Es ist die Geschichte eines "bsonderbaren Kindes", eines "gespässigen Meitschis", das lieber "erdbeeren" geht, als sich in grosse Gesellschaft begibt: "Mag das Gred und Gstürm nicht mehr hören und das Weltschen nicht". Ein Mädchen, das abgewandt von der Welt ein blühendes Innenleben hegt. Beschrieben wird es als "ein schöneres, reineres Gemüt". Mit Goethe könnte man auch von einer "schönen Seele" sprechen. Hat uns der Pfarrer Albert Bitzius unter seinem nom de plume Jeremias Gotthelf eine Heilige vor Augen gestellt? Oder liegt die "Besonderheit", die "Gespässigkeit" des Kindes in ganz anderer, verquerer Richtung?
Wie so oft bei Gotthelf ist auch diese Geschichte in eine Rahmenhandlung eingebettet: Der junge, etwas stolze und eingebildete Gerichtsäss Peter Hasebohne wird ans Totenbett des Erdbeeri Mareili bestellt, die ihm Tschaggeneigraben wohnte - einer wüsten, wahrlosten Gegend abseits des Dorfes, dort wo sich - wie es im Volksmund heisst - "Füchse und Hasen einander gute Nacht sagen". Umso mehr erstaunt Hasebohne, als er sieht, wie ordentlich, sauber und offenbar auch wohlhabend das Mareili lebte. Er entdeckt nicht nur schöne Kleider, Schmucksachen und Kleinodien; auch Geld ist ausreichend vorhanden. Der Dorfpfarrer, der auch Bitzius selbst sein könnte, erzählt dem verdutzten Amtmann, wie das Mareili zu diesem unvermuteten Reichtum kam.
Zusammen mit zwei jüngeren Geschwistern lebte es einst mit seiner Mutter im besagten Tschaggeneigraben in grösster Armut. Die Mutter fürchtet schon früh um den Tod es Kindes, da es im Unterschied zu seinen beiden Geschwistern weltabgewandt und mit einer blühenden Phantasie ausgestattet ist. Und doch besitzt es eine besondere Gabe, die der Familie hilft, sich über Wasser zu halten. Bei seinen Streifzügen durch den Wald entdeckt es die schönsten und schmackhaftesten Erdbeeren, welche die Mutter im Dorf den wohlhabenden Leuten feilbieten kann. Jeden Winter wartet das Mareili sehnsüchtig auf den Frühling, um wieder Erdbeeren pflücken zu gehen.
Eines Tages übermannt es beim Erdbeeren der Schlaf, auch "Vetter Schläfli" genannt, und es kommt zum wohl schönsten Satz der gesamten Erzählung: "Meister Schläflein ist ein gar mächtiger Mann, kann schlafen, wo er will, Könige zwinget er, geschweige denn Kinder". Im Traum erscheint dem Mareili ein schöner weisser Engel, doch wie sich später herausstellt, handelt es sich um gar kein überirdisches Wesen, sondern um einen "Engel auf Erden" in "Menschengestalt". Als es Jahre später einem vornehmen Fräulein begegnet, erkennt es in ihm auf ein Mal ihren Engel im Schlaf - und auch das Fräulein erkennt das Mareili wieder, das für es ebenso engelhaft erschienen ist.
Zwischen den beiden entwickelt sich eine Art Liebesgeschichte. Führt es zu weit, wenn man vermutet, Gotthelf erzähle uns verklausuliert die Geschichte einer lesbischen Liebe? Die Erdbeere ist nicht zufällig auch das Symbol sündhafter Lust und kann sogar das weibliche Geschlechtsteil symbolisieren. Zudem ist es auffällig, wie in der Erzählung das "Verhältnis zum Fräulein" betont wird, und wie stark die emotionale Ergriffenheit bei der ersten bewussten Begegnung war: die "magnetische Kraft in den Augen" des Fräuleins "bewegten" dem Mareili "das Herz", "fast wie der Engel das Wasser im Teiche Bethesda, mit dem Unterschied jedoch, dass es Mareili nicht trüb ward im Herzen, sondern hell und licht, eine klare Freudenflamme loderte".
Während sich Mareili unverkennbar sofort über beide Ohren verliebt, dauert das 'Coming-Out' beim Fräulein länger, denn es lebt in "konventionellen Schranken". Gotthelf nennt es den "Schnürleib": "In einem solchen Schnürlieb stak das arme Fräulein, fühlte ihn vielleicht oft lange nicht, er schien ihm zur andern Natur geworden, bis bei besondern Anlässen oder besondern Stimmungen die Gefühle schwollen, gegen die Bande drängten, Kopf und Herz zu platzen drohten, endlich in eine Schwäche bis zum Tod der Brand verlief."
Erst im Alter "fiel der Schnürleib ab" und das Fräulein "begann sich vor allem der Liebe zu Mareili bewusst zu werden, welche eigentlich schon lange in ihm war, bis es aber, solange der Schnürleib seine Gefühle in alter Gemessenheit erhielt, nicht bemerkt, an die Möglichkeit ihrer Existenz gar nicht gedacht hatte." Das klingt heutigen Ohren, wo sich zahllose junge Menschen ebenfalls von den gesellschaftlichen Fesseln der Genderkonventionen befreien wollen, höchst vertraut. Das Fräulein nimmt Mareili bei sich zu Hause auf, wo sie "ähnlich zwei Nonnen" lebten, welche "die Welt hinter sich gelassen und über die Welt zu Schwestern geworden waren".
Während heute Lesben im Jargon auch Betschwestern genannt werden, wird hier eine lesbische Liebe in vergleichbarer Logik zu einer heiligen Schwesternschaft verklärt, die - auch das wird eigens betont - kinderlos bleiben wird. Ist denn dem Pfarrer Bitzius so viel Queerness wirklich zuzutrauen? Die Rahmen-Geschichte endet jedenfalls wieder in konventionellerem Rahmen, allerdings nicht ohne Augenzwinkern auf die herkömmlichen Geschlechterverhältnisse. Der Pfarrer schliesst seine Erzählung damit, dass das Fräulein stirbt und das Mareili nun zwar wohlhabend trotzdem wieder in ihr altes Häuschen im Tschaggeneigraben zieht, wo es unter all den Reichtümern schliesslich vom Gerichtsäss auch tot aufgefunden wurde.
Dieser scheint von der ganzen Erzählung wenig beeindruckt, vor allem versteht er nicht, weshalb der Pfarrer das Mareili so hochschätzt und gar behauptet, "das Erdbeeri Mareili sei besser gewesen als Ihr und ich". Darauf kontert Hasebohne mit einer Behauptung, die seine misogyne Haltung klar zum Ausdruck bringt: "Aber, ob es dann imstande gewesen, Pfarrer zu sein oder gar Grichtsäss, selb müsste ich doch zwyfle, drzu bruchts Verstand, wo me hinger emene Wybervölchli nit fingt." Auf welch schwachen Beinen diese Meinung steht, lässt Gotthelf durchblicken, als sich Hasebohne schliesslich verabschiedet: "Aber jetzt muss ich heim. Meine wird luege, wo ich herkomme, die gibt mir eine Kappe, es ist e Handligi!" So viel sich der Gerichtsäss auch auf das Männerprimat einbildet, zuhause hat immer noch die Frau die Hosen an. Selbst wenn Gotthelf als Erzähler das Predigen selten lassen kann, mitunter ist er doch witzig, der Pfarrer Bitzius.
PS: Ausserdem erkannte Albert Bitzius schon lange vor Michel Foucault, dass die einfachen Leute keine offizielle Geschichte und kein Recht auf Historiographie besitzen, dass dies seit jeher nur ein Privileg der besser gestellten Klassen war. Diesem Missstand will er als Erzähler Jeremias Gotthelf entgegenwirken und dem Bauernvolk eine starke Stimme verschaffen. Dieses narrative Programm und Selbstverständnis leitet sich direkt aus einem auktorialen Kommentar ab: "Kornjahre und Weinjahre kennt man, nicht bloss jedes Kind weiss, was sie zu bedeuten haben, sondern sie haben grosse Bedeutung in der Weltgeschichte. Von Erdbeerjahren redet kein Mensch, kein Geschichtsschreiber zeichnet sie auf, und doch haben sie grosse Bedeutung für arme Kinder und arme Weibchen. Nun, das wird eben daher kommen, dass die Geschichtsschreiber sich mehr kümmern um Weinherren und Kornwucherer als um arme Kinder und arme Weiber."
Die Geschichte vom Erdbeeri Mareili ist somit Gegenhistoriographie im doppelten Sinn: Die Erdbeere steht im Vergleich zu Korn und Wein nicht nur für die Existenz der kleinen, unbedeutenden Leute, sie steht als erotisches Symbol überdies für die gleichgeschlechtliche Liebe, für die es ebenfalls keine offizielle Geschichtsschreibung gab, zu Gotthelfs Zeiten schon gar nicht, als Kinderlosigkeit und Frauengemeinschaften entweder als "gespässig" oder bei Nonnen als "heilig" galten.