Montag, 21. April 2025

Richard Brautigan: Träume von Babylon (1977)

Die Meinung ist verbreitet, der Kultautor der amerikanischen Gegenkultur, Richard Brautigan, habe nach seinen ersten drei Büchern, allen voran Forellenfischen in Amerika (1967), den Zenit bereits überschritten. Seine Verballhornung des Hard-Boiled-Krimis bleibt jedoch eine wenngleich leichte, so doch amüsante Lektüre, die Lacher am Laufmeter provoziert. Nach der schrillen, vollkommen abgedrehten Westernparodie Das Hawkline-Monster von 1974 und dem "perversen Kriminalroman" Willard und seine Bowlingtrophäen von 1975 war Träume von Babylon die dritte Genre-Parodie des Autors mit dem Untertitel: "Ein Detektivroman 1942". Die abstruse Geschichte situiert sich also vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs, doch das spielt höchstens als Kontrast zur banalen Handlung eine Rolle: "Was konnte ein Mann schon mehr wollen in diesen schweren Zeiten? Ich meine, die Welt war im Krieg, aber für mich lief alles wie geschmiert."

Derjenige, der das sagt, ist der Ich-Erzähler C. Card, ein ausgemusterter Soldat, der beim Scheissen im Schützengraben ausrutschte und sich selbst in den Hintern schoss, und sich fortan als heruntergekommener, total erfolgloser Privatschnüffler durchschlägt. Seine grösste Herausforderungen darin besteht, täglich das Geld für seinen Lebensunterhalt zusammenzuschnorren. Doch einiges Tages winkt plötzlich ein lukrativer, wenngleich dubioser Auftrag: Eine attraktive Blondine, die literweise Bier vertilgt, ohne pinkeln zu müssen ("Wo hat sie denn bloss das ganze Bier hingesteckt?"), und ihr stiernackiger Chauffeur verlangen von Card, dass er die Leiche einer toten Nutte aus dem Leichenschauhaus entfernt und zum Friedhof bringt. Der Auftrag entpuppt sich am Ende jedoch als Falle: Die Blondine war selbst die Mörderin und will Card die Sache anhängen. Dieser sieht sich am Ende des Tages deshalb in derselben desolaten Situation wie immer mit dem "einzigen Unterschied, dass [er] am Morgen noch keine Leiche in meinem Kühlschrank gehabt hatte."

Mit diesem Satz endet der kurze Roman und unterstreicht damit nochmals, dass man es bei C. Card mit einem "richtigen Verlierer" zu tun hat. Psychologisch angedeutet wird diese Entwicklung mit einem Schuldkomplex, da er als Vierjähriger den Tod seines Vaters verursacht hat, als er einem Ball hinterher auf die Strasse rannte, gefolgt von seinem Vater, der dann vom Auto erwischt wurde, was ihm seine Mutter lebenslang zum Vorwurf macht. Card kompensiert sein Verlierertum einerseits durch Wirklichkeitsflucht, andererseits durch Humor. Es fehlt ihm zwar an allem, bloss nicht an faulen Sprüchen. Ausserdem imaginiert er sich regelmässig in eine babylonische Phantasiewelt, in der er anders als in Wirklichkeit ein heldenhaftes Leben führt. Der Aufprall eines Baseballs auf seinen Kopf katapultiert Card einst in dieses Traumreich, das er im Geist fortan immer wieder aufsucht, ihn aber umso lebensuntüchtiger erscheinen lässt. Denn oft in entscheidenden Momenten, wo alle Geistesgegenwart gefragt wäre, gleitet er jeweils in die gedankliche Parallelwelt ab.

Der Roman lebt hauptsächlich von Pointen und Einzelsequenzen. Entsprechend kurz fallen die jeweiligen Kapitel aus, deren Überschriften ausserdem höchst arbiträr anmuten, oft willkürlich einen beiläufigen Begriff oder Sachverhalt aus dem Kapitel aufgreifen und dadurch paratextuell die Absurdität der einzelnen Episoden noch steigern. Gegen Ende kommt tatsächlich auch ein wenig Spannung auf, mit Verfolgungsjagd und einer harmlosen Schiesserei, doch handelt es sich dabei lediglich um Versatzstücke aus klassischen Kriminalromanen, die hier durch den parodistischen Fleischwolf gedreht werden. Brautigan besitzt einen untrügliches Geschick für gute Situationskomik, die durch den knappen, lakonischen Stil sprachlich noch verstärkt wird. Insbesondere die oft schrägen Vergleiche verleihen dem Text eine derb-witzige Note: "Ich trank einen Schluck Kaffee. Er schmeckte, als wäre er einer der Leichen aus dem Arsch geflossen." Oder: "Das einzige, was noch weiter unten war als ich, war eine Leiche." Sicher kein Buch von weltliterarischem Rang, aber ein herrlich absurdes Leservergnügen, ähnlich einem Brenner-Krimi von Wolf Haas.

Montag, 14. April 2025

Ror Wolf: Pilzer und Pelzer (1967)

Drei Jahre nach Ror Wolfs Debut mit Fortsetzung des Berichts setzt Pilzer und Pelzer das narrative Verfahren konsequent fort, ja greift das serielle Prinzip der Fortsetzung bereits im Untertitel auf, der "Eine Abenteuerserie" verspricht. Das klingt nach Kioskroman, nach einem Trivialgenre, das Ror Wolf zwar lustvoll bedient, aber keineswegs erfüllt. Wer eine Geschichte mit einem simpel gestrickten, nachvollziehbaren Spannungsbogen erwartet, der liegt hier sicherlich falsch, denn der Autor setzt alles daran, Erzählkonventionen auf Schritt und Tritt zu sabotieren, etwa durch mutwillig eingestreute Satzanweisungen: "Punkt neuer Abschnitt". Dabei geschieht eigentlich ungeheuer viel in dem Roman, nur verbleibt das Meiste in Ansätzen stecken, findet nur andeutungsweise oder gar keine Erwähnung, weil es der Erzähler als bekannt voraussetzt oder nicht der Rede wert hält. Eine Poetik des Vagen und Ungefähren durchzieht diese Prosa, die dadurch ihren eigenen Reiz entfaltet und eine Spannung erzeugt, die nicht in der Handlung, sondern im obskuren Erzählverfahren selbst begründet liegt, das Erwartungen weckt, die ständig unerfüllt unterlaufen werden. 

Es beginnt schon mit dem Titel: Pilzer und Pelzer. Am Ende des Romans weiss man weder, wer die beiden sind, noch ob es sie überhaupt gibt - oder doch nur eingebildete Geschöpfe sind. Für den Erzähler sind sie kaum voneinander zu unterscheiden und er zweifelt mitunter an ihrer Existenz. Am Schluss verlieren sie sich - nach einem epischen Boxkampf im hohen Norden - "in die weisse knisternde Landschaft" aus ewigem Schnee. Neben dem Duo Pilzer und Pelzer sind da noch die Witwe, der Kapitän und der Matrose sowie weitere Figuren, die wie in einem Namedropping genannt werden. Sie alle tauchen eher wie Schemen auf denn als wirkliche Figuren. Es sind narrative Pappkameraden, mit denen der Erzähler so willkürlich verfahren kann, wie mit allem, was ihm unter die schreibenden Finger gerät. Es hat somit wenig Sinn, mehr noch ist es unmöglich, die Handlung des Romans, soweit überhaupt davon die Rede zu sein kann, wiederzugeben. Stattdessen soll versucht werden, auf ein paar Besonderheiten dieser Prosa hinzuweisen, welche die Lektüre zum Ereignis machen, das sich nicht inhaltlich begründen lässt.

Es handelt sich um ein grossartiges Antinarrativ, das irgendwo in der Tradition von Laurence Sterne und seinem Tristam Shandy zu verorten ist. Während dort allerdings Tristram nie richtig dazu kommt, seine Lebensgeschichte zu schildern, weil er ständig auf alles abschweift, was ihm in den Sinn kommt, und sich daher die Erzählung von selbst aufzuheben beginnt, resultiert derselbe Effekt bei Ror Wolf aus einer Technik der narrativen Diffusion, der den "Gang der Ereignisse" oder den jeweiligen "Fall" ins Unbestimmte auflöst, so dass er vor den Augen des Lesers verschwimmt. Stets wird zwar mit den Stilmitteln des Abenteuerromans operiert und spielt ironisch mit Floskeln der Spannungserzeugung, die meistens jedoch im luftleeren Raum hängen bleiben. Auf die Spitze getrieben an Stellen wie dieser: "Ich sah auf die Uhr, elf Uhr, es ist etwas passiert, sagte ich, ich nahm mein Notizbuch und schrieb: elf Uhr, es ist etwas passiert. Klar und deutlich." Was aber passiert ist, erfahren die Leser nie. Der Abschnitt endet auch mit dem relativierenden Kommentar: "doch ich glaube, das war nicht einmal das Problem des Tages."

Stets ist "es", "etwas" oder "vielleicht etwas Derartiges" im Gange, ohne dass es näher erläutert oder ausgeführt würde. Entweder weil es wie hier gänzlich ausgeklammert wird oder weil der Erzähler nur vage Andeutungen gibt. Ein Kapitel beginnt zum Beispiel: "Ich habe von einem Wachsen gesprochen, es ist also so, dass etwas wächst, während ich schreibe und weiterschreibe, aus den Ritzen und Fugen heraus [...]" Und fährt dann fort dieses "etwas" näher zu umschreiben, das durch den Beschreibungsexzess keineswegs fassbarer, nur umso undeutlicher wird: "[...] aufgeblasen jawohl spaltig aufklaffend fleischig mit Ritzen und Zipfeln aufspringend spitz an salzigen Orten buschigen Hängen Gruben und Pfützen Geröll wüsten Plätzen zum Küchengebrauch vielleicht Juli August graugrün mit klebrigen Haaren [...]" usw. Über eine Seite lang reihen sich scheinbar zusammenhangslose Worte aneinander, so dass dieses "etwas" zum reinen Sprachereignis wird. Es stellt sich ein Wahrnehmungseffekt wie bei einem Wimmelbild ein: Vor lauter Details bleibt alles diffus.

Diese Poetik des unbestimmten "Etwas" ist charakteristisch für den gesamten Text. Insofern kommt dem Kapitel, das schlicht mit "Etwas" überschrieben ist, einen besonderen poetologischen Stellenwert zu. Dort wird ebenfalls ein Wuchern beschrieben, das die Witwe wie eine Art Ektoplasma befällt: "Plötzlich aus dem geöffneten Mund etwas pflanzartig etwas keimweiss herauskriechend und weiterwachsen mit unerhörter Geschwindigkeit." Dieses "etwas" mutiert zu "filzigen Pilzfadengestrüppen" und es droht ferner, das "pelzig entgegenwüchse". Dass hier die Namen der beiden vermeintlichen Protagonisten Pilzer und Pelzer anklingen, lässt aufhorchen. Sind Pilzer und Pelzer nichts anderes als die Allegorie der sich zersetzenden Textstruktur, parasitäre Elemente sprachlicher Wucherung und Metastasen? Immerhin lassen sich ihre Namen auch als die personifizierten postmodernen Konzepte des Rhizoms (Deleuze/Guattari), der Wurzelflechten von Pilzen, und der Greffologie (Derrida), zu Deutsch auch Pfropfen oder Pelzen, verstehen.

Der Text Pilzer und Pelzer pfropft bzw. pelzt sich wie ein parasitärer Pilz auf das Trivialgenre des Abenteuerromans, um es rhizomatisch auszuhöhlen. Damit gleicht das narrative Verfahren den beigefügten Collagen, die aus alten Kupferstichen ebensolcher Unterhaltungsliteratur zu surrealen Kombinationen montiert sind. Diese stehen dabei nur in losem Bezug zum Text; gewisse motivische Übereinstimmungen bleiben erkennbar, ohne aber direkt miteinander zu korrespondieren. Die Collagen fungieren nicht als Illustrationen des Text. Vielmehr scheint es sich eher umgekehrt zu verhalten, als hätte sich der Autor von diesem Bildern in freier Assoziation anregen lassen und gewisse Elemente übernommen, um wenigstens ansatzweise über ein Handlungsgerüst zu verfügen, natürlich nur um es sofort wieder zu unterlaufen: "und mit einem Mal Ruhe sonst nichts zu berichten im Grunde wollte ich etwas anderes erzählen".

Sonntag, 6. April 2025

Kurt Schwitters: Franz Müllers Drahtfrühling (1919/20)

Bleiben wir beim Nonsens: Franz Müllers Drahtfrühling ist neben Anna Blume der wohl bekannteste Dada-Text von Kurt Schwitters, halb Manifest halb skurrile Geschichte, in der übrigens besagte Anna Blume auch einen Auftritt hat. Ursprünglich kündigte Schwitters das Vorhaben als der grosse Liebesroman der Anna Blume an. Daraus ist jedoch nichts geworden, falls die Ansage jemals ernst gemeint und nicht lediglich eine dadaistische Blague war. Was heute vorliegt sind verschiedene Fragmente aus dem Werkkomplex um den Drahtfrühling, wobei wiederum offen bleibt, wie intendiert dieser Fragmentcharakter ist. Bei einem Text, der- sich fortlaufend selbst dementiert, in sich schon Elemente des Zerfalls und der Uneinheitlichkeit enthält, etwa durch diverse Einschübe und Neueinsätze, gehört das Fragmentarische wesentlich zur Ästhetik dazu. So lässt der Autor zum Beispiel mitten in der Erzählung zusammenhanglos "ein selbstverfasstes Gedicht" folgen, nur um danach "wieder" mit dem "Anfang dieser Geschichte" zu beginnen.

Das ist nur ein markantes Beispiel für viele weitere Formen der erzähllogischen Verweigerung, die typisch für den Dadaismus und seine Antitexte ist. So heisst es programmatisch in der eingeschobenen Rede von Alve Bäsenstiel: "Durch den Dadaismus gelangen wir zum Stil, weil uns dada die ganze erhabene Stillosigkeit unserer Zeit so recht 'lieb' und eindringlich zeigt." Ein weiteres Merkmal sind scheinbar parenthetisch eingestreute, absurde Werbeslogans (die Bezeichnung "Dada" selbst leitet sich von einer damals geläufigen Seifenmarke ab): "Revon in Familienflaschen à 2,50 M.", "Bei rheumatischen Zahnschmerzen und Kopfweh genügen meist 2-3 Revontabletten, und zwar auf den Bauch." Revon? Das ist der halbe Städtename von Hannover rückwärts gelesen und zugleich auch der Schauplatz der Geschichte. Schwitters liebt es, Namen rückwärts zu lesen, etwa A-N-N-A, die von hinten wie von vorn gleich klingt, oder P-R-A, Hans Arp, mit dem zusammen Schwitters Ideen für den Text entwarf. Arp wird einmal sogar als "Chronist" erwähnt.

Hannover also. Dort fanden 1919 wie überall in Deutschland nach der Novemberrevolution Streiks und Aufstände statt, auf den er Untertitel der Erzählung offenbar anspielt: "Ursachen und Beginn der grossen glorreichen Revolution in Revon". Ausgelöst wird diese durch einen stumm und unbeweglich dastehenden Mann, der - das ist ein zeitgeschichtlicher Wink - einmal als "Bolschewik" verdächtigt wird. Doch der Mann löst nicht als politischer Akteur ein öffentliches Ärgernis aus, sondern einzig und allein deshalb, weil er bloss dasteht, gerade nichts unternimmt, sich weder rührt und auch keine Fragen beantwortet. Das provoziert einem Menschenauflauf, der sich schliesslich zu einem Tumult ausweitet, bei dem Kinder zerquetscht und Leute totgetreten werden, nachdem Alves Bäsenstiel, auch das eine bekannte Figur Schwitters, in einer Brandrede die Meute gegen den stehenden Mann aufgebracht hat. Wie sich später herausstellt, handelt es sich bei dem Mann um Franz Müller, die Personifikation von Schwitters Merzkunst, da Müller wie eine "wandelnde Merz-Plastik" aussieht, gestopft und geflickt und mit Draht umspannt. Sein Name ist Programm: Müller besteht aus Müll und er ernährt sich von Müll auf Basis einer bestimmten "Müller- oder Mülldiät".

Die Geschichte lässt sich somit auch als Allegorie auf das Unverständnis lesen, das die Hannoveraner seiner Merzkunst entgegenbrachten. Und nicht Wenige haben damals wohl auch die Geschichte selbst als Müll bezeichnet, weil sie aus inkohärenten Ein- oder vielmehr Abfällen zusammengeflickt ist, aus erzählökonomisch unnötigen Wiederholungen, unsinnigen Sätzen, die sich zuweilen grammatisch zersetzen und zu echtem Sprachmüll mutieren: "Schreck wühlte Augenlichter zischen Eingeweide. Der Polizist lächelte einen lakierten Apfel." Das ist Nonsenspoesie vom Feinsten und vor allem ein hochkomischer Text, der an etlichen Stellen vorwegnimmt, was Helge Schneiders schrägen Humor ausmacht: ein Spiel mit sprachlichen Unzulänglichkeiten, kalkulierten Missverständnissen, Aneinandervorbei-Reden und hanebüchenen Dialogen. Meisterhaft vorgeführt im zweiten Kapitel, das die Debatte im Revoner Parlament parodiert, wie mit Kurt Müller umzugehen sei. Hier führt Schwitters die oftmals politischen Leerformalen ad absurdum und macht somit deutlich, dass literarischer Nonsens oftmals eine, wenn nicht die adäquate Reaktion auf eine sinnlos gewordene Welt darstellt.

Dienstag, 1. April 2025

Jiří Kolář: Die Weisheiten des Herrn April (1961)

Der tschechische Aktivist und Künstler Jiří Kolář ist hierzulande kaum dem Namen nach bekannt, und wenn dann vorwiegend für seine - stets auch politisch lesbaren - Collagen unterschiedlichster Art und Materialien, die er in eigenständige Subtechniken wie Magrittagen, Chiasmagen, Muchlagen, Grumlagen, Decollagen oder Ventillagen weiterentwickelte. Vor seiner künstlerischen Laufbahn jedoch kannte Kolář auch eine literarische Phase, in der u.a. sein Poem Die Leber des Prometheus entstanden ist, für das er in den Jahren 1952/53 ins Gefängnis musste, weil es eine Generalkritik an allen totalitären Systemen unternimmt. Quasi an der Wende zum bildnerischen Schaffen entstand mit Die Weisheiten des Herrn April ein letztes literarisches Werk, das sich nahtlos in die Tradition der grossen Nonsens-Dichtungen reiht. Der Einfluss von Dadaismus und Surrealismus sind darin ebenso erkennbar wie die Motivik der verkehrten Welt sowie weitere volkstümliche Formen von Ulk und höherem (studentischem) Blödsinn.

Der Name "April" ist dabei Programm: Es ist der Launemonat, an dessen Erstem es überall Brauch ist, Unsinn in die Welt zu setzen. Und das machen die meist kurzen, die Länge eines Witzes selten übersteigenden Geschichten unentwegt. Sie entziehen sich hartnäckig jedem vernünftigen Sinn, sind deswegen aber noch lange nicht sinnfrei. Keinesfalls handelt es sich, wie man angesichts des Namens, vielleicht erwarten könnte, um klassische Aprilscherze, die zum Ziel haben, die Leserschaft hinters Licht zu führen. Dazu stellen die geschilderten Inhalte ihre Unmöglichkeit in geradezu übertriebener Weise aus. Die Verfahren der Sinnunterwanderung sind mannigfach: das Wörtlichnehmen von Ausdrücken und Redewendungen, Verkehrung ins Gegenteil (Bart, der beim Schneiden nicht kürzer wird, sondern wächst; Ofen, der eisige Kälte verbreitet, sobald man einheizt), Kombination von Widersächlichem ("Polarneger"), verquere Kausalitäten (die Sonne, die sich nach dem Hahnenkrähen ausrichtet), Absurditäten (die Geschichte des Herings, dem das Wasser abgewöhnt wurde und deshalb jämmerlich ertrank) usw.

Insgesamt erzeugen die einzelnen Texte eine Art Traumlogik, in der alle rationalen Gesetz ausser Kraft gesetzt sind. Das Buch gliedert sich in vier Teile. Der erste enthält skurrile Geschichten, die sich als Erinnerung an Kindheit und Jugend des Herrn April präsentieren; der zweite Teil enthält Ratschläge des Herrn April, die Märchenmotive und Redewendungen aufgreifen und sie in die Tat umsetzen, indem ihre übertragene Bedeutung im Wortsinn genommen wird, so dass die Sprache tatsächlich bewirkt, was sie behauptet (das Wort "platt" z.B. tatsächlich platt macht); der dritte Teil enthält absurde Tiergeschichten, spielt also mit dem Genre der Fabel, wobei auch eher merkwürdige Spezies wie die "Zeitungsente" vorkommen; im vierten Teil schliesslich sind verschiedene Einfälle untergebracht, die eher sprachspielerischer Natur sind und verschiedene gegenläufige Textverfahren erproben. Zum Beispiel die syntaktische Vertauschung von Worten ("Broten Sie sich ein Stück Schneid ab!") oder ein Brief, der allen Regeln der Höflichkeit widerspricht, die lautmalerische Verwendung von Satzzeichen, oder eine Speisekarte mit allerhand Unkulinarischem, das aber genauso verlockend klingt.

Dass Kolář neben den dargebotenen Absurditäten auch traditionelle Genres wie Märchen und Fabeln aufgreift, ist durchaus stimmig, besitzen sie doch eine heimliche Affinität zum Nonsens. Sprechende Tiere sind an sich schon eine Unmöglichkeit und viele Märchen warten ebenso mit unlogischen Elementen auf. Allen voran zum Beispiel das Märchen vom süssen Brei, das der Autor namentlich aufgreift und es noch einen Dreh absurder gestaltet. Auch das "Tischlein deck dich" oder der "Knüppel aus dem Sack" werden anzitiert und das aus den Schildbürgerstreichen bekannte Örtchen "Schilda" wird erwähnt, wo "unzählige Leute wohnen, die den Verstand verloren haben". Hier gewinnt der gesamte Unsinn eine kritische Komponente, was bei einem politischen Autor wie Kolář nicht verwunderlich ist. Die verkehrte Welt spiegelt immer auch eine aus den Fugen geratene Wirklichkeit. Der fröhlich zelebrierte Unsinn steht sinnbildlich für die Kapitulation der Vernunft. Der Nonsens ist somit stets doppelt konnotiert: einerseits kritisiert er die irrigen Zustände, andererseits bildet er auch ein Refugium für einen Geist, der sich dem herrschenden Irrsinn durch die Flucht in den Unsinn entziehen will.

Ein Schlüsseltext, wenn man so will, da er sich als poetologische Selbstaussage lesen lässt, findet sich relativ am Schluss des Bandes und heisst ironisch "Der kluge Kopf". Denn die hier in einem Frage- und Antwortspiel ausgebreitete Klugheitslehre ist nicht weniger verrückt als die restlichen Texte. So lautet die Antwort auf die Frage "Was ist Geschicklichkeit? - Die Grillen, die man im Kopf hat, zirpen zu lehren." Der kluge Kopf steckt also voller Grillen, hat viele wunderliche und sonderbare Einfälle, aber keine vernünftigen Ideen, und manchmal kommt er sogar abhanden: "Was ist Pech? - Sich einen neuen Hut kaufen und dann aus nichtigem Grund seinen Kopf zu verlieren." Die Pointe ergibt sich, wenn man die Redewendung von der Kopflosigkeit wörtlich nimmt - ein übrigens in der surrealistischen Kunst verbreitetes Motiv, wenn man etwa an René Magrittes Gemälde von anonymen Herren in Anzügen denkt, wo der Kopf vom Hut getrennt oder ganz verschwunden ist. Ohne Kopf, keinen Sinn. Und selbstverständlich wird auch diese Frage nach dem fehlenden Sinn gestellt - und beantwortet: "Was ist sinnlos? - einen Pumpenarm unter der Achsel zu kitzeln und den Mond aus dem Brunnen ziehen zu wollen".

Am Ende dreht Herr April der Leserschaft eine lange Nase.

Dienstag, 25. März 2025

Christian Kracht: 1979 (2001)

Und gleich nochmals Kracht, weil es so Spass macht: In nur 180 Seiten, nein, nicht um die Welt, sondern vom revolutionären Teheran in ein chinesisches Umerziehungslager. Dort endet die Geschichte für den Ich-Erzähler. Scheinbar zufrieden quittiert er im letzten Satz: "Ich war ein guter Gefangener. Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen." Wie hier die komplette Selbstaufgabe gleich vierfach mit dem stolzen Personalpronomen "Ich" eingeleitet wird, ist in seiner Widersprüchlichkeit nicht nur erzähltechnisch brillant, sondern gehört wesentlich zum subtilen Irritationspotential dieser Prosa dazu. Mit derselben emotionslosen Distanz wie seine Inhaftierung schildert das erzählende Ich die Ereignisse, die in das Lager geführt haben.

Alles beginnt Anfang 1979 in Teheran am Vorabend der Revolution: Der Erzähler besucht mit Christopher, seinem total abgefuckten Freund, eine dekadente illegale Party mit dubiosen Szeneleuten, die mit Orgon-Akkumulatoren sexuelle Erregung suchen und sich im anliegenden Haschwäldchen verlustieren. Während Christopher sich mit Koks und Alkohol vollpumpt, gelangt der Erzähler zur Erkenntnis, dass es mit ihrer Beziehung vorbei ist, mehr noch, dass es nie eine richtige Beziehung war, da er sich nur mit dem brillanten Zyniker, der Christopher einmal war, "geschmückt" habe. Ihn ereilt diese Erkenntnis parallel zur Begegnung mit einem gewissen Mavrocordato, der drohende, orakelhafte Prognosen ausstellt, im Erzähler aber auch eine Art Erlöserfigur erblickt: "Sie sind rein, Sie sind ein offenes Gefäss, wie der Kelch Christi [...] Sie sind - wide open."

In derselben Nacht erliegt der schon länger dahinsiechende Christopher (es ist von Blasenbildung an den Beinen die Rede) in einem abgewrackten Hospital an einer Überdosis und gleichzeitig bricht die islamischen Revolution unter Chomeini bricht. Der Erzähler irrt durch die Strassen und trifft scheinbar zufällig wieder auf Mavrocordato, der Teil des revolutionären Widerstands ist. Von ihm wird er auf eine seltsame, metaphysische Mission geschickt. Er soll zum Mount Meru, dem heiligen Berg Kailasch, Zentrum des Universums im Tibet pilgern und diesen im Uhrzeigersinn umkreisen, um durch diese Form des gehenden "Gebets" zum Weltfrieden beizutragen. Bei der Umrundung, die ihm als "perfekte Lebensaufgabe" erscheint, freundet er sich mit einer Gruppe von Pilgern an. Sie werden jedoch von chinesischen Offizieren aufgegriffen und als vermeintlich russische Spione in ein Arbeitslager gesteckt. 

Das Buch endet mit der Schilderung des Lagerlebens, dem sich der Erzähler trotz der unmenschlichen Bedingungen fügt, ja es sogar als Erlösung zu empfinden scheint. Man fragt sich sogar, ob sich der Erzähler über den Ernst der Lage wirklich bewusst ist - oder ob es für ihn keinen nennenswerten Unterschied macht, wenn er sich wie anfänglich auf einer Party bewegt, an der er sich unwohl fühlt. Die Realitätsverklärung kommt nachgerade zynisch zum Ausdruck, als der Gefangene sich freut, aufgrund des Nahrungsentzugs "endlich seriously abzunehmen". Der eingestreute Anglizismus unterstreicht nur seine Blasiertheit. Auch die sogenannte "Selbstkritik", d.h. die maoistische Indoktrinierung, nimmt er gleichgültig hin wie einen Partysmalltalk. Ein in seiner betont gleichgültigen Erzählhaltung unheimliches Buch, was zugleich seine Stärke ist.

Was will uns der Autor mit dieser Anti-Selbstfindungsreise vor Augen führen? Kritik an der Wohlstandsverwahrlosung? Kann die Jeunesse dorée das einzige Glück nur noch im Straflager finden, weil hier die existenzielle Leere mit Sinn aufgefüllt wird? Oder Sozialkritik? Das Lager als selbstverschuldetes Schicksal für politische Indifferenz und Flucht in eine Konsumwelt? Oder einmal mehr bei Kracht die hyperironische Inszenierung des Eskapismus, sei es nun an einer Untergrund-Party oder im Lager? "War waren verschwunden, es gab uns nicht mehr, wir hatten uns aufgelöst", heisst es kurz vor Schluss. Nota bene: Auflösung, nicht Erlösung.

Samstag, 22. März 2025

Christian Kracht: Air (2025)

Vorsicht Schlaumeier-Literatur! 

... Auf der Meta-Ebene ist es dann doch wieder ein raffiniertes Buch. Bei der Lektüre ist man zunächst eher enttäuscht, allzu glatt und belanglos wirkt die erzählte Geschichte auf den ersten Blick. Das mag mit ein Grund sein, weshalb die Kritik hin- und her gerissen ist zwischen Euphorie und Enttäuschung, abhängig davon, ob sie auf der Erzählebene verhaftet bleibt oder den Sprung ins Metaversum mitmacht. Der Unmut macht sich mit aus dem Roman selbst entlehnten Metaphern breit: Er sei nur "heisse Luft" bzw. ein "laues Lüftchen" oder die Story sei zu "flach". Doch dahinter steckt Kalkül. Eine Besonderheit von Krachts Prosa war es seither, dass sie mit Oberflächeneffekten operiert und doch eine Bedeutungstiefe suggeriert. So auch hier, im neusten Buch des Autors. Alles wirkt poliert und geschliffen, makellose Sätze reihen sich aneinander, die Geschichte entfaltet sich, trotz der Parallelführung zweier Erzählstränge, klar und geradlinig bis zur Banalität, und doch sind da allerlei Anspielungen und kleine Irritationen eingestreut, die zum Deuteln einladen. Und das macht wohl die Faszinationskraft von Krachts Roman aus, ähnlich wie eine Skulptur von Jeff Koons: Auf den ersten Blick möchte man ihn als puren Kitsch zurückweisen, auf den zweiten Blick erkennt man das Konzept dahinter. 

Hinzu kommt, dass bei Kracht stets auch eine sprachlich kaum fassbare Ironie mitschwingt. Etwa zu Beginn des Romans, als über mehrere Seiten die Wohnung des Schweizer Inneneinrichters Paul mit einem (ebenfalls ironisch?) überbordenden Adjektivreichtum, wie ihn heutzutage jeder Lektor aus dem Manuskript streichen würde, beschrieben wird: Ein Hipster-Klischee reiht sich an das nächste, vom akkurat arrangierten Designmagazin-Stapel bis hin zur umbrafarbenen Schale mit drei Walnüssen und einigen Muscheln, so dass sich die Szenerie nicht anders als parodistisch liest. Und zwar als Parodie auf den schlichten, minimalistischen Skandinavischen Stil, für den das Magazin "Kūki" wirbt, das da so säuberlich aufgestapelt liegt. An diesem Punkt wird es schon kompliziert bzw. bedeutungsschwanger: Das Magazin stammt zwar aus Norwegen, trägt aber einen japanischen Titel, der "Luft" bedeutet. Aha! Wie der Titel des Romans auf Englisch: "Air". Damit ist das Grundmotiv schon mehrschichtig gelegt. Der sich sowohl im Titel als auch im Programm des Magazins ausgedrückte Wunsch nach Leichtigkeit, Leere, Reinheit ja sogar Transzendenz bis hin zur Autolyse - sich in "Luft" auflösen. Der Wunsch nach Eskapismus und Gesellschaftsflucht artikuliert sich schon immer in Krachts Romanen. Er zieht sich als basso continuo durch sein Werk.

'Sich in Luft auflösen': Darin besteht just auch die Absicht des "sich selbst absichtlich irrelevant machenden Dekorationsmagazins" Kūki. Und darin besteht auch das Schicksal des Dekorateurs Paul, der, kurz nachdem er sich wünschte, "er könne in der Zeit verschwinden", tatsächlich - durch einen Stromschlag? eine Datenverschiebung in der Cloud? sicher jedenfalls durch einen Erzähltrick des Autors - in eine Fantasiewelt katapultiert wird, die ganz seiner puristischen Ästhetik entspricht. Er landet in einem vortechnischen Zeitalter mit karger Landschaft, Steinen, Eisflächen, unendlichen Weiten und Bewohnern, die eine karge Lebensweise pflegen. Er bewundert die "einfachen Gegenstände" dieser Welt: "Es war alles echt." Zugleich mutet sie aber wie ein Fantasy-Rollenspiel an: Zusammen mit einem Mädchen namens Ildr muss Paul, der nur noch "der Fremde" genannt wird, gegen Soldaten des bösen Herzogs kämpfen, die aus unbekanntem Grund hinter ihm her sind. Scheinbar ebenso grundlos ziehen beide zum Eismeer, weil sich Paul da eine unbekannte Erlösung verspricht. Im Verlauf ihrer Reise vermeint Paul, dass die Welt immer flacher werde, bis er schliesslich als Zauberer Merlin in das Bild von James Archer eingeht, das bei ihm in der Wohnung hing.

Wie die beiden Erzählebenen Pauls Design-Wirklichkeit und die scheinbar 'echte' Welt des Mittelalters, 'logisch' zusammenhängen, lässt mehrere Deutungen offen. Es könnte alles nur ein Traum sein (Paul schläft zu Beginn auf dem Sofa). Es könnte eine Nahtoderfahrung oder Jenseitsreise ein (Paul lehnt sich gerade gegen die Datenbank als der Stromschlag erfolgt, auch der Kūki-Herausgeber Cohen nimmt eine Überdosis Schlafmittel, bevor er in der anderen Welt erwacht. Ausserdem wird als intertextueller Fingerzeig flüchtig auf die Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren verwiesen). Oder es handelt sich um eine Computersimulation (darauf deutet der Fantasy-Charakter hin wie auch gewisse Unstimmigkeiten, die wie eine Fehlprogrammierung anmuten, wenn etwa im tiefen Mittelalter eine Schraube auftaucht: "Eigentlich dürfte es solche Dinge hier nicht geben."). Handelt es sich um Gesellschaftskritik (Stichwort "Verflachung der Welt", eine Parodie auf die Flat-Earth-Bewegung) oder um eine antizivilistische Propaganda (Stichwort: das Neuheidentum, den Rodismus, für den der Kūki-Herausgeber Cohen zu schwärmen beginnt)?Wie immer kokettiert Kracht auch hier mit fragwürdig reaktionären oder sogar faschistoiden Ideologien.

Für jede dieser Deutungen sind Hinweise verstreut. Alles ist vom Autor bereits mitgedacht. Schlaumeier-Literatur eben. Wie subtil der Roman bis ins Detail gearbeitet ist, zeigt bereits der erste Satz, der zweifelsohne als einer der ersten besten Sätze in die Literaturgeschichte eingehen wird: "Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich." An sich ist diese direkte Zurücknahme schon grandios, die Raffinesse der Formulierung erweist sich aber erst in der Doppelsemantik dieser Verneinung, die sich sowohl auf die Sorgen als auch auf das Leben beziehen kann. Zunächst ist man geneigt, den Satz so zu verstehen, dass das Leben nicht wirklich voller Sorgen sei (not really). Doch - und Kracht hat das bei seiner Lesung an der Buchvernissage durch die Doppelbetonung eigens vordemonstriert - könnte man den Satz auch so verstehen, dass das Leben selbst nicht wirklich sei (not real). Und damit dringt man bereits tief in die Grundproblematik des Romans vor, der die Frage aufwirft, auf welchen Realitätsebene er sich bewegt. Erwähnt der Autor dann noch schelmisch in einem Interview, seine Tochter habe ihn darauf hingewiesen, dass im Titel auch die Artificial Intelligence (AIr) steckt, legt er geschickt den Köder, den Roman als Parabel auf ein durch und durch künstliches, computergeneriertes Leben zu lesen.

Schliesslich steht genau in der Mitte und damit im architektonischen Zentrum des Romans das gigantische Rechenzentrum, in dem das gesamte Gedächtnis der Menschheit gespeichert ist. Auch da operiert Kracht wieder mit einer bivalenten Formulierung: "Dort wohne im Grund die Cloud". Auch das lässt sich zweifach verstehen: Einerseits topologisch: tief unten, wobei hier zusätzlich mit der Paradoxie gespielt wird, das sich die Cloud (Wolke) auf dem Grund befindet. Eine ähnlich verkehrte Welt, wie die simulierte in der Parallelgeschichte, wo die Sonne im Westen untergeht. Andererseits lässt sich das 'im Grunde' auch rein hypothetisch verstehen: eigentlich, aber 'nicht wirklich'? Die Frage nach der Wirklichkeit durchzieht den Roman von Anbeginn: Bereits Pauls Tätigkeit als Inneneinrichter ist darauf angelegt, mit den "inszenierten Wohnräumen" eine falsche Realität vorzutäuschen, um bei den Kunden Sehnsüchte zu wecken. Dasselbe gilt für Träume, von denen einmal gesagt wird, durch sie könne man "in andere Welten" gehen. Und schliesslich wird auch die Möglichkeit diskutiert, ob die Persönlichkeit nach der Auflösung des Körpers virtuell weiterleben könne. Der Computer biete somit eine "Hoffnung", "die immateriell ist" - genauso wie Pauls Innenausstattungen.

"Hoffnung", so hat Paul nicht von ungefähr auch sein Ruderboot getauft, das dann in der Parallelwelt wieder auftaucht. Auf diese Weise so lassen sich ad infinitum weitere Bezüge herstellen, die der Autor sorgsam gestreut hat, ohne dass sich damit der Text näher erschliessen würde. Das Deutungsangebot bleibt offen. Und der Autor lacht sich ins Fäustchen. Schlaumeier!

Mittwoch, 19. März 2025

André Pieyre de Mandiargues: Das Motorrad (1963)

Der 1909 in Paris geborene Mandiargues gehörte zum Umkreis der Surrealisten rund um André Breton, mit dem er eine enge Freundschaft pflegte. Doch dieser relativ späte Roman weist, abgesehen von einigen Traumsequenzen und der Schilderung einer abgründig perversen Leidenschaft, kaum mehr surrealistische Züge auf. Im Gegenteil: Der Erzählton ist eher klassisch-gediegen und von einer , das Erzähltempo gedrosselt, was dem Motiv der rasanten Motorradfahrt diametral entgegen steht. So als hätte Thomas Mann eine Road Novel geschrieben. Vom Flair wiederum ist der Roman ein typisches Kind der 1960er Jahre, was sich auch daran zeigt, dass er erstaunlich rasch verfilmt wurde - der Streifen kam 1968 ins Kino mit Marianne Faithfull, der Ikone der Swinging Sixties, in der Hauptrolle. Ein Jahr später knatterten die Easy Rider Peter Fonda, Dennis Hopper und Jack Nicholson über die Leinwand.

Die Geschichte handelt von einer Amour fou, von einer jungen, 19jährigen Frau namens Rebecca, die sich in ein gefährliches Liebesspiel verwickelt. Der Roman beginnt damit, dass die frisch Verheiratete verfrüht aus einem Traum erwacht und kurzerhand beschliesst, das Ehebett zu verlassen, sich nackt die schwarze Lederkombination überzieht und auf ihr Motorrad steigt, um - wie 12 Tage zuvor schon - zu ihrem Liebhaber nach Deutschland zu fahren. Von ihm, einem an Esoterik interessierten Kunden ihres Vaters, der eine Buchhandlung führt, hat sie dieses Motorrad als Hochzeitsgeschenk bekommen, nachdem er vor der Hochzeit nächtens in ihr Hotelzimmer und schliesslich wie ein Inkubus auch in sie eingedrungen ist. Seither bindet sie ein magischer Bann an diesen mysteriösen Mann, den sie als ihren "Tigergott" verehrt und ihm absolut unterwürfig ergeben ist. Auf der Motorradfahrt zu ihm verfällt sie etappenweise in Tagträume und Reminiszenzen, an die sexuelle Initiationen.

Das führt zu einem eigentümlichen erzähltechnischen Effekt: Trotz der rasenden Geschwindigkeit, mit der Rebecca auf ihrem Motorrad unterwegs ist, zögert sich ihre Ankunft ständig hinaus: "die Zeit entschlüpft ihrem Blick". Sie befindet sich auf dem Weg in eine zeitlose, transzendente Sphäre. In ein Nirwana. Am Ende wird sie auch gar nicht ankommen, sondern tödlich verunglücken. Die Fahrt voraus führt somit zurück in die Vergangenheit: Wie seitlich die Häuser an Rebecca "wie eine Folge kleiner Träume" vorbeiziehen, so ziehen auch die Erinnerungsbilder an ihrem inneren Auge vorüber. Dabei verschmilzt sie zusehends mit ihrer Maschine zu einem "vollkommenen Ungetüm", gibt sich dem vibrierenden Motor unter ihren Schenkel mit derselben Ergebenheit, wie sie sich auch ihrem Liebhaber unterwirft. Die rauschhafte Fahrt steigert sich zu einem transluziden Zustand, der schliesslich im letalen Crash als der ultimativen Form der Ekstase und Erleuchtung mündet.

Ein Motiv, das man sowohl aus Marinettis Futuristischem Manifest als auch aus J.G. Ballards Crash oder John Hawkes Travestie kennt. Mandiargues führt dem eine esoterische Ebene hinzu: Der Liebhaber, Daniel Lionart, entpuppt sich als Swedenborgianer, als Anhänger des Schwedischen Mystikers und Theosophen Emanuel Swedenborg, und scheint mit spirituellen Ritualen vertraut. Er erscheint Rebecca in seinem Morgenmantel als "Priester einer sonderbaren Religion". Allerdings erinnern die zuweilen brutalen Exerzitien, die er an Rebecca vornimmt, eher an sexualmagische Praktiken eines Aleister Crowley als an Swedenborgs Lehre von der göttlichen Weisheit und Liebe. Die letale Motorfahrt lässt sich hingegen als Allegorie der Swedenborgischen Metaphysik lesen, derzufolge der irdische Körper als rein äussere Hülle im Moment der Aufweckung abgestreift werde, um in die rein geistige Welt überzugehen. So mündet der Roman denn auch mit einer kosmischen Auflösung: "Ein übermässiges lächelndes Antlitz wird sie verschlingen [...], ein menschliches, übermenschliches Antlitz, das letzte, vielleicht das eigentliche Antlitz des Alls."

Dass es sich bei diesem Gesicht lediglich um das Werbebild des Lastwagens handelt, in den Rebecca mit Vollgas donnert, ist die bittere Pointe des Romans. Es handelt sich um einen Weintransporter mit einem aufgemalten lachenden Bacchus auf der Plane. Allegorisch steht natürlich auch dieser Weingott für dionysischen Rausch und Ekstase, freilich weitaus profaner als es die von Swedenborg indoktrinierte Rebecca zum Zeitpunkt ihres Todes wähnt. Vor ihrem Crash kippte sie mehrere Gläser Kirschwasser in einer Kneipe.