Wie reagiert man, wenn man vom Tod der eigenen Mutter erfährt? Mersault bei Albert Camus vergiesst keine Träne, vielmehr nimmt er mit grosser Gleichgültigkeit an der Beerdigung teil. Auch die Ich-Erzählerin von Michelle Steinbecks neuem Roman nickt zuerst emotionlos, als ihr ein anonymer Anruf aus einem italienischen Spital mitteilt, ihre Mutter sei nicht nur verstorben, sondern ermordet worden. "Nun bin ich sie endgültig losgeworden", lautet der erste lapidare Gedanke der Tochter. Schon bald aber begibt sie sich, leidend an ihrer Herkunftslosigkeit, auf die Spuren der Mutter Magdalena, die für sie, da zu Lebzeiten ständig abwesend, nicht mehr als ein Phantom war, und damit auch auf in eine unbekannte Vergangenheit. Während der Reise nach Rom, erfahren wir in verschiedenen Rückblenden, wer Magdalena war und weshalb es zur Entfremdung zwischen ihr und ihrer Tochter Filippa gekommen ist, die hauptsächlich bei der Grossmutter aufgewachsen ist, nachdem der alkoholkranken Mutter das Sorgerecht entzogen wurde.
Wie sich herausstellt war Magdalena nicht nur eine notorische Trinkerin, sondern auch eine Prostituierte, bekannt unter ihrem, wenn man so will, 'Künstlernamen' Favorita. Nachdem Filippa die Ich-Erzählerin, die Asche ihrer Mutter im Spital abgeholt hat, stösst sie in der "Strasse der Frauen" per Zufall zu einer Gruppe von Prostituierten, der früher auch Favorita angehörte. Sie haben sich in einer stillgelegten Salamifabrik einquartiert , um dort als moderne Hexen eine Bastion gegen das Patriachat einzurichten, von dem sie ausgebeutet und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Sorella, eine von ihnen, hat in einem als Diorama umfunktionierten Teleskop ein "Archiv der getöteten Frauen" angelegt, das alle Fälle von Femizid registriert. Der weibliche Körper ist nicht nur Projektionsfläche männlicher Lust, sondern oft auch Zielscheibe der Gewalt. Wie Filippa erfahren muss, wurde auch ihre Mutter offenbar von einem Kerl namens "Coach" ermordet. Sie schliesst sich dem revolutionären Aufbau der prostituierten Widerstandskämpferinnen an, verliert aber bei einer Räumungsaktion der Polizei das Bewusstsein - und wacht im Auto eines gewissen Lorenzo, der sich als Zögling eben jenes "Coach" erweist.
Hier am Kulminationspunkt des Spannungsbogens schiebt sich als grosse Binnenerzählung die "Geschichte der schönen Sisna" dazwischen: in Form einer Kriminal- und Geistergeschichte. Filippa gelangt mit Lorenzo zu einem Landhaus am Rande eines Bauerndorfes, wo sie zusammen mit ihm alles für die Gesellschaft des Coach vorbereiten soll, eine Gruppe von Faschisten, die in ein paar Tagen erwartet wird. Sie schürt Rachephantasien und plant, am Coach für den Tod ihrer Mutter Vergeltung zu üben, deren sterbliche Überreste sie in der Urne auf Schritt und Tritt begleiten. Zugleich erfährt sie, dass es im Haus spuken soll und sie entdeckt ein Heft mit Zeitungsartikeln über den spektakulären Prozess um Sisina, ein Mädchen, das am Tag vor ihrer Heirat im Wald ermordet, der Täter jedoch nie erfasst wurde. Die Tote erscheint der Ich-Erzählerin mehrfach als Geist, hält mit ihr Zwiesprache und gemeinsam schieden sie ein Rachekomplott. Im Schicksal Sisinas erkennt die Erzählerin etliche Parallelen zum Fall ihrer Mutter und beschliesst, nicht nur ihren Tod, sondern auch den Sisinas zu sühnen. In einem überbordenden Showdown kommen auch die prostituierten Rebellinnen zu Hilfe und sprengen die faschistische Versammlung auseinander. Danach eilen sie mit allen Geistern auf den Friedhof, wo ein frisches Grab für Favorita ausgehoben ist. Als die Urne beigelegt werden soll, erschüttert eine Explosion die Atmosphäre und die Asche verstreut sich in die Lüfte.
Der Roman ist durchgängig aus der Ichperspektive im Präsens erzählt, wovon in epischen Texten häufig abgeraten wird, weil es erzähllogisch kaum aufgeht, hier aber gerade die Grauzone zwischen Erlebtem und Geträumten, zwischen Wirklichkeit und Vision auf besonders eindringliche Weise ausloten kann. Der Roman trägt eindeutig phantastische Züge, zugleich behandelt er auf erfrischend unverkrampfte Weise aktuelle Zeitfragen zur toxischen Männlichkeit, zu neofaschistischen Strömungen, zum komplexen Verhältnis zwischen Begehren, Macht und Gewalt. Gerade in der Figur der als moderne Hexen auftretenden Prostituierten manifestiert sich die Spirale zwischen sexueller Dominanz und sexueller Ausbeutung der Frauen. Semantisch hervorgehoben wird dieser Zusammenhang im Begriff des "fegare", der ursprünglich "fegen" bedeutete, heute im Italienischen aber nur noch im Sinne von "ficken" Verwendung findet, was im Roman zu einem komischen Missverständnis führt, das dann symbolisch potenziert wird. In dieser Vokabel kulminiert die Grundproblematik des Romans: das Kausalverhältnis zwischen Domestizierung zur Hausfrau, Degradierung zum Lustobjekt und Femizid, also der Verachtung und Beseitigung ('Säuberung') der Frau, sobald sie sich gegen den Rollenzwang auflehnt.
Der Autorin ist ein gewaltiger Wurf gelungen, der man ihr nach dem surreal versponnenen Debut in dieser erzählerischen Wucht und dieser epischen Breite auf Anhieb nicht zugetraut hätte. Eine fulminante, handlungsstarke, zuweilen auch - wenn man etwa daran denkt, dass die Protagonisten ständig mit der Urne ihrer Mutter unterwegs ist - absurd komische Abenteuer- und Rache-Geschichte mit gehörig narrativem Drive, der sich ganz in den Dienst der Geschichte stellt, aber nie schablonenhaft oder abgedroschen wirkt - im Gegenteil: eine souveräne Erzählstimme installiert, die zuweilen sogar mit originellen Sprachschöpfungen aufwartet, z. B. "Mein Herz spechtet" (könnte auch von Arno Schmidt stammen), "So karachen wir kiesspritzend zur Villa" oder "Er lächelt, aber seine Augen sind Brunnenlöcher", wobei die Brunnenlöcher nicht nur das Leere und gleichsam Abgründige symbolisieren, sondern faktisch auch den Tatort widerspiegeln. Eine Metapher als äussert verdichtetes Zentrum. Für das Lesefrüchtchen ist Favorita klar die Favoritin für den diesjährigen Schweizer Buchpreis. Der Roman steht auf der Shortlist.