Mittwoch, 29. Januar 2025

Charles Bukowski: Post Office (1971)

Bukowski ist eine Legende. Der Hemingway der Unterschicht und Underdogs. Sein Moniker Henry Chinaski ist hart im Nehmen und nie maulfaul. Einer der abgefuckten Typen, die man im realen Leben eher meidet, in Bukowskis literarischer Darstellung jedoch sofort alle Sympathien entgegenfliegen. So unbekümmert möchte man sich auch durchs Leben schlagen, wenn man nur den nötigen Mumm dazu hätte. Chinaski machts vor und ist dabei fortwährend er selbst, verbiegt sich in keiner Sekunde.

Post Office - auf Deutsch unter dem Titel Der Mann mit der Ledertasche erschienen - war Bukowskis erster Roman, in dem er seine 11jährige Leidenszeit als Briefsortierer beim United States Postal Service verarbeitete. Aus der Ich-Perspektive erzählt sein alter Ego Henry Chinaski, wie er als Aushilfspostbote anfing und sich schliesslich als regulärer Postbeamte bewährte, trotz periodischer Verweise und Ermahnungen wegen seiner Unpünktlichkeit, seiner Trunksucht und seines unsteten Lebenswandels.

Ironisch stellt Bukowski seinem Roman die offizielle Deklaration des "Berufsethos" der amerikanischen Post voran, die auf absolute Integrität ihrer Mitarbeiter pocht. Dem entspricht Chinaski natürlich nicht im Geringsten. Er kümmert sich keinen Deut um seine Reputation und vor unsinnigen Vorschriften und selbstgefälligen Autoritäten hat er schon gar keinen Respekt, erst recht nicht wenn diese ihre Position ausnutzen, um die Angestellten zu schikanieren.

Chinaski lässt sich von nichts und niemandem kleinkriegen. Er ruht in seiner Prolo-Attitüde (Rennbahn, Beischlaf, Alkohol) gewissermassen stoisch in sich selbst. Egal, ob er bei strömendem Regen die Post verteilen muss, einer Nymphomanin zum Opfer fällt, fast von einem Christbaum erschlagen oder von Büffeln über die Weide gejagt wird, stets bewahrt er Haltung und wirkt völlig ernüchtert - wenn dieser Ausdruck beim ständig verkaterten Chinaski nicht total unangebracht wäre.

Wie Hemingway so ist auch Bukowski ein Autor des knappen Stils. Die Sprache ist auf das Äusserste reduziert, gewinnt aber gerade dadurch ihren spröden, sarkastischen Charme. Der böse Witz teilt sich - trotz aller derben Direktheit - oft zwischen den Zeilen mit. In den Leerstellen, dem Ungesagten. So gelingen bei Bukowski selbst abgedroschene Metaphern, die bei anderen Autoren sofort in Kitsch abstürzen würden, wie der Vogel im Käfig, der ganz zum Schluss als Allegorie für die 11 Jahre Frondienst bei der Post aufgerufen wird.

Montag, 27. Januar 2025

Jeanette Winterson: Frankissstein (2019)

Ein Roman für die Gegenwart, der aktuelle Fragen rund um KI, VR, Transhumanismus, Genderfluidität miteinander verquirlt und an die Franksteingeschichte zurückbindet, der Schauergeschichte um die Erschaffung eines künstlichen Menschen. Eine Idee, die die Autorin bereits in ihrem Roman Das Power-Book von 1998 anwandte, wo sie Ovids Metamorphosen und Virigina Woolfs Orlando mit dem Cyberspace in Verbindung bringt. Orlando wird auch in Frankissstein kurz als "erster Trans-Roman" erwähnt. Und auch dort wechseln sich zwei zeitliche Ebenen, eine historische und eine gegenwärtig-erfundene, alternierend ab und überblenden sich punktuell: Die historische Ebene rund um Mary Shelley, wie die Achtzehnjährige 1816 in Gesellschaft ihres Gemahls Percy Shelley, Lord Byron und dem Arzt John Polidori an einem verregneten Tag oberhalb des Genfer Sees die Geschichte von Frankenstein erfindet, die zwei Jahre später für Aufsehen sorgen wird. Der andere Erzählstrang spielt in einer leicht zukünftigen Gegenwart: Auch hier steht eine Mary Shelley im Zentrum, die sich aber Ry nennt, weil sie sich zum Mann umwandeln liess. Das heisst: Sie nimmt Hormone, verzichtete aber auf einen operativen Eingriff, so dass sie halb Frau, halb Mann ein Zwitterwesen darstellt.

Ry Shelley ist Arzt und versorgt einen gewissen Victor Stein regelmässig mit frischen Leichen für seine Experimente bei Alcor - einer real existierenden Organisation für sogenannte Kryokonservierung. In einem geheimen Labor in Tunnels unterhalb von Manchester konstruiert er intelligente Prothesen und versucht das Gehirn von Jack Good wieder zu reaktivieren, einem genialen Mitarbeiter Alan Turings, der in Bletchley Park während dem Zweiten Weltkrieg an der Dechiffrierung der Enigma beteiligt war (und später Stanley Kubrick für seinen Film Space Odyssey beraten hat.) Victor Stein tritt somit als postmoderner Wiedergänger Frankensteins auf, der mit seinem Monster ebenfalls künstliches (und damit ewiges) Leben schaffen wollte. Zwischen Stein und Ry Shelly entspannt sich eine "Liebesgeschichte" - so auch der Untertitel des Romans. Die Frage, wie Liebe im transhumanen Zeitalter beschaffen sein wird, wenn der Mensch nur noch mit Sexbots interagiert oder lediglich als Gehirn-Upload - als "iHead" - auf einer Cloud existiert, durchzieht den Text leitmotivisch, neben der ebenfalls leitenden Frage nach der Realität. Antworten auf diese Fragen finden sich jedoch keine, auch nicht in der Kontrastierung mit dem romantischen Zeitalter Shelleys, das in der Fiktion zumindest den künstlichen Menschen vorwegnahm.

Zumindest gelangt die Erzählung nicht über das Offensichtlichste hinaus, nämlich, dass der Mensch sich von der Maschine durch sein Seelen- und Gefühlsleben unterscheidet, auch wenn diese Erkenntnis in einem originellen Vergleich mitgeteilt wird: mit dem Herz einerseits als körperliches Organ, andererseits als emotive Metapher, wobei die Konnotation nicht gegensätzlicher sein könnte, wie eine träfe Bemerkung der beiden Mary Shelleys (in Gegenwart und Vergangenheit) belegt: "Jeder Metzger verkauft einem eines. [...] Das, was am Menschen am meisten geschätzt wird, ist das billigste Fleisch: das Herz." Während der Herzmuskel zum Wertlosen gerechnet wird, steht das Herz als Sprachmarke desto höher in Kurs, wie durch eine Wortspielerei demonstriert wird: "Niemand sagt, ich liebe dich von ganzer Niere. Ich liebe dich mit ganzer Leber. Niemand sagt, meine Gallenblase gehört nur dir. Niemand sagt, sie hat mir den Blinddarm gebrochen." Der Mensch lässt sich weder auf seine Körperlichkeit noch allein auf seinen Geist reduzieren: Seine Existenz entfaltet sich just in der Leib-Seele-Dualität, die durch die künstliche Trennung beider Sphären gerade nicht realisieren bzw. technisch simulieren lässt.

Irgendetwas stört das Lesefrüchtchen an diesem Buch, obschon es ein interessantes Thema aufgreift, fachkundig historisches und technisches Wissen mit Fiktion vermischt, mit witzigen bis kalauerhaften Dialogen aufwartet (siehe eben zitierte Kostprobe) und die Dinge immer wieder durch markante Sätze auf den Punkt bringt. Trotzdem wirkt alles allzu glatt und routiniert, als hätte eine Journalistin den Roman verfasst. Die Geschichte bleibt mehrheitlich an der Oberfläche haften und lässt es trotz vieler historischer Bezüge und Zitate an Tiefe vermissen, die gerade bei dieser philosophisch relevanten Thematik einen weniger plakativen Zugang gefordert hätte. Letztlich bleibt von der ohnehin dünnen Story, die sich hauptsächlich in Sachdiskursen und einer fatiganten Obsession für Sexbots erschöpft, auch nicht viel übrig, sie verpufft am Ende ganz einfach. Auch die Charaktere sind allzu platt und stereotyp geraten. Transgender hin oder her. So vielversprechend und aktuell die gewählten Motive sind, literarisch bleibt die Umsetzung weitgehend enttäuschend und gelangt nicht über ein Mittelmass hinaus.

Sonntag, 12. Januar 2025

Jonathan Coe: Das Haus des Schlafes (1997)

Ein raffiniert konstruiertes Buch mit hohen Suspense-Potential, das man entsprechend kaum mehr aus der Hand legen mag. Ein Buch auch, das nach beendeter Lektüre weiter zum Rätseln anregt. Dabei handelt es sich im Kern um eine unglückliche Liebesgeschichte zwischen Sarah und Robert, die in den 1980er Jahren gemeinsam in einem Studentenwohnheim in Ashdown wohnten. Nach einer belastenden Beziehung mit dem narzisstisch gestörten Gregory verliebt sich Sarah in ihre Kommilitonin Veronica, was dem sensiblen Robert fast das Herz bricht, weil er seit der ersten Begegnung heimlich in Sarah verliebt ist. Als sich die beiden, nachdem Sarah ihre Liäson zu Veronica wieder aufgelöst hat, am Abschlussabend schliesslich näher kommen, zögert Robert und verpasst dadurch seine einmalige Chance. Total zerstört schlägt er sich in seinem Zimmer den Kopf wund und schmiert im Selbsthass "Arschloch" an die Wand.

Mehr als zehn Jahre später befindet sich in diesem Wohnheim eine Schlafklinik, geleitet von grössenwahnsinnigen Dr. Drudden, niemand anders als Sarahs exzentrischer Ex-Freund Gregory. Auch der von Robert an der Wand hinterlassen Schriftzug taucht in einem Patientenzimmer wieder auf wie überhaupt sich die (uneingelöste) Vergangenheit wieder in dem Haus einfindet. Denn Sarah verabschiedete sich damals von Robert mit der Bemerkung, ihre ideale Partnerin wäre wohl eine weibliche Ausgabe von Robert, nämlich seine Zwillingsschwester Cleo. Das Problem ist nur: diese Zwillingsschwester gibt es gar nicht. Sie ist eine Erfindung von Sarah, die - unter Narkolepsie leidend - die seltsame Angewohnheit hat, dass sie gewisse Träume für die Realität hält. Und so glaubt sie sich fälschlicherweise an ein Gespräch mit Robert über Cleo zu erinnern. Aus Liebe zu Sarah nimmt er sie vor dem Gespött seiner Kameraden in Schutz und unterstützt diese Fiktion - mit fatalen Folgen.

Denn zehn Jahre später ist er - nach einer Geschlechtsumwandlung - selbst zu dieser Cleo geworden, die als Dr. Madison in der Schlafklinik arbeitet. Er hat, in der Hoffnung, Sarah dadurch endlich für sich zu gewinnen, ihren Wunsch wahrgemacht und sich, für sie, zur Frau transformiert - nur leider ist Sarah längst (mit einem Mann!) verlobt, was Robert alias Cleo endgültig das Herz bricht. Bevor er sich zu erkennen geben kann, verschwindet er für immer aus Sarah Leben und taucht als Dr. Madison in der Schlafklinik unter, bis sich eines Tages ein alter Studienfreund, der mittlerweile unter Schlaflosigkeit leidende Filmkritiker Terry, dort einliefern lässt und aufgrund der physiognomischen Ähnlichkeit in Dr. Madison Roberts vermeintliche Zwillingsschwester erkennt. Dieser lüftet zwar ihre Identität nicht, stattdessen führt die Begegnung zu einer anderen, nicht weniger überraschenden Entdeckung.

Als Student war Terry besessen von einem verschollenen Film des obskuren italienischen Regisseurs Salvatore Ortese. Auf der Suche nach Spuren, stösst er in einem Archiv schliesslich auf ein einziges Foto von den Dreharbeiten, das er mitgehen lässt und als kleines Heiligtum aufbewahrt. Wie sich am Ende herausstellt, zeigt das Bild die Sequenz aus einem Traum von Robert, den dieser seit seiner Kindheit in Erinnerung hat: Eine Frau in Krankenschwester zeigt auf ein Krankenhaus in der Ferne. Dieses Traumbild deutet sowohl auf die Geschlechtsumwandlung Roberts wie auch auf die spätere Begegnung mit Sarah hin. Denn die Frau auf dem Bild steht unter einem Schild mit der Aufschrift "Fermer" - so wie Robert am Schluss in weiblicher Gestalt Sarah aufsucht, die an der "Fermer Road" wohnt. Traum- und Filmwirklichkeit münden somit in eine höhere Realität. Oder ist etwa alles nur ein Traum von Terry, der während seines Aufenthalts in der Schlafklinik sukzessive in die R.E.M.-Phase hinübergleitet? Immerhin war es seine Überzeugung, dass nie gesehene Filme die schönsten Träume sind.

Auch Erzähltechnisch gleiten die zeitlichen Ebenen - die Kapitel alternieren zwischen der Studentengeschichte und den Geschehnissen 15 Jahre später im Schlaflabor - teilweise mitten im Satz ineinander über. Eine strenge Wach-Schlaf-Grenze wird dadurch aufgehoben und es bleibt in der Schwebe, ob es sich um ein geträumtes Leben oder einen gelebten Traum handelt. Hinzu kommt, dass die Geschichte nicht chronologisch erzählt wird, sondern nach dem Prinzip eines klassischen Krimis sukzessive neue Details enthüllt werden, die hier in dieser Zusammenfassung längst gespoilert sind. Die mehrschichte Erzählstruktur erweist sich nicht zuletzt auch in Bezug auf den Titel: Mit dem Haus des Schlafs ist, naheliegend, die Schlafklinik des Dr. Drudden gemeint, es handelt sich aber auch um den Titel eines Buches im Buch: um einen Trivialroman des Schriftsteller Frank King (ein Seitenhieb auf Stephen King?), der für die Protagonisten in Coes Roman eine symbolische Bedeutung einnimmt.

Wie hier elegant verschiedene Motive - Schlaf, Film, Doppelgänger und schon früh: Geschlechteridentität - anspruchsvoll verknüpft werden, ohne dabei den Handlungs- und Spannungsbogen aus den Augen zu verlieren, verrät ein gekonntes Handwerk. Jonathan Coe ist ein schlauer Kopf und ein satirisch genauer Beobachter. Das zeigt sich auch und insbesondere an Passagen, die er zuweilen einstreut, ohne dass sie in ihrer Ausführlichkeit erzählökonomisch zwingend nötig wären: Etwa die Schilderung einer entgleisenden Unterrichtsstunde, ein absurdes Gruppendynamik-Seminar oder ein Zeitungsartikel mit verrutschten Fussnoten, die nun völlig schräge bis obszöne Bezüge herstellen - hier brilliert der Autor nicht nur technisch, sondern auch komödiantisch. Letzteres gilt auch für die grandiose Parodie auf Lacans Psychoanalyse, dessen fragwürdige Interpretationsansätze auf die Schippe genommen wird - und zwar just in direkter Anwendung auf die Geschichte selbst. Selten liest man einen Roman, der so vielschichtig ist und trotzdem unterhaltsam daherkommt.

Mittwoch, 8. Januar 2025

Neal Stephenson: Cryptonomicon (1999)

Im berühmten Kapitel "Cetology" aus Moby Dick vergleicht Herman Melville Walfische mit Buchformaten, wobei man das Verfahren freilich auch umkehren kann. Dann wäre Moby Dick selbstredend ein riesiger Pottwal unter den Büchern. Treffender für Neal Stephensons Cryptonomicon hingegen wäre ein Vergleich mit U-Booten, da die submarinen Manöver während dem Zweiten Weltkrieg im Zentrum des voluminösen Romans stehen. Er würde - damals - mindestens zur japanischen I-400-Klasse der Unterseeboote gehören oder zum Typ XXI der Deutschen. Technologisch aufgerüstete Stahlmonster, aber schwerfällig und daher letztlich wirkungslos. Das gilt ein wenig auch für Stephensons Roman. 

Wie U-Boote haben auch dicke Bücher oft die Schwierigkeit, dass sie nur langsam Fahrt aufnehmen. In Cryptonomicon dauert es fast bis in die Hälfte des Buches, bis die vielen Handlungsstränge erkennbar zusammenlaufen und erste Spannung aufkommt - also nach gut 600 Seiten, nachdem die meisten Bücher ohnehin längst beendet sind. Sergeant Shaftoe, einer der Hauptfiguren des Romans, trifft einmal die Unterscheidung zwischen Männern, die durch Reden etwas erreichen wollen, und Männern, die Reden für reine Zeitverschwendung halten und lieber zur Tat schreiten. Er entdeckt dann noch eine dritte Kategorie von Männern, die "einfach nur Lust" haben, "über Worte zu reden", also unnötig, ja verschwenderisch viele Worte verwenden. Zu dieser Kategorie gehört auch der Schriftsteller Neal Stephenson. Ganz offensichtlich liebt er es, sich möglichst wortreich zu verbreiten.

Neal Stephenson gilt als SF-Autor und wird mitunter der Cyberpunk-Bewegung zugeordnet. Diese Kategorisierung trifft für Cryptonomicon nur bedingt zu. Im Kern handelt es sich um einen zuweilen überzeichneten historischen Spionage-Thriller mit comicartigen Zügen. Ein gewisser, wohl intendierter Trash-Faktor ist dem Roman jedenfalls nicht abzusprechen. Er besteht aus zwei parallel geführten Handlungsebenen, die in alternierenden Kapiteln sukzessive entfaltet und miteinander verknüpft werden. Die erste Handlungsebene spielt während dem Zweiten Weltkrieg. Zwischen den Deutschen und den Alliierten toben nicht nur Kampfeinsätze, sondern auch ein kryptologischer Informationskrieg. Auf der Seite der Alliierten operiert die historisch verbürgte Figur des Mathegenies Alan Turing, dem es gelang, den deutschen ENIGMA-Code zu knacken, und sein (erfundener) Kompagnon Lawrence Waterhouse, auf Seite der Wehrmacht steht Rudolf von Hacklheber. Alle drei kennen sich von früher aus ihrem Studium in Cambridge.

Die andere Handlungsebene spielt am Ende des 20. Jahrhunderts, als amerikanische Jungunternehmer und Programmierer in einem fingierten philippinischen Inselstaat, dem Sulfanat Kinakuta, einen freien Datenhafen errichten wollen und bei der Verlegung von Tiefseekabeln auf das Wrack eines mysteriösen Nazi-U-Bootes stossen, das die Hintergründe einer Schmuggelkomplottes von Goldreserven enthüllt, in die das Figurenarsenal aus der historischen Handlungsebene verstrickt war. Dabei geht auch hervor, dass zwei Figuren der Gegenwart, der Programmierer Randy Waterhouse und die Tiefseetaucherin Amy Shaftoe, mit zwei Figuren aus der Vergangenheit, mit dem bereits erwähnten Mathematiker Waterhouse wie dem Sergeant Shaftoe verwandt sind. Auch narratologisch bewegen sich beide Zeit- und Erzählebenen aufeinander zu: in dem Masse, wie in der Gegenwart die Verschwörung aufgedeckt wird, erfahren wir aus der Vergangenheit, wie sie zustande kam.  

Der grosse Plot zerfällt dabei in unzählige Einzelepisoden, die für sich durchaus amüsant zu lesen sind, nicht zuletzt aufgrund des oft parodistischen Schreibstils des Autors, die Lektüre insgesamt aber zerfasern und schwerfällig gestalten. Es scheint fast so, als habe Stephenson die Technik der im Roman beschriebenen Sondereinheit 2702 auf das Buch selbst angewendet, um die vielleicht allzu durchschaubare Story zu kaschieren. Diese erfundene Sondereinheit, der im Roman auch Alan Turing angehört, wurde von den Alliierten ins Leben gerufen, um statistische Ausreisser wieder auszugleichen, die durch ihr kryptologisch erworbenes Geheimwissen über die Pläne der deutschen Gegner entstanden sind. Dadurch sollte verhindert werden, dass die Nazis Verdacht schöpfen. Die Einheit 2702 konstruiert also alternative Gründe, woher das Wissen stammen könnte, indem sie bspw. künstlich Pfade austrampeln, um einen bereits länger existierenden Horchposten vorzutäuschen. Manche der Episoden in dem Roman gleichen solchen falschen Trampelpfaden.

Fazit: Eine - nur bedingt lohnenswerte - Schwarte. Vom Ansatz her vielversprechend, in der Länge jedoch zeitraubend.