Sonntag, 24. März 2024

Herbert Clyde Lewis: Gentleman über Bord (1937)

Herbert Clyde Lewis hat sich für seinen Protagonisten ein parabelhaftes Setting ausgedacht: Wie reagiert ein Mensch in einer ausweglosen Situation? Wie sieht er dem sicheren Tod ins Auge? In Gentleman über Bord geschieht dies auf eine denkbar läppische Weise: Mit einer Art Slapstick-Einlage wird Henry Preston Standish vom Dampfer Arabella ins offene Meer befördert. Er rutscht an der Reling auf einem Ölfleck aus und fällt kopfüber ins Wasser. Dort schämt er sich zunächst und zutiefst über sein tölpelhaftes Missgeschick, bevor der den letalen Ernst der Situation wirklich begreift.

Der Name des Protagonisten ist halbwegs sprechend: Standish deutet auf seine gesellschaftlichen Stand hin, er ist erfolgreicher Börsenmakler mit Frau und zwei Kindern, sowie auf seine Standhaftigkeit, auf die er sich zwar viel einbildet, die aber durch seinen Sturz radikal in Frage gestellt wird, genauso wie sein Standesbewusstsein. Denn was Standish nach seinem Sturz vor allem plagt ist die kaum standesgerechte Lage, in der sich befindet: Seine Gedanken sind "mehr mit Scham als mit Angst besetzt. Männer vom Schlage Henry Preston Standishs stürzten nicht einfach so vom Schiff mitten in den Ozean."

Aber ein Standish gibt nicht so rasch auf, er will unbedingt als Held aus dieser Geschichte hervorgehen. Deshalb beruhigt es ihn vorderhand, dass sein Leben nicht vor seinen Augen vorbeizeiht, wie es in oft floskelhafter Wendung in Romanen heisst, wenn vom Sterben die Rede ist. Tatsächlich kreisen Standishs Gedanken vielmehr um die Zukunft. Er imaginiert sich, wie er seiner Frau und den Kindern später von seinem Abenteuer erzählt, dabei seine Furchtlosigkeit und Durchhaltewillen rühmt. Diese Phantasien lassen selbst dann nicht vollends nach, als Standish erkennen muss, dass er rettungslos verloren ist. Noch in der Todesstunde glaubt er, er "würde auf ewig zum Übermenschen werden"! Tragischer kann sich ein Mensch existenziell nicht verfehlen.

Doch im Laufe der über 13 Stunden einsam und allein auf hoher See - Standish wähnt sich als "der letzte Mensch" auf Erden -, sieht er sich gezwungen, seine Standesallüren sukzessive abstreifen, sowohl im übertragenen als auch im tatsächlichen Sinn, wenn er sich seiner Kleidung entledigt und damit auch seine falsche Überzeugung über Bord wirft, das "Anstandsgefühl eines Mannes" sei "genauso wichtig wie sein Leben". Während er sich zunächst unnötig Gedanken macht, was die Passagiere an Bord der Arabella wohl von ihm halten, wenn er in blau-gelben Sporthosen aus dem Meer gefischt wird, zieht er sich schliesslich bis aufs letzte Hemd aus, damit er sich weiter über Wasser halten kann.

Ironischerweise wird auf dem Schiff das Fehlen von Standish lange nicht bemerkt und als es soweit ist, glauben alle sofort an Selbstmord. Vielleicht ist das, indirekt gedacht, sogar wahr. Denn Standish begab sich auf die Schiffsreise, weil er von einem Tag auf den anderen aus seinem oberflächlich besehen zwar perfekten, aber bis zum Ennui gleichförmigen und interesselosen Leben ausbrach und Frau, Familie und Job hinter sich liess. Standish spricht selbst von der "Krankheit der vollständigen Negation", die ihn erfasst habe. Er war zutiefst lebensmüde. Da ist es fast schon eine natürliche Folge bzw. entspricht es einer höheren Logik, wenn er (sich) eines Tages nolens volens von der Reling stürzt.

Es ist kein Drama, auch keine Tragödie, was uns Herbert Clyde Lewis vor Augen führt, obwohl er die verschiedenen Phasen des Untergangs - von Zuversicht über Galgenhumor und Verzweiflung bis zu Hysterie und Wahnvorstellungen - eindrücklich schildert, es ist ein Lehrstück: Mit Standish wirft Lewis auch die Leserschaft ins kalte Wasser mit der Frage: Was macht Euer Leben lebenswert? Eine Frage, die sich im Alltag selten stellt, in einer ausweglosen Situation jedoch umso dringlicher. Zu spät erkennt Standish, dass er eigentlich gar nie richtig gelebt, sondern sich zeitlebens als gesellschaftliche Larve bewegt hat, was vielleicht anders gewesen wäre, wenn er sein Leben vom Ende her gedacht hätte. 

Sonntag, 17. März 2024

Ror Wolf: Fortsetzung des Berichts (1964)

Weshalb heisst das Buch «Fortsetzung des Berichts»? Weil es dort beginnt, wo es aufhört, und dort endet, wo es wieder anfängt, sich also beliebig fortsetzt. Wie eine Gödel’sche Schlaufe sind zwei Erzählstränge zu einem infiniten Regress ineinander verzahnt. Wobei ‘verzahnt’ genau das richtige Wort ist, weil es den Bildbereich des Beissens und Essens aufruft, der ein zentrales Motiv der Geschichte ist. Der eine Erzählstrang schildert eine üppige Tafelrunde, zu der der namenlose Ich-Erzähler nach einem langen Spaziergang stösst. Der erste Abschnitt schildert, wie er am Tisch Platz nimmt. Der andere Erzählstrang, der stets alternierend folgt, berichtet vom Aufbruch des Erzählers, wie er seine Wohnung mit der Frau und ihren kranken Verwandten verlässt und sich auf den Fussmarsch begibt, der schliesslich bei der Tafelrunde endet, mit der die Geschichte beginnt. So beisst sich die Erzählung quasi selbst in den Schwanz, wie die "Werre" an einer Stelle des Buchs, die so zum allegorischen Tier des narrativen Verfahrens wird: "wie der Vorderleib schon nach einer kleinen Weile damit beschäftigt ist unter Ausscheidung schleimiger Bestandteile heißhungrig den weichen Hinterleib zu verzehren". Nimmt man diese Allegorie ernst, in der unverkennbar das Ouroboros-Motiv anklingt, dann hat Ror Wolf einen sich selbst verschlingenden Text geschrieben.

Die Geschichte verschlingt sich auch deshalb, weil die hyperpräzise, jede Einzelheit erfassende Erzählweise weniger zur Genauigkeit beiträgt, als dass sie alles zum Flimmern bringt. Der Fokus ist zu nah dran, als dass sich klare Konturen erkennen liessen. Was sich zwischen Aufbruch und Ankunft des Erzählers alles ereignet, ist deshalb nicht so leicht nachzuerzählen. Zu den äusseren Ereignissen auf dem Spaziergang treten Erinnerungen, Rückblenden und Vorstellungen des Erzählers sowie etliche Geschichten einer Figur namens Wobser, die sich dem Erzähler gleich zu Beginn an die Fersen heftet: hinter ihm hergeht, ihn einzuholen versucht, ihn anruft, an sein Gedächtnis appelliert: "Mein Guter, höre ich, erinnern Sie sich, höre ich, Sie haben es nicht vergessen, höre ich, hören Sie doch, höre ich, dieser Abend, die Ereignisse dieses Abends, höre ich". Lange Zeit kann oder will sich der Erzähler nicht erinnern, bis die rückläufige Erzählung schliesslich auf das Ereignis zusteuert, von dem der Bericht seinen Ausgang nahm: Wobsers Vater stürzte sich in dem Moment vom Dach, als der Ich-Erzähler aus seinem Haus tritt bzw. in das Haus der Tischgesellschaft eintritt. So klar wird das nicht, weil sich auch hier wieder zwei Enden der Erzählung verschlingen.

Die Rückblenden und Imaginationen nennt das erzählende Ich Bilder. Es sind häufig Bilder von Zerfall, Verwesung, Kadavern, Tod, Mord, Verstümmelung, was die Thematik des Essens einerseits auf eine ganz existentielle Ebene führt, andererseits auch mit der zergliedernden und zerteilenden Erzählweise korrespondiert, in der oft - wie in der Geschichte von der abhackten Hand des Sohnes - einzelne Gliedmassen von den Körpern abgetrennt erscheinen und sich Einzelheiten vom Gesamtbild lösen. Ror Wolf, der später nicht von ungefähr das Pseudonym Raoul Tranchierer wählt, verfolgt eine sezierende Schreibweise, die der minutiösen Beschreibungstechnik im "Mikro-Roman" Der Schatten des Körpers des Kutschers (1960) von Peter Weiss  einiges verdankt. Höhepunkt des gesamten Buchs ist zweifellos der in seinem Detailgrad bis ins Absurde beschriebene Befreiungsversuch von einem Fliegenfänger, der am Schuh des Erzählers kleben geblieben ist und den er vergeblich wieder abzuschütteln versucht, weil er stets wieder an dem Fuss oder der Hand haften bleibt, mit dem respektive der er sich davon zu befreien suchte. Ein zum Schreien verzweifelt komische Szene, die über zwei Seiten ausgedehnt wird, während alle am Tisch schon auf den Erzähler warten und sich fragen, wo er bloss steckengeblieben ist.

Zuweilen erinnert dieses Debüt auch an die repetitive monologische Prosa Thomas Bernhards, der ein Jahr zuvor mit Frost seinen ersten Roman vorlegte. Die Stilverwandtschaft ist stellenweise verblüffend, wobei Ror Wolf bereits jene Inklination ins Bizarre und Irrationale erkennen lässt, die seine späteren Texte auszeichnen.

Montag, 11. März 2024

Percival Everett: Die Bäume (2023)

Die Bäume sind ein Roman voll von schwarzem Humor, wobei diese Redewendung diesmal eine doppelte Berechtigung hat, da die Geschichte nicht nur makaber ist, sondern auch den Rassismus und die Lynchjustiz der 1950er Jahre thematisiert. Eine mysteriöse Mordserie hält das zurückgebliebene Provinznest namens Money, Mississippi in Atem. Ältere weisse Männer werden bestialisch mit einem Stacheldraht um den Hals ermordet vorgefunden und neben ihnen auch die Leiche eines verstümmelten Schwarzen, der ihre abgerissenen Testikel in den Händen hält. Die vertrottelte Polizei kann sich keinen Reim darauf machen, erst recht nicht, als die schwarze Leiche aus dem Kühlraum verschwindet und am nächsten Tatort wieder auftaucht, erneut mit den Testes des neuen Opfers in der Hand. Deshalb bekommt der lokale Sheriff bald Unterstützung durch das MBI (Mississippi Bureau of Investigation) und schliesslich noch durch das richtige FBI. Das Pikante daran: Die MBI-Ermittler sind afroamerikanisch wie auch die FBI-Agentin, die bald die kleinstädtischen Xenophobie der Rednecks von allen Seiten zu spüren bekommen.

Es stellt sich auch bald heraus, dass die Morde im Zusammenhang mit einem sechzig Jahre zuvor verübten Verbrechen stehen, als ein schwarzer Junge namens Emmett Till aufgrund einer Falschbeschuldigung gelyncht worden ist. Es scheint, als kehre dieser nun von den Toten zurück, um sich für die Gräueltat zu rächen. Tatsächlich reiht sich bald ein Mord nach dem anderen, stets nach demselben Strickmuster, und alle Opfer stehen in verwandtschaftlicher oder familiärer Verbindung zum Ku-Klux-Clan, der im Roman selbstredend auch aufmarschiert, und zu Akteuren der damaligen Lynchjustiz, über die eine nahezu mystische Figur, die über hundert Jahre alte Mama Z., eine geborene Lynch (Achtung schwarzer Humor), seit Jahren akribisch Buch geführt und ein gigantisches Archiv aller Ermordeten angelegt hat: "Hier gibt es eine Akte über so gut wie jede Person, die seit 1913 in diesem Land gelyncht worden ist." Über Seiten hinweg werden diese Namen auch im Buch einzeln aufgelistet, um ihnen eine letzte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Und mit jedem Namen nehmen auch die rätselhaften Massaker zu, die Mordserie weitet sich bald aufs ganze Land aus und dringt bis ins weisse Haus vor, wo Präsident Trump ebenfalls nach demselben Ritual hingerichtet wird. Doch zuvor desavouiert sich der Agitator eines neuen Rassismus selbst in seiner falschen Doppelmoral. Wie sich Trump um Kopf und Kragen redet und behauptet, er habe das Wort "Nigger" nie gesagt, aber es während seinem Dementi pausenlos wiederholt, ist eine parodistische Glanzleistung des Autors, der dem Präsidenten mit seinem "naturorangen" Teint entlarvend genau auf den Mund geschaut hat. Auch sonst besticht der Roman durch witzige Dialoge, schräge Typen und morbide Komik, wie man sie etwa aus den Filmen der Coen-Brothers kennt. Mit viel cinematographischem Flair ist der Roman denn auch geschrieben, der sich zuweilen wie ein Drehbuch liest. In rasanten, kurzen Kapiteln rollt die Handlung in äusserst verknappter Erzählweise ab, hauptsächlich getragen von der Stichomythie der Personen, in der die ganze Stärke des Romans liegt.

Donnerstag, 7. März 2024

Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas

Michael Kohlhaas ist neben der Marquise von O. wahrscheinlich die bekannteste Novelle Heinrich von Kleists, was aufgrund der umständlichen Erläuterung mitunter komplexer juristischer und politischer Sachverhalte eigentlich erstaunen muss. Doch ist seit Erscheinen des Textes die historisch verbürgte Gestalt des Kohlhaas’ zum Inbegriff für den blindwütigen Gerechtigkeitswahn geworden. Michael Douglas im Film Falling Down ist bloss ein harmloser Abklatsch davon. 

Weil ein widerfahrenes Unrecht auf intrigante Weise vor Gericht abgewiesen wird, verlässt Kohlhaas den offiziellen Rechtsweg, greift zur Selbstjustiz und zieht brandschatzend als apokalyptischer Reiter – er wird mal als "Engel des Gerichts", mal als "Würgeengel" apostrophiert – durch ganz Sachsen, ohne Rücksicht auf Verluste: selbst seine Frau Lisbeth stirbt an den Folgen des Rachefeldzugs, der in keinem Verhältnis mehr zur Bagatelle (ihm wurden zwei Rappen geschunden) steht, die Kohlhaas’ Rechtsempfinden empfindlich verletzt hat.

In einer atemlosen Erzählweise mit dem für Kleist typischen hypotaktischen Satzbau und einer weitgehend metaphernlosen Sprache wird das Schicksal von Kohlhaas geschildert, wobei die Novelle ungefähr in der Hälfte eine phantastische Wende nimmt und die anfänglich eingeschlagene realistische Ebene verlässt, was auch vom Erzähler eigens reflektiert wird, indem er anmerkt, "die Wahrscheinlichkeit" liege "nicht immer auf Seiten der Wahrheit", und es also dem Leser überlässt, an die Geschichte zu glauben oder daran zu zweifeln.

Der weitere Verlauf mutet in der Tat sehr unwahrscheinlich an. Kohlhaas’ Rechtshändel spielen kaum noch eine Rolle, vielmehr ein geheimnisvolles Amulett, das er in Jüterbock von einer Zigeunerin auf dem Jahrmarkt erhalten hat, die sich am Schluss sogar als Wiedergängerin seiner verstorbenen Frau Lisbeth ausgibt. Sie verschafft ihm trotz Todesurteil die Möglichkeit der Rache, denn im Amulett steckt eine Prophezeiung, die der Kurfürst von Sachsen unbedingt kennen will. Doch Kohlhaas, schon auf dem Schafott, verschluckt den Zettel mit der Prophezeiung vor den Augen des entsetzten Kurfürsten, der sein Leben nun weiter im Ungewissen fristen muss.