptet oder tatsächlich verübt, nicht erringen kann. Mehrfach betont er in Gesprächen mit seiner Freundin und seinen Kollegen die Gewalttaten gibt sich sogar als Mörder zu erkennen, doch niemand nimmt ihn ernst. Die Meisten hören gar nicht zu, sondern ignorieren ihn einfach und sprechen über ihre Heirats- oder Ferienpläne. So liest sich der Roman, der in Echtzeit aus der Ich-Perspektive geschrieben ist, was diegetisch eine Unmöglichkeit darstellt, technisch aber überzeugend gut funktioniert, wie ein ausgedehnten Geständnis oder wie eine ungeheure Provokation, um wenigsten von der Leserschaft die Aufmerksamkeit zu bekommen, die ihm im gesellschaftlich verwehrt wird.

In den Roman eingestreut sind auch drei scheinbar unmotivierte Kapitel mit Plattenbesprechungen von Genesis, Withney Houston und noch eine Gruppe, die ich jetzt vergessen habe. Bateman, der eine grosse CD-Sammlung besitzt - CDs waren in den 1980ern der letzte Schrei, weshalb ein Yuppie selbstverständlich auf dieses Medium setzte (heute wäre das anders) - erweist sich darin als feinfühliger und verständiger Liebhaber von Musik. Sie stehen im Kontrast zur ansonsten demonstrativen Orientierung an Oberflächlichkeiten. In solchen Passagen entfaltet sich die wahre Grösse des Romans, der eben nicht nur mit Schockmomenten arbeitet, das wäre zu billig, sondern auch genügend Irritationsmomente einstreut und somit eine Ambivalenz schafft, die mehr zur Auslotung psychischer Untiefen beiträgt, als ein moralisch übergestülptes Schwarz-Weiss-Schema.

Mittwoch, 17. Juli 2024

Ferienlektüre

Das Lesefrüchtchen macht, was denn sonst, Leseferien. Anstelle von Strandliteratur und aktuellen Bestsellern deckt es sich mit einem Koffer voller Bücher ein, die schon lange herumstehen, Wandschränke und Regale verstopfen, um sie endlich los zu werden. Jetzt oder nie. Die Devise ist, alle Bücher in den Ferien wenigstens an- und wenn sie etwas taugen sogar auszulesen. Auf alle Fälle werden sie am Urlaubsort zurückgelassen für andere Lesefreudige oder die nächste Putzequipe, die sie ins Altpapier befördert. Denn um Altpapier handelt es sich bei den in die Jahre gekommen, stark abgenutzten, zerfledderten, irgendwo auf einem Flohmarkt oder bei einem Billighändler erworbenen Schmöker durchaus. Klassisches Lesefutter also, das rasch konsumiert und noch schneller vergessen und entsorgt werden kann. Ein paar kleine Reminiszenzen seien hier gleichwohl festgehalten:

Jack London, der "amerikanische Balzac", ein Vielschreiber und früher bei vielen Jugendlichen bekannt für seine Abenteuerromane. Er setzte sich ein Pensum von mindestens 1500 Wörtern pro Tag und schuf innerhalb von 16 Jahren mehrere hundert Erzählungen und über 40 Bücher. Bevor Adam kam ist die Geschichte eines Mannes mit gespaltenem Bewusstsein. Am Tag lebt er als moderner Mensch, nachts kehrt er im Traum in das prähistorische Dasein seiner tierischen Urahnen zurück. Diese "Traumpersönlichkeit" entwickelte der Ich-Erzähler schon früh als Kind, als er von wilden Tieren träumte, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Erklärt wird diese "Halb-Bewusstseins-Spaltung" durch eine "Anomalie". Der Protagonist präsentiert sich als "Wesen mit abnormen Erbgut", das heisst, seine "rassischen Erinnerungen" an die Urzeit sind bei ihm viel ausgeprägter als bei anderen Menschen. So durchlebt er im Traum nochmals die Abenteuer seines früheren Affen-Ichs namens Langzahn, zusammen mit seinem Freund Schlapport und der Flinken, mit der er später den Nachwuchs zeugen wird. Sie zählen zu einer schon etwas weiterentwickelten Spezies im Unterschied zum furchteinflössenden "Rotauge", ein wilder Uraffe, der als reiner "Atavismus" geschildert wird. Auf der anderen Seite existieren bereits Feuermenschen, die ihnen technisch überlegen sind.

Eine Zeitreise nicht im Traum, sondern mit einer Maschine erzählt H.G. Wells in seinem SF-Klassiker Die Zeitmaschine. Die Reise führt auch nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Ein namenloser Zeitreisender schildert einer Abendgesellschaft, nachdem er ein Modell seiner Zeitmaschine demonstrierte, seine Erlebnisse in der Zukunft. Und die sind alles andere als ermutigend. Er gelangt zwar in ein goldenes Zeitalter, in dem alle sozialen Probleme beseitigt sind und keine Gefahren mehr drohen und alle Menschen in Glückseligkeit leben - die allerdings um den Preis vollkommener Antriebslosigkeit. Die Eloi, das Volk, das er antrifft, befindet sich bereit auf einer degenerierten Stufe der Menschheit. Die ätherischen Wesen, die stets fröhlich, aber unbedarft sind, besitzen keine Kultur und keine Individualität; die herdenartige Schar von Menschen vegetiert mehr oder weniger nur vor sich hin. Daneben gibt es die bedrohlichen Morlocken, glitsche molchartige Wesen mit Glupschaugen, die unter der Erde leben. Zunächst vermutet der Zeitreisende, es handle sich um Untermenschen, die von den Eloi versklavt im Untergrund arbeiten müssen. Doch wie er bald feststellen muss, ist gerade das Gegenteil der Fall: Die Morlocken halten sich die naiven Eloi quasi als menschliches Mastvieh, das sie in regelmässigen Origen genüsslich verspeisen. Keine besonders verlockende Zukunftsvision. Doch es kommt noch schlimmer. Nachdem sich der Zeitreisende aus den Fängen der Morlocken befreien und auch die von ihnen beschlagnahmte Maschine zurückerobern kann, reist er weiter in die Zukunft, wo ein Schreckensszenario, das nächste ablöst: zunächst ist die Welt nur noch mit Monsterkrebsen bevölkert, danach folgt eine Eiszeit und schliesslich herrscht nur noch eine beklemmende Stille, weil alles Leben ausgelöscht ist. 

Und noch eine Zeitreise: Das Fenster zum Sommer von Hannelore Valencak, 1967 ursprünglich unter dem Titel Zuflucht hinter der Zeit erschienen. Der Titel, so dachte das Lesefrüchtchen, sei ideal für die eine Sommerferienlektüre. Doch weit gefehlt, denn es verhält sich gerade anders. Die icherzählende Protagonistin, die eigentlich mit ihrem jungvermählten Mann in die Sommerferien nach Camargue fahren will, wider Erwarten aber nicht an einem Julimorgen in seinen Armen aufwacht, sondern ein knappes halbes Jahr früher, mitten im Winter, in der Wohnung ihrer Tanta Priska, die sie seit dem siebten Lebensjahr grossgezogen hatte, weil die leibliche Mutter nach ihrer Scheidung nach Kanada auszog und ihr Kind zurückliess. Seither befand sich Ursula, so heisst die Protagonistin, in einem Interimszustand, in einer Warteposition, die sie am richtigen Leben hindert: "sehr selten hatte ich den Mut zu fühlen: Ich bin da. Ich bind auf der Welt. Viel öfter sagte ich mir: Das ist jemand anderer, der das erlebt. Meine Stunde ist noch nicht da. Ich muss warten lernen. Und manchmal erschrak ich, wenn etwas in mir sagte: Da kannst du lange warten. Deine Zeit kommt nie." Doch dann geschieht das (Un-)Erwartete und ihr Leben, springt "in ein neues Geleise". Die Metapher ist gut gewählt, denn der Moment ereignet sich in der Strassenbahn, als sie mit einem Mann (Joachim) zusammenstösst. Sie verlieben sich Hals über Kopf, heiraten rasch, kaufen sich gleich darauf ein Haus und sind glücklich. Doch dann wird Ursula nolens volens in die Vergangenheit zurückkatapultiert und auf eine harte Probe gestellt. Vorbei der schöne Traum. Sie ist wieder Single. Natürlich will sie den "Rückweg zu Joachim" finden, der zeitlich besehen eher ein Vorwärtsweg ist, weil die Begegnung mit ihm noch in der Zukunft liegt. Sie begibt sich in seine Nähe und macht sich bemerkbar, um ihn wieder für sich zu gewinnen. Doch sie entdeckt ihn bloss mit seiner bildhübschen Verlobten. Als Zeitreisende in die eigene Vergangenheit lernt Ursula ihr Umfeld mit anderen Augen zu betrachten. Vor allem realisiert sie, dass sie nicht in die Vergangenheit nicht beeinflussen darf, wenn sie die wieder gewünschte (alte) Zukunft münden soll. Sie lässt deshalb von ihren Manipulationsversuchen ab und wartet nur noch auf den Augenblick, in dem sich der zukünftige Zusammenstoss mit Joachim nochmals einstellen wird. Sie durchlebt alles zweimal und sie präkognitiv auch voraus, was jeweils geschehen wird, was sich aber als grosse Schwierigkeit herausstellt. Denn wie Joachim einmal zu ihr sagte: "Wir kennen vielleicht unsere Zukunft nicht, damit wir sie uns nicht selber verderben können." Buchstäblich in einem Wettlauf gegen die Zeit versucht Ursula die ihr bekannte Zukunft doch noch zu erreichen, doch die Strassenbahn, in dem sich der Zusammenstoss mit Joachim ereignen sollte, fährt ihr vor der Nase davon. Sie kann ihrem neuen Leben nur noch hinterhersehen und ihr altes wieder aufnehmen. Einige Zeit später erfährt sie allerdings, dass Joachim in der Nacht, als sie in die Vergangenheit zurückfiel, an einem Herzinfarkt gestorben ist. Ihr Sommer mit ihm, so folgert sie, "war irrtümlich in der Welt. Er war nichts als eine Möglichkeit unter vielen tausend anderen Möglichkeiten gewesen, und Joachim hat nie gewusst, dass er sie versäumt hat." Ursula erscheint nun das Schnippchen, das ihr die Zeit geschlagen hat, als Gnadenakt, da es ihr erlaubte, den Verlust von Joachim im Vorfeld zu verarbeiten, so dass sein Tod schliesslich keine Katastrophe mehr darstellt. Mehr noch lernte sie in dieser Zeit, als ihr die Zukunft quasi vorbestimmt schien, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Die Paradoxie von freiem Willen und Determination speilt der Roman so anschaulich durch. Wie H.G. Wells so versucht auch die Autorin, die eine studierte Physikerin ist, im Nachwort die Zeitreise mit Theorien über die vierte Dimension zu plausibilisieren.

Es ist Sonntag und Zeit für einen Krimi: Wie die Tiere von Wolf Haas, der mit seinem Ermittler Brenner ein Garant für gute und gewitzte Unterhaltung ist. Und interessant: der Roman beginnt just auch mit der Frage nach der Reversibilität der Zeit: "der Mensch kann nichts ungeschehen machen, das ist von seiner ganzen philosophischen dings her nicht möglich". Diesmal ist Brenner einem Hundemörder auf der der Spur, der im Wiener Augarten mit Nadeln versehene Hundekekse ausstreut. Beauftragt hat ihn der Zuhälter Schmalzel vom "White Dog", in dessen Etablissement Brenner auch residieren darf, in einer Wohnung, die er sich mit einer spanischen Prostituierten wie ein altes Ehepärchen teilt. Da Schamlzel beruflich umsatteln und sich ein neues Image zulegen will, engagiert er sich mit der Kampagne "Tierfamilie" fürs Gemeindewohl. Als dann ausgerechnet die attraktive Mitarbeiterin, die beim Unterschriftenfang jedem Mann den Kopf verdreht, von einem Argentino totgebissen wird, nimmt der Fall so richtig Fahrt auf. Brenner fürchtet jedoch, es könne ein "Frauenfall" werden, die "immer wahnsinnig kompliziert" sind im Vergleich zu Männerfällen. Dort gibt es schlicht "einen schönen Mord", jemand "drückt einmal ab und aus, und dann musst als Detektiv den Burschen eben finden". Und tatsächlich muss sich Brenner dann hauptsächlich mit Frauen und einer wildgewordenen Meute von "Kampfmüttern" herumschlagen, weil er sich unvorsichtig über den Wert von Ohrfeigen geäussert hat. Am Ende ist dann aber doch ein Mann der Bösewicht und es kommt zu einem spektakulären Showdown auf dem alten Flakturm im Augarten. Dem Täter wird vom Rotorblatt eines Helikopters der Kopf abgesäbelt und vom Föhn-Wind über die Dächer der Stadt getragen, bis er in einem Kinderbecken landet. Die ganze Groteske wird im typischen Brenner-Stil erzählt, was wesentlich zur Sprachkomik beiträgt, eine zugleich altkluge, wie jargonlastige Diktion im Secondo-Stil. Und musst du wissen: Es gibt den wohl längsten Cliffhänger der Krimigeschichte. Ein Witz relativ zu Beginn wird erst ganz am Ende aufgelöst.

Brenner wohnt im Rotlicht und auch der Roman Im Stein von Clemens Meyer spielt in diesem Milieu. Er bietet ein Panorama (oder vielmehr ein Purgatorium) der Prostitution in Ostdeutschland nach der Wende, multiperspektivisch erzählt aus der Sicht verschiedener Personen: Sexarbeiterinnen, Zuhälter, Polizisten etc. Von der Harz IV-Empfängerin über die junge Studentin bis zu schmierigen Paschas, die Zonen-Gabys ebenso wie die Ruhrpott-Uschis - alle wollen sie mit Sex das grosse Geld verdienen. Es gibt den Alten vom Berg, Arnold Kraushaar (als Jugendlicher mit "Schamhaar" verspottet), der Wohnungen für käuflichen Sex vermietet, und sein Konkurrent, genannt der "Graf" oder der "Bielefelder", obschon er gar nicht aus Bielefeld stammt, der in der "Burg" ein Edelpuff betreibt. Ein beeindruckend opulenter Roman, technisch gekonnt, doch leider mit dem kapitalen Fehler der Handlungsarmut. Der Roman will nicht so richtig in die Gänge kommen. Zwar passiert ein grausiger Mord: jemand wird mit abgesäbeltem Bein im Moor versenkt, doch insgesamt zerläuft sich der Roman in seiner Gedächtnisstrom-Architektur. Was im ersten Kapitel noch ambitioniert wirkt, ist auf die Länge nur noch redundant und ermüdet rasch. Als narratives Experiment ist die Gedankenflut zwar interessant, verspricht sie doch eine Innensicht ins deutsche Bewusstsein mit seiner Doppelmoral und eine zuweilen grelle Ausleuchtung von Tabuzonen. Literarisch bleibt es aber enttäuschend. Eine richtige Sozialreportage wäre wohl ergiebiger gewesen, ein echter Szenekrimi wiederum packender. An einer Stelle denkt sich ein Polizist, der für die Tatort-Serie im Fernsehen als Berater angefragt wurde, um die Filme realistischer zu gestalten: "Dann lieber die Dramen, die dramatischen Seifenopern, Schimmis Faust, Cognac und Zigaretten für Haferkamp." Diese Einsicht lässt sich mühelos auf den Roman selbst anwenden, der zu viel wollte und daran gescheitert ist. Ein Szeneapplaus gebührt dem Autor indes für das Kapitel über den Radiomoderator Ecki Edelkirsch, der von Sex-Kalauern nur so strotzt. Die beiden besten gehen aufs Konto von Goethe: "Wanderers Nach-Glied" und "der ewige alte Reinstecke Fuchs". Auch gut: "it's blowtime!". In eine ähnliche Richtung geht folgender Dialog: "Weisst du eigentlich, woher der Begriff Rotlicht kommt?" "Nein." "Im Mittelalter mussten die Frauen als Zeichen dieser Zunft rote Kappen tragen." "Rotkäppchen war also eine Hure?" - Deshalb wird im Roman symbolischer Weise auch pausenlos Rotkäppchen-Sekt getrunken.

Ein Buch, das das Lesefrüchtchen eher auch enttäuscht hat, obschon es den Autor besonders schätzt, ist Blaubarts letzte Liebe aus dem Nachlass von Hans Natonek. Manchmal erweist man Schriftstellern mit postumen Editionen einen Bärendienst. So auch hier. Der gebürtige Prager Autor flüchtete mit Hilfe von Varian Fry über Portugal ins Exil in den U.S.A. Auch Thomas Mann, den Natonek zusammen mit Walter Mehring und Ernst Weiss von Paris per Telegramm anschrieb, unterstützte die Einreise nach Amerika. Im Gepäck auf dem Flüchtlingsdampfer 'Manhattan' hatte Natonek eine alte Aktentasche dabei mit dem kaum mehr entzifferbaren Manuskript des Romans. Obschon es ein historischer Stoff ist, der die Geschichte der Freiheitskämpferin Jeanne d'Arc und dem als Kindermörder verrufenen Gilles de Rais mit vielen poetischen Lizenzen erzählt, lässt er sich doch als Allegorie auf die Schrecken des Faschismus lesen. Jeanne und Gilles, beide als Ketzer verurteilt, erscheinen als Opfer eines repressiven Regimes. In zentralen Stellen des Romans wird das Wesen des Bösen als Grundlage für Machtausübung reflektiert. Vom Ansatz her interessant, in der Ausführung aber doch zu dünn und für einen historischen Roman zu wenig plastisch.

Im Ferienhäuschen lagen einige Schmöker herum, was das Lesefrüchtchen als willkommene Gelegenheit auffasste, sich wieder einmal einen internationalen Beststeller zu Gemüte zu führen, den alle Welt kennt, bloss das Lesefrüchtchen nicht, und zwar Der Schatten des Windes von Carlos Ruiz Zafón. Die Story beginnt wie eine Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges: eine labyrinthische Bibliothek, ein vergessenes Buch, ein mysteriöser verschollener Autor, eine blinde Leserin und ein gesichtsloser Mann, der auf Bücherjagd geht. Alle Ingredienzen für eine bibliophile Abenteuergeschichte sind beisammen, nur leider schlittert der Roman immer mehr in ein klebriges Liebesmelodram. Der junge Daniel Sempere macht sich auf die Suche nach den biographischen Spuren des Autors Julián Carax, dessen einzig überliefertes Exemplar von Der Schatten des Windes er in der Bibliothek der vergessenen Bücher aufgestöbert hat, in die ihn sein Vater geführt hat. Mit dem Besitz des Buches beginnen jedoch die Probleme: Ein unheimlicher Mann ohne Gesicht und mit verbrannter Lederhaut will das Buch vernichten. Er scheint direkt aus dem Buch selbst entstiegen zu sein, in dem mit der teuflischen Gestalt von Laín Coubert eine nahezu identische Figur vorkommt. Doch weshalb ist er so erpicht darauf, das Buch zu zerstören? Und weshalb zieht das Buch den jungen Daniel dermassen in den Bann, obschon es sich um einen Schundroman handelt? Es beginnt eine Schnitzeljagd, auf der - Hinweis um Hinweis - das Schicksal von Carax rekonstruiert wird, der aus zunächst unerfindlichen Gründen von Barcelona fort nach Paris ging und dort als Dachstubenpoet in einem Pariser Bordell hauste, wo er sich als Pianospieler über Wasser hielt. Das Buch operiert mit einer simplen Rätseltechnik: Man liest zwei Drittel mit allerlei offenen Fragen und losen Enden, begegnet einer Vielzahl von Figuren aus der Vergangenheit des Dichters, um dann im letzten Drittel auf dem Serviertablett die nicht mehr allzu überraschen Auflösung zu erhalten - die vollständige Lebensgeschichte des ominösen Autors Julian Carax, die natürlich mit einer tragischen Liebesgeschichte verknüpft ist. Nach Jahren im Pariser Exil muss Carax erfahren, dass seine ewige Geliebte, auf die er stets sehnsüchtig gewartet hat, nicht nur tot ist, sondern auch ihr gemeinsames Kind, das bei der Geburt gestorben war und kurz darauf auch sie, weil der Vater, der gegen diese Verbindung war, sie verbluten liess. (Was Julián nie erfährt, nur die Leser: Er ist ein uneheliches Kind, aus einem Seitensprung des Vaters, und seine Geliebte eigentlich seine Stiefschwester.) Nach der schockartigen Erkenntnis vom Doppeltod von Frau und Kind will er nur noch seine Existenz auslöschen - und dazu gehören auch seine Bücher als Kinder des Geistes. Er brennt das Lager seines Verlags nieder, erleidet dabei Verbrennungen, die ihn für immer entstellen und verwandelt sich dabei in die Figur aus seinem Roman Der Schatten des Windes: in den diabolischen Laín Coubert. In dieser Gestalt vernichtet er weiterhin seine Bücher, stöbert sie auch in Privathaushalten und in Buchhandlungen auf und entwendet sie. Das letzte Exemplar bleibt jedoch im Besitz des jungen Daniel. Denn Carax erkennt in ihm sich selber wieder und will, dass Daniel jenes Leben mit einer glücklichen Liebe führen kann, das ihm versagt geblieben ist. Das Buch wartet also mit reichlich Pathos und einem sentimentalistischen Ende auf, das arg auf die Tränendüse drückt. Für reichlich Humor sorgt hingegen die skurrile Figur Fermín, ein Art Ritter von der hageren Gestalt, der Daniel bei seiner Spurensuche unterstützt und ihm zudem mit Liebesratschlägen zur Seite steht. Auch er besitzt eine düstere Vergangenheit als Geheimdienstmitarbeiter, der von den Franco-Schergen während des Spanischen Bürgerkriegs grausam gefoltert wurde. In Gestalt des korrupten Polizeiinspektors Fumero, der nicht nur Fermín, sondern auch Carax jagt und etliche Personen auf dem Gewissen hat, dringt diese Vergangenheit zuweilen mit äusserster Brutalität in das Geschehen der Gegenwart. Die Suche nach Carax bringt auch die Schrecken der Franco-Diktatur zum Vorschein. Dem Roman ist somit neben der Familientragödie und dem Liebesskanal auch eine politische Dimension eingeschrieben, die im Grunde aber etwas aufgesetzt wirkt, da der Roman auch ohne sie verlustfrei als Mystery-Thriller funktionieren würde.

Samstag, 29. Juni 2024

René Daumal: Der Analog (1952)

Analog - das meint ihr nicht das Gegenteil von Digital, sondern das Gegenteil von Logik: eine Art Anti-logik oder Un-logik bzw. eine der Rationalität gegenläufige Logik, die im Roman durch den Wissenschaftler Pierre Sogol vertreten wird, dessen Name bereits den logischen Gegensinn zum Ausdruck bringt: Rückwärts gelesen, bedeutet "Sogol" nichts anderes als "Logos". Auch der Untertitel verabschiedet sich von rationalen Gesetzen, wie sie Euklid für unsere Kultur festgelegt hat: "Ein nicht-euklidischer im symbolischen Verstand authentischer alpinistischer Abenteuerroman".

Wobei: Roman ist eigentlich zu viel gesagt; vielmehr handelt es sich um ein Romanfragment, das der bereits an Tuberkulose erkrankte Autor nicht mehr abschliessen konnte. Als er am 21. Mai 1944 mit 36 Jahren starb, lagen fünf fertige Kapitel sowie Skizzen zum weiteren Verlauf vor. Die Geschichte handelt von einer von Pierre Sogol angeleiteten Expedition zum Berg Analog, von dessen Existenz er überzeugt ist, obschon sie bislang niemand bemerkte, ja vom Erzähler als reines "Phantasieprodukt" bezeichnet wird.

Hier beginnt die komplexe a-logische Theoriebildung, die auch ausführlich ausgebreitet wird. Zu weiten Teilen handelt es sich um einen Diskursroman, der vollkommen phantastische Idee eines unsichtbaren Bergs auf pseudo-wissenschaftliche Weise belegen will. Der Berg Analog ist zwar das höchste und grösste Gebirge auf der Welt, der aufgrund der Raumkrümmung jedoch den Blicken verborgen sei. Sogols Vorhaben besteht deshalb darin, die "Krümmungsschale" zu durchbrechen und den Analog zu besteigen.

Zu diesem Zweck sticht er mit seinem Schiff, dass den sprechenden Namen "Impossible" trägt, in See und fährt mit seiner Truppe Richtung Süd-Pazifik, wo er den Analog auf einer bislang unbekannten Insel vermutet. Es gelingt ihnen tatsächlich den Berg ausfindig zu machen und dort an Land zu gehen. Sie freunden sich mit Bevölkerung an, doch bevor das Abenteuer des "analogischen Alpinismus" richtig beginnen kann, bricht der Roman ab. Es ist eine skurrile Mischung zwischen Jules Verne und kafkaesker Parabel, die eine Reise zu einem imaginären Berg immer realistischer werden lässt.

Mit Daumals surrealistischer Frühphase hat diese Erzählung, abgesehen von der Absage an den Logos, nur wenig zu tun, wichtiger dürfte die esoterische Lehre Gurdijeffs gewesen sein, mit der sich Daumal seit den 1930er Jahren beschäftigte. So wie Gurdijeff der Überzeugung war, dass die Menschheit ihr Potential bei Weitem noch nicht ausgeschöpft habe, und deshalb eine ganzheitliche Entwicklung anstrebte, die den Menschen aus seinem unterentwickelten Dasein führe, so erhofft oder vermutet auch Sogol auf dem Berg Analog den "Aufenthaltsort einer höheren Menschheit".